Gesammelte Gedichte von Rainer Maria Rilke. Rainer Maria Rilke

Gesammelte Gedichte von Rainer Maria Rilke - Rainer Maria  Rilke


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Straße, die das kleine Dorf nicht hält,

       geht langsam weiter in die Nacht hinaus.

      Das kleine Dorf ist nur ein Übergang

       zwischen zwei Weiten, ahnungsvoll und bang,

       ein Weg an Häusern hin statt eines Stegs.

      Und die das Dorf verlassen, wandern lang,

       und viele sterben vielleicht unterwegs.

      Manchmal steht einer auf beim Abendbrot

       und geht hinaus und geht und geht und geht, –

       weil eine Kirche wo im Osten steht.

      Und seine Kinder segnen ihn wie tot.

      Und einer, welcher stirbt in seinem Haus,

       bleibt drinnen wohnen, bleibt in Tisch und Glas,

       so daß die Kinder in die Welt hinaus

       zu jener Kirche ziehn, die er vergaß.

      Nachtwächter ist der Wahnsinn,

       weil er wacht.

       Bei jeder Stunde bleibt er lachend stehn,

       und einen Namen sucht er für die Nacht

       und nennt sie: sieben, achtundzwanzig, zehn …

      Und ein Triangel trägt er in der Hand,

       und weil er zittert, schlägt es an den Rand

       des Horns, das er nicht blasen kann, und singt

       das Lied, das er zu allen Häusern bringt.

      Die Kinder haben eine gute Nacht

       und hören träumend, daß der Wahnsinn wacht.

       Die Hunde aber reißen sich vom Ring

       und gehen in den Häusern groß umher

       und zittern, wenn er schon vorüberging,

       und fürchten sich vor seiner Wiederkehr.

      Weißt du von jenen Heiligen, mein Herr?

       Sie fühlten auch verschloßne Klosterstuben

       zu nahe an Gelächter und Geplärr,

       so daß sie tief sich in die Erde gruben.

      Ein jeder atmete mit seinem Licht

       die kleine Luft in seiner Grube aus,

       vergaß sein Alter und sein Angesicht

       und lebte wie ein fensterloses Haus

       und starb nichtmehr, als wär er lange tot.

      Sie lasen selten; alles war verdorrt,

       als wäre Frost in jedes Buch gekrochen,

       und wie die Kutte hing von ihren Knochen,

       so hing der Sinn herab von jedem Wort.

       Sie redeten einander nichtmehr an,

       wenn sie sich fühlten in den schwarzen Gängen,

       sie ließen ihre langen Haare hängen,

       und keiner wußte, ob sein Nachbarmann

       nicht stehend starb.

       In einem runden Raum,

       wo Silberlampen sich von Balsam nährten,

       versammelten sich manchmal die Gefährten

       vor goldnen Türen wie vor goldnen Gärten

       und schauten voller Mißtraun in den Traum

       und rauschten leise mit den langen Bärten.

      Ihr Leben war wie tausend Jahre groß,

       seit es sich nichtmehr schied in Nacht und Helle;

       sie waren, wie gewälzt von einer Welle,

       zurückgekehrt in ihrer Mutter Schooß.

       Sie saßen rundgekrümmt wie Embryos

       mit großen Köpfen und mit kleinen Händen

       und aßen nicht, als ob sie Nahrung fänden

       aus jener Erde, die sie schwarz umschloß.

      Jetzt zeigt man sie den tausend Pilgern, die

       aus Stadt und Steppe zu dem Kloster wallen.

       Seit dreimal hundert Jahren liegen sie,

       und ihre Leiber können nicht zerfallen.

       Das Dunkel häuft sich wie ein Licht das rußt

       auf ihren langen lagernden Gestalten,

       die unter Tüchern heimlich sich erhalten, –

       und ihrer Hände ungelöstes Falten

       liegt ihnen wie Gebirge auf der Brust.

      Du großer alter Herzog des Erhabnen:

       hast du vergessen, diesen Eingegrabnen

       den Tod zu schicken, der sie ganz verbraucht,

       weil sie sich tief in Erde eingetaucht?

       Sind die, die sich Verstorbenen vergleichen,

       am ähnlichsten der Unvergänglichkeit?

       Ist das das große Leben deiner Leichen,

       das überdauern soll den Tod der Zeit?

      Sind sie dir noch zu deinen Plänen gut?

       Erhältst du unvergängliche Gefäße,

       die du, der allen Maßen Ungemäße,

       einmal erfüllen willst mit deinem Blut?

      Du bist die Zukunft, großes Morgenrot

       über den Ebenen der Ewigkeit.

       Du bist der Hahnschrei nach der Nacht der Zeit,

       der Tau, die Morgenmette und die Maid,

       der fremde Mann, die Mutter und der Tod.

      Du bist die sich verwandelnde Gestalt,

       Die immer einsam aus dem Schicksal ragt,

       die unbejubelt bleibt und unbeklagt

       und unbeschrieben wie ein wilder Wald.

      Du bist der Dinge tiefer Inbegriff;

       der seines Wesens letztes Wort verschweigt

       und sich den Andern immer anders zeigt:

       dem Schiff als Küste und dem Land als Schiff.

      Du bist das Kloster zu den Wundenmalen.

       Mit zweiunddreißig alten Kathedralen

       und fünfzig Kirchen, welche aus Opalen

       und Stücken Bernstein aufgemauert sind.

       Auf jedem Ding im Klosterhofe

       liegt deines Klanges eine Strophe;

       und das gewaltige Tor beginnt.

      In langen Häusern wohnen Nonnen,

       Schwarzschwestern, siebenhundertzehn.

       Manchmal kommt eine an den Bronnen,

       und eine steht wie eingesponnen,

       und eine, wie in Abendsonnen,

       geht schlank in schweigsamen Alleen.

      Aber die Meisten sieht man nie;

       sie bleiben in der Häuser Schweigen

       wie in der kranken Brust der Geigen

       die Melodie, die keiner kann …

      Und um die Kirchen rings im Kreise,

       von schmachtendem Jasmin umstellt,

       sind Gräberstätten, welche leise

       wie Steine reden von der Welt.

       Von jener Welt, die nichtmehr ist,

       obwohl sie an das Kloster brandet,

      


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