Im Sonnenwinkel Staffel 5 – Familienroman. Patricia Vandenberg
mehr am gleichen Tag ins Sanatorium, wie er es früher immer getan hatte.
Er lag lange wach in dieser Nacht und dachte über alles noch einmal nach.
Die ganze Zeit seit dem Tag, an dem er Gillian kennenlernte, zog an seinen Augen vorüber.
Sie hatten sich auf einem Wohltätigkeitsball kennengelernt. Neun Jahre war es her, und Gillian war damals gerade zwanzig Jahre alt gewesen und die Ballkönigin.
Prinzessin hätte man sie besser nennen müssen, denn sie war ein sorgloses, bezauberndes Mädchen, einzige Tochter vermögender Eltern, verwöhnt und niemals Sorgen ausgesetzt gewesen.
Er war verliebt bis über beide Ohren in sie, aber eigentlich hatte er sich doch gewundert, dass sie sich dann ausgerechnet für ihn entschied, und das sehr schnell.
Schon die ersten Wochen ihrer Ehe waren nicht ohne Probleme gewesen. Gillian war gewohnt, dass ihr jeder Wunsch erfüllt wurde. Sie hatte keine Ahnung vom Haushalt, sie war an Geselligkeit gewöhnt.
Sie ist ja noch so jung, hatte er sich immer wieder gesagt und über ihre Launen hinweggesehen.
»Ich will einen Sohn, dann erst fühle ich mich richtig verheiratet«, hatte sie immer wieder erklärt. Sie sagte alles in leichtem Ton, und er hatte dazu gelächelt.
»Du bist selbst noch ein Kind«, hatte er nachsichtig gemeint.
Dann konnte sie aufbrausen. »Du nimmst mich nicht ernst«, begehrte sie auf, »aber wenn wir erst einen Sohn haben, wirst du mich ernst nehmen!«
Ja, und dann erwartete sie das erste Kind und veränderte sich. Sie wurde häuslich, sie war nicht mehr launisch. Sie waren glücklich.
Die Schwangerschaft bereitete ihr keine Schwierigkeiten, und jeder, auch ihre Mutter, redete ihr ein, dass es schon deshalb ein Sohn werden müsse.
Dann kam der Tag der Geburt heran, und Arndt meinte, er müsse ihr wenigstens sagen, dass er sich über ein Mädchen genauso freuen würde. Doch die Wirkung war entsetzlich. Gillian bekam einen Zornausbruch, sie wurde hysterisch und beschimpfte ihn, dass nur er schuld sein würde, wenn es kein Junge würde.
Die Geburt war schwer, und dann war es tatsächlich ein Mädchen. Gillian war in einem schlimmen Zustand, nachdem sie es erfahren hatte. Sie schwebte tagelang in Lebensgefahr.
Das hatte er Veronica nicht erzählt, und auch manches andere hatte er ihr verschwiegen. Er lernte das Mädchen Gillian, in das er sich verliebt hatte, nie wieder kennen, und in ihm saß die Furcht, dass sie ihren Kindern ein schreckliches Erbe mitgegeben hätte.
Er hatte mit verschiedenen Ärzten darüber gesprochen. Er hatte die Kinder untersuchen lassen, aber wie konnte man Wesenszüge bei so kleinen Geschöpfen erkennen. Gillian war ja auch physisch und psychisch gesund gewesen.
Die Kinder entwickelten sich normal. Sie brachten die Kinderkrankheiten ohne Komplikationen hinter sich, und Gillian dachte immer wieder nur daran, endlich einen Sohn zu haben.
Er versuchte, vernünftig mit ihr zu reden. Es war aussichtslos. Er wollte den Gynäkologen bewegen, Gillian einzureden, dass es besser für sie sei, keine Kinder mehr zu bekommen, doch das lehnte er strikt ab.
Arndt musste sich nach dieser Unterredung als der Schuldige fühlen. Aus diesem Schuldbewusstsein heraus umgab er Gillian mit noch mehr Fürsorge, und schließlich setzte auch er alle Hoffnung auf das dritte Kind.
Was dann kam, war der Anfang vom Ende.
Das Ende? Wann würde es ein Ende geben? Und wie würde es aussehen?
*
Professor Bernreuter war ein Mann mit hagerem Gesicht, schütterem Haar und wachsamen Augen hinter einer Hornbrille. Es war gewiss nicht leicht, Kontakt mit ihm zu bekommen, aber Arndt war einer der wenigen Menschen, denen es gelungen war. Vielleicht aus dem Grund, weil sie beide nicht mitteilsam waren und ein ähnliches Schicksal hatten.
Professor Bernreuter hatte sich auf die Psychiatrie spezialisiert, weil er eine manisch-depressive Schwester gehabt hatte.
»Haben Sie Ihre Frau schon gesehen?«, fragte er, als Arndt bei ihm eintrat.
»Nein, ich wollte erst mit Ihnen sprechen«, erwiderte Arndt.
»Das ist gut. Es ist während der letzten zehn Tage eine erstaunliche Veränderung in ihrem Befinden eingetreten. Ich will nun nicht von berechtigten Hoffnungen sprechen, wie ich in meinem Brief an sie schrieb, denn die Stimmungen sind sehr wechselhaft, aber manchmal kann man sich ganz vernünftig mit ihr unterhalten. Was mir Sorgen bereitet, ist, dass mit der geistigen Besserung eine körperliche Verschlechterung eingetreten ist. Sie gibt mir Rätsel auf. Mein Gott, auch wir Ärzte sind manchmal hilflos. Es gibt keine Norm in solchen Fällen. Ich habe Ihrer Frau gesagt, dass Sie krank gewesen seien und …« Er unterbrach sich.
»Hat sie sich dazu geäußert?«, fragte Arndt.
»Das schon. Sie sagte, dass Sie nie gesund gewesen seien. Und nun denke ich, dass es vielleicht gut wäre, sie würde sich als die Stärkere fühlen. Eines müssen wir bedenken. Für sie ist Zeit kein Begriff. Sie weiß nicht, wie lange sie schon hier ist.« Er machte eine kleine Pause. »Sie ist einer der seltenen Fälle, die sich hier wohl fühlen.«
Als sich die Tür vor Arndt öffnete, saß sie in einem Sessel und hörte Musik.
Sie drehte sich um. Sie war nicht mehr schön. Sie sah alt und grau aus. Ihr Haar stand wirr um den Kopf.
»Du kommst spät«, sagte sie mit klangloser Stimme, so als wäre er morgens aus dem Haus gegangen.
»Ich war krank, Gillian«, erklärte er.
»Immer warst du krank«, maulte sie wie ein ungezogenes Kind. »Ich will einen gesunden Mann haben. Wenn wir heiraten, musst du gesund sein.«
Bei ihr musste man immer auf alles gefasst sein, aber jetzt war Arndt doch bestürzt. Sie redete viel unsinniges Zeug, aber in ihren lichten Momenten hatte sie ihn immer als ihren Mann erkannt.
»Vielleicht wäre es besser, wenn wir gar nicht heiraten«, fuhr sie monoton fort. »Du bist kein Vater für einen Sohn.« Dann kicherte sie. »Aber ich bin stärker als du! Ich werde einen Sohn bekommen! Wann heiraten wir, Arndt?«
Sie sagte seinen Namen, und sonst redete sie irre. Sollte das eine Besserung sein?
Man durfte sie nicht reizen. Man musste sich jedes Wort überlegen.
»Wir heiraten, wann du willst, Gillian!«, sagte er.
»Warum nennst du mich nicht mehr Jill?«, fragte sie plötzlich ganz klar.
Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Es war Wahnsinn gewesen, das Kind Jill zu nennen, damit dieser Name ihn ständig verfolgte, aber er hatte sich damals eine Rettung davon versprochen.
Er hatte tatsächlich gemeint, dass ein Kind, das mit ihrem Kosenamen gerufen wurde, ihr etwas bedeuten müsse.
»Unser Kind soll Jill heißen«, erklärte er heiser mit aller Beherrschung.
Sie zog den Mund schief.
»Das ist ein Mädchenname. Unser Sohn soll Tino heißen, ja, Tino. Stefan mag ich auch nicht mehr. Versprichst du mir, dass ich einen Sohn bekomme?«
Was sollte er sagen? Ihm war die Kehle wie zugeschnürt.
»Ja, ich verspreche es dir«, brachte er stockend über die Lippen.
»Warum umarmst du mich nicht. Küss mich. Arndt!«, sagte sie klagend.
Er lehnte an der Wand. Schwäche überfiel ihn. Das Zimmer begann sich um ihn zu drehen, und ihr verzerrtes Gesicht tanzte um ihn herum.
»Du betrügst mich!«, fauchte sie. »Du willst mich gar nicht heiraten! Dann geh doch, geh!«
Er konnte nichts mehr denken. Mechanisch legte er den Finger auf die Klingel. Dann war ein Schatten vor ihm, und scharfe Nägel zerkratzten sein Gesicht.
Er wusste gar nicht mehr, was danach