Die wichtigsten Werke von Johann Karl Wezel. Johann Karl Wezel

Die wichtigsten Werke von Johann Karl Wezel - Johann Karl Wezel


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setzte er hinzu, »so befand ich mich so wohl, daß ich alles das wieder vergaß.«

      Seine Entdeckung und Erkennung war durch meinen Tobias geschehen, dem die große Narbe, welche ihm der junge L. einstmals bei dem Scheibenschießen durch einen unversehenen Stoß mit dem Ladestocke auf dem linken Backen gemacht hatte, gewaltig zu jucken anfing, sobald er ihn gewahr wurde. Er verstand zwar gleich anfangs den Sinn dieser Vorbedeutung nicht; doch in der Folge ließ sich sein neuer Stubengenosse an einem fröhlichen Abende die Erzählung etlicher Jugendstreiche entwischen, worinne Tobias selbst eine handelnde Person gewesen war, und die alte Bekanntschaft wurde erneuert.

      Selmann hatte wirklich aus etlichen guten Anzeigen, aus der Offenherzigkeit, mit welcher der junge Mensch ihm seine Vergehungen anvertraute, aus der Reue, die er darüber zu empfinden schien, aus der Bereitwilligkeit, mit welcher er sich seiner Führung überließ, die gute Hoffnung gefaßt, ihn aus seinen Lastern herauszuziehn und seiner Familie wiederzuschenken. Diese Aussicht versüßte ihm den Verdruß, worein er bisher versunken war. Er schöpfte gleichsam wieder frische Luft und stellte sich schon die Freude der Anverwandten über die Besserung des jungen L., das Glück, das er dem jungen Verirrten dadurch verschaffte, und das Gute, das er bei gebesserter Denkungsart seine künftigen Untergebnen, seine künftige Familie bis ins dritte und vierte Glied würde genießen lassen, so lebhaft vor, daß er zween Sprünge in der Stube hin tat.

      Unglücklich, daß ein neuer Unstern den Lauf seiner Freude nicht nur unterbrechen, sondern sogar gänzlich hemmen mußte! – Und dies war eben die zweite Verwundrung, die ich oben ankündigte.

      Die bisherigen Gesellschafter des jungen L. vermißten ihn sehr bald; sie forschten um soviel eifriger nach ihm, da er jeden Tag auf einen Geldtransport von seinem Vormunde wartete, bei dessen Ankunft sie sich reichliche Ernte versprachen. Endlich kundschafteten sie seinen Aufenthalt aus und erfuhren zu gleicher Zeit den Besserungsplan, den ihm Selmann vorgeschlagen und sogar annehmlich gemacht hatte. Sie fanden ihn höchst töricht und hielten es ihrer Pflicht gemäß, ihren verführten Kameraden aus seiner Verblendung zu reißen; auf der andern Seite waren sie sehr ungehalten, daß er bei dem ersten großen Probestücke seiner Geschicklichkeit so wenig für seine Ehre gesorgt und sich gar hatte ertappen lassen. Fast hätten sie ihn zur Bestrafung dafür in seinem traurigen Zustande gelassen, wenn nicht ein altes dickbauchichtes Mitglied, nach Sir John Falstaffs Schnitte, das Interesse des Ordens besser eingesehn und angeraten hätte, das gehoffte Geld mit ihm erst zu genießen und alsdann durch eine völlige Ausschließung ihn zu züchtigen.

      Man machte Anstalten und wählte den Sophronius zur Maschine dieser Absichten. Es wurde ihm heimlich ein Brief ohne Unterschrift eingehändigt, worinne man ihn freundschaftlich warnte, aus allen seinen Kräften an der Entfernung des jungen L. aus seinem Hause zu arbeiten, und ihm zugleich durch die Entdeckung eines Anschlags bange machte, der auf den Untergang seiner beweglichen und unbeweglichen Güter abzielte; man wußte es ihm wahrscheinlich zu machen, daß sein neuer Hausgenosse ein abgeschickter Kundschafter von einer Bande sei, die ihre schändlichen Absichten in wenig Tagen ausführen würde, wenn er nicht schnell zuvorkäme. Sophronius, ohne Vernunft und Philosophie zu Rate zu ziehn, glaubte das Märchen, war vom Wirbel bis zur Fußzehe voller Angst und drang mit seiner gewöhnlichen Heftigkeit bei Selmannen darauf, daß er den jungen L. aus dem Hause entfernen sollte. Dieser tat ihm alle mögliche Vorstellungen, erzählte ihm die Geschichte des jungen Menschen und die Absichten, die er gegen ihn hätte, die guten Hoffnungen, seinen guten Anschein zur Besserung – nichts half! Sophronius bestand auf seinem Sinne und drohte mit Gewalt. Selmann bat, der Ehre des Jünglings zu schonen und ihn nicht öffentlicher Schande auszusetzen, erbot sich zu einer Bürgschaft für ihn – umsonst! Sophronius ging mit der Bedeutung fort, daß er ihn augenblicklich in Verhaft nehmen lassen werde.

      Es geschah. Die Anklage des Sophronius wurde nach einer kurzen Untersuchung als lächerlich, ohne sichern Grund befunden und folglich abgewiesen, der junge L. auf freien Fuß gestellt. Sobald seine Kameraden dies hörten, paßten sie ihm auf, und da er des Abends aus dem Verhafte gelassen wurde, umringten sie ihn, führten ihn in ein Bordell und machten ihn durch eine einzige Nacht sich wieder gleich. – Du weiser Sophronius! Zehn moralische Werke aus deiner Fabrik können diesen Schaden nicht ersetzen.

       Inhaltsverzeichnis

      Man denke sich einen Menschen, der in der fröhlichsten Laune von der Welt springt und hüpft und unter dessen Füßen plötzlich der Boden einbricht – plump! fällt er durch – und nun denke man sich ihn ferner, mit welchem Erstaunen, mit welcher Niedergeschlagenheit er daliegt, bis endlich das Gefühl des Schmerzes sein Gesicht verzerrt und ihn nach Maßgebung seines Charakters wütend oder verdrießlich macht – und so hat man ein ziemlich ähnliches Bild von Selmanns Gesichte nach jener Begebenheit.

      War seine guttätige Freude vorher zu einem mehr als gewöhnlichen Grade gestiegen, so sank sie itzt auch unter den gewöhnlichen Grad; aber wie kann dies anders zugehn? Warum hat er eine so warme Einbildungskraft? warum eine so heftige Empfindung, daß er andre Menschen nicht bloß besser wünscht, sondern sie besser machen will? – Wie gut seid ihr doch daran, ihr bequemen gutherzigen Seelen! Ihr sitzt im Lehnstuhle wie die epikureischen Götter und denkt: Wie wohl ist uns! – wünscht der Welt alles Liebe und Gute und könnt es ganz wohl leiden, wenn andre hübsch fleißig zu ihrem Besten arbeiten, ihr lobt sie sogar, wenn sie etwas zu euerm Nutzen beitragen, indessen daß ein Mann wie Selmann sich halb zu Tode grämt, daß ihm seine besten Absichten und Erwartungen verdorben werden; dafür habt ihr aber auch seine Freuden nicht zu genießen, die er bei jeder neuen Aussicht auf das Wohl seines Nebenmenschen unausbleiblich und in einem so reichlichen Maße empfindet. Diese hat der Rechtschaffne, der Wohlwollende für euch allen zum voraus, und ich bin sicher, er tauschte nicht mit den eurigen!

      Je stärker die Sehne eines Bogens angespannt wird, je schlaffer wird sie, wenn man sie darauf fahren läßt; so etwas muß mit den Nerven der Leute vorgehn, die mit Selmannen in einer Form gegossen sind. Ein guter ehrlicher Wellwisher der menschlichen Gesellschaft, mit mittelmäßigem Kopfe und Herzen, kann bei einer mißlungnen oder gehinderten guten Unternehmung verdrießlich werden oder wohl gar zürnen, aber bei Selmannen kömmt es zu einer Verzweiflung; er grämt sich und gibt alle künftige gute Entwürfe für andre Menschen auf.

      Viele Leute belieben dieses Eigensinn zu nennen; aber man glaube ihnen ja nicht! so wenig, als wenn sie jemanden einen Geizigen, einen Stolzen schelten! Man sehe sich den Mann an, den man so schimpfen will, und wenn er mit Selmanns Grade von Lebhaftigkeit denkt und empfindet, so glaube man, daß jene Beurteiler jämmerliche Philosophen sind. – Aus keiner andern Ursache sind jemals philosophische Einsiedler geworden; die Welt ging in dem Tempo eines Adagio und ihre Empfindungen wie das schnellste Presto; sie wollten die Welt mit etlichen Messerschnitten so schön und gut schnitzeln, als sie nach ihrer Zeichnung sein sollte, und nach tausend Schnitten war kaum ein dünner Span herunter; was taten sie? – Sie warfen das Messer weg und – liefen davon und, nach Beschaffenheit ihrer Lunge und ihrer Augen, mit Lachen oder Tränen.

      Es tut mir unendlich leid, daß sich Selmann dieser Zunft von Menschen mit starken Schritten nähert. Sein Körper ist so ekelhaft delikat, daß er täglich mehr zu erkennen gibt, wie sehr er die reine freie Landluft und Bewegung vermißt; die alte hypochondrische Materie gerät durch die faulende Stubenluft in Gärung, und – man sollte ihn nur sehen! – er trägt auf seinem Gesichte die deutlichen Spuren, daß er in kurzem ein Misanthrop sein wird. Seine gilbichte Farbe, seine aufgelaufnen Augenlider, seine verzognen Gesichtszüge, seine verdrießliche Miene – was will man weiter? Sind das nicht alles Anzeigen der Misanthropie?

      Wenn nun obendrein alle Erwartungen fehlschlagen, wenn er gleichsam gezwungen wird, alles zu verachten, was er vorher einzig hochschätzte – und Verachtung ist eine widrige Empfindung für eine gute Seele –, so muß bei einem solchen Haufen starker unangenehmer Empfindungen der Körper unterliegen, wenn er auch den Äther um Jupiters Throne atmete; und wenn sich gleich die Seele bis zur Zufriedenheit durcharbeiten will, so kann sie nicht, der Körper zieht sie zurück und –

      Wenn einmal Seele und Körper in eine solche Feindschaft


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