Amerikanische Reise 1799-1804. Alexander von Humboldt
er über beträchtliche finanzielle Mittel. Damit eröffneten sich einem deutschen Privatmann für längst entwickelte Reisepläne vorher nie gekannte Möglichkeiten. Folgerichtig quittierte er bereits einen Monat später, im Dezember 1796, seinen Dienst, zumal ihn Staat und Bürokratie oft verletzt hatten. Er äußerte sich offen, er werde sich nunmehr »ernsthaft« auf eine Reise außerhalb Europas vorbereiten. Ein weiterer Anstoß kam hinzu:
Am 22. Oktober 1796 ließen sich zwei Brüder, Johan Matthias Friedrich und Johan Christian Keutsch, an der Universität Jena einschreiben.6 Sie kamen aus Bern, wo Humboldt sie vielleicht schon 1795 kennengelernt hatte, und studierten Medizin. Humboldt muss ihnen – von der ersten fraglichen Zusammenkunft in der Schweiz abgesehen – kurz nach ihrer Ankunft in Jena begegnet sein, vielleicht während der Hin- und Herreise nach Berlin beim Tode seiner Mutter oder bei einem gelegentlichen Besuch. Die Brüder Keutsch stammten aus St. Thomas, einer Insel der dänischen Jungferngruppe in Westindien.7 Humboldt verkehrte oft mit ihnen. Die Gedanken, die ihm während ihres häufigen Zusammenseins kamen, erfahren wir aus einem Brief, den er am 20. Dezember 1796 noch von Bayreuth an Willdenow richtete. Alexander erwähnte seine literarischen Pläne, auch sein selbstkonstruiertes »ganz unzerbrechliches Senkbarometer«, das er bereits im November 1796, vermutlich im Fichtelgebirge, überprüft hatte8, und schrieb dann: »Mache nur, daß das gute Pathchen schnell heranwachse9, damit ich es nach Indien mitnehmen kann. Meine Reise ist unerschütterlich gewiß. Ich präparire mich noch einige Jahre und sammle Instrumente, ein bis anderthalb Jahr bleibe ich in Italien, um mich mit Vulkanen genau bekannt zu machen, dann geht es über Paris nach England, wo ich leicht auch wieder ein Jahr bleiben könnte (denn ich eile schlechterdings nicht, um recht präparirt anzukommen), und dann mit englischem Schiffe nach Westindien. Erlebe ich das Ende dieser Pläne nicht, nun so habe ich wenigstens thätig begonnen und die Lage benutzt, in die mich glückliche Verhältnisse gesetzt haben …«
Westindien war das erklärte Reiseziel, dem seit 1793 seine Vorbereitungen gelten sollten. Wie ernst Alexander die vorbereitenden Aufgaben nahm, geht zudem aus seinen Zeilen eindeutig hervor. Man verstand damals unter Westindien nicht nur die Inselwelt des Karibischen Meeres, sondern die Tropen der Neuen Welt. Der Begriff Westindien hatte sogar einstmals die Gesamtheit Nord-, Mittel- und Südamerikas bezeichnet10, und zwar in dem Augenblick, als das wahre Indien in seiner räumlichen Lage hervortrat und als »Ostindien« abgegrenzt werden musste. Damit war der Irrtum des Kolumbus, der geglaubt hatte, Indien entdeckt zu haben, auch sprachlich korrigiert worden. Humboldt folgte dem alten und neuen Sprachgebrauch und entschied sich erst später für eine klare Trennung. Es gibt bei ihm Wendungen, die belegen, dass er Westindien mit Amerika gleichsetzte!11 Allgemein hat er unter Westindien aber wesentlich mehr Gebiete als wir Heutigen begriffen. Die genaue Untersuchung ergab, dass er seine Vorbereitungen vor allem auf das tropische Südamerika abstellte.12
Wenn es auch unbezweifelbar ist, dass sich das Reiseziel Westindien im persönlichen Umgang mit den Brüdern Keutsch verstärkte, so sind die Reisewünsche Humboldts doch schon längst, nämlich seit 1793, auf die Tropen der Neuen Welt gerichtet gewesen. Die großen Expeditionen von Bouguer und La Condamine (1735–1744) sowie von Solano und Iturriaga (ab 1750) lockten nach Südamerika. Herder hatte im großzügigen Entwurf seiner Ideen zur Geschichte der Menschheit auf die mächtigsten Gebirge der Erde hingewiesen13, durch die »unsre beiden Hemisphären ein Schauplatz der sonderbarsten Verschiedenheit und Abwechslung« werden.14 Die Kordilleren erschienen ihm wie seiner Zeit als die höchsten Gebirge der Welt. Er wies auf den Gegensatz von Amazonasbecken und Anden hin und meinte: »Es wäre schön, wenn wir eine Berg-Karte oder vielmehr einen Berg-Atlas hätten, auf dem diese Grundsäulen der Erde in den mancherlei Rücksichten aufgenommen und bemerkt wären, wie sie die Geschichte des Menschengeschlechts fordert.« Um eine »schöne und unterrichtende physische Geographie der Erde« zu erhalten, müsste die Höhe der Berge bestimmt, »die Beschaffenheit des Bodens auf seiner Oberfläche, der Fall der Ströme, die Richtungen der Winde, die Abweichungen der Magnetnadel, die Grade der Hitze und Wärme« erforscht und in die Karten eingetragen werden.15 Forscher wie Ferber, Pallas, Saussure, Giraud-Soulavie u. a. seien schon an der Arbeit und »sammeln in einzelnen Erdstrecken zu der reichen Ernte von Aufschlüssen, die wahrscheinlich einst die peruanischen Gebirge (vielleicht die interessantesten Gegenden der Welt für die größere Naturgeschichte) zur Einheit und Gewißheit bringen werden«.16
In seiner Jugend wurde Humboldt immer wieder auf Amerika hingewiesen. So hatte Campe ein Buch über die Entdeckung von Amerika verfasst (Hamburg 1781), und Ebeling hatte die Nordamerika-Darstellung in Büschings Neuer Erdbeschreibung vorbereitet, als Alexander bei ihm weilte. Zahlreiche Einflüsse trafen zusammen. Humboldts geographisches Wissen und sein Naturgefühl verbanden sich mit der ergebnisreichen Alpenforschung. Infolgedessen lockte ihn das Hochgebirgsrelief tropischer Länder ganz besonders. Die Sehnsucht des Europäers galt den Tropen, vor allem jenen Landschaften, in denen harmonisch-milde Naturverhältnisse glücklichen, friedlichen Menschen das Dasein erleichtern sollten. Das Verlangen nach einem Leben in der Einsamkeit war schon in Campes Robinson Crusoe, der auf einer Insel in der Orinocomündung lebte, zum Ausdruck gekommen. Das erwachende Naturgefühl der Aufklärung knüpfte an urtümliche Vorstellungen des Menschen an und ließ diese den Zeitgenossen in Werken Rousseaus, de Saint-Pierres, Hallers, MacPhersons und Goethes bewusst werden. Humboldt hatte den Werther schon früh gekannt, aber sein Naturgefühl wurde doch mehr von den Werken der französischen Schriftsteller beeinflusst, besonders von Bernardin de Saint-Pierres Paul et Virginie, einem Roman, der, wie die Südseeschilderungen Georg Forsters, in einer tropischen Landschaft, Isle de France17, spielte. Diesen Liebesroman las Humboldt wieder und wieder und führte ihn bei sich, so wie Napoleon den Werther mit nach Ägypten genommen hatte. Bei Humboldt vollzog sich der Übergang zu einer phantasiereicheren, lebendigeren Gefühlswelt z. B. im Freundschaftskult und – nicht zuletzt – in seinem Naturgefühl.
3. SPEZIELLE UND ALLGEMEINE VORBEREITUNG IN JENA
Zur Übung wird die Höhe jedes Hügels gemessen
Alexander v. Humboldt hatte sich nach dem Tod der Mutter nicht lange in Berlin aufgehalten, sondern war bald nach Bayreuth zurückgekehrt, um seine Amtsgeschäfte abzuschließen. Vom 1. März 1797 an war er nach einigen vorangehenden Besuchen dauernd in Jena, wo er nun enger als zuvor mit Goethe, Schiller, Loder, Batsch, Scheerer, Göttling18, den Brüdern Keutsch, Fischer und der Familie seines Bruders verkehrte. Wie Wilhelm dachte auch Alexander damals wegen seiner Reisepläne nur an einen vorübergehenden Aufenthalt in Jena. Aber Caroline v. Humboldt litt noch an den Folgen der Geburt ihres dritten Kindes im Januar 179719, und ihr Mann und zwei der Kleinen waren fieberkrank. Dennoch war ihre Reiselust ungetrübt. Schiller konnte dies Goethe am 14. April 1797 mitteilen.20
Alexander füllte die Zwangspause mit einer erstaunlichen Tätigkeit aus. Jeder Hügel wurde barometrisch vermessen und die Messtechnik verbessert. Zunächst hatte er hauptsächlich seine eigene Barometerkonstruktion anwenden wollen, dann aber gänzlich englischen, französischen und in Einzelfällen auch deutschen Instrumenten vertraut. Er war in Beobachtungswerkzeuge vernarrt und hatte z. B. aus Bayreuth einen »schönen Theodoliten mitgenommen« und dafür seinen »15zölligen schwerfälligen Sextanten von Wright« zurückgelassen, ein »Monstrum von einem Instrument«.21 Damit hatte er den Kammerassessor Prof. Dr. Julius Konrad Yelin in Ansbach so verärgert, dass dieser seine Verstimmung offen spüren ließ.
Im nahen Gotha hatte 1788 Herzog Ernst II. nach Plänen Franz v. Zachs auf der westlichen Kuppe des Kleinen Seebergs die modernste Sternwarte Deutschlands einrichten und mit vorzüglichen Instrumenten aus England ausrüsten lassen. Zach stand im Briefwechsel mit vielen Astronomen Europas und Amerikas. In seiner Monatlichen Correspondenz zur Beförderung der Erd- und Himmelskunde (ab 1798) sowie in seinen Allgemeinen Geographischen Ephemeriden (ab 1798) wurden fortan die Ergebnisse der Forschungsreisen kritisch bewertet. 1798 bereits fand der erste internationale Astronomenkongress auf dem Seeberg statt. Sekretär war Blumenbachs und Zachs Schüler, J. C. Horner, der später an der russischen Weltumsegelung (1803–1806) teilnahm. Daraus erhellt bereits die enge Verbindung zwischen