Amerikanische Reise 1799-1804. Alexander von Humboldt
er in Deutschland einführte und »durch dessen Verbreitung auf dem Kontinent unser großer vaterländischer Astronom die Länderkunde so bewunderungswürdig vervollkommnet hat«.24 Er hatte die Lücke, die der Tod Tobias Mayers gerissen hatte, geschlossen und die Forschungsreisenden unermüdlich auf den Wert praktischer astronomischer Kenntnisse verwiesen, da diese den Wert ihrer Beobachtungen erst verbürgen konnten.
In jenen Wochen hat Humboldt eng mit Zach zusammengearbeitet und sich auf dessen Wunsch mit dem Reflektionsinstrument beschäftigt, das er bald virtuos handhabte. Humboldt führte infolgedessen später nur dann, wenn der Tageshimmel bewölkt war, Sternbeobachtungen durch, oder wenn das Misstrauen einer fremden Bevölkerung ihn zwang, nachts zu arbeiten – sonst beobachtete er die Sonne, da diese sich im künstlichen Horizont des Spiegelsextanten viel schärfer als Sterne abbildete und der Limbus sich am Tage leichter als bei künstlichem Licht ablesen ließ.
Den meisten Jenaer Gelehrten war Humboldt bei früheren Besuchen bereits flüchtig begegnet. Nun erschloss sich ihm auch die Stadt mit ihrer Umwelt. Der Freundschaft des kunstsinnigen und anregenden Prof. Batsch verdankte er »einen vortreflichen Unterricht über den Körperbau der Schaalthiere«25, später auch die Bekanntschaft mit dem jungen Johann Wilhelm Ritter, »der sich unermüdlich mit galvanischen Experimenten beschäftigt und gründliche chemische Kenntnisse mit ächtem Beobachtungsgenie« verband.26 Batsch war ein vorzüglicher Zeichner und besaß in Chemie, Botanik und Mineralogie gute Kenntnisse. Auch Goethe rühmte seine »zarte Bestimmtheit und ruhigen Eifer« am Anfang seiner Morphologie, und viele – wahrscheinlich auch Humboldt – verdankten ihm die Einführung in die Landschaft Jenas. Die vielen Ausflüge und Untersuchungen führten Batsch später zu seinem Taschenbuch für topographische Excursionen in die umliegende Gegend von Jena (Jena 1800), einer »geognostisch-botanischen Specialgeographie«27, wie sie damals ihresgleichen suchte.
Humboldt verkehrte auch mit Angehörigen der von Linné »in den botanischen Adelsstand« erhobenen Bauernfamilie Dietrich in Ziegenhain28. Der Stammvater dieser »eigenartigen Familie« war Adam Dietrich29, der mit dem berühmten schwedischen Botaniker korrespondiert hatte. Die Dietrichs lieferten interessierten Professoren und Studenten Jenas Sammlungen der jeweils blühenden Pflanzen. Friedrich Gottlieb, der Enkel Adams, hatte Goethe in die Flora Jenas eingeführt. Der Dichter nahm ihn auf seine Badereisen nach Karlsbad mit und ließ sich dort Pflanzen von ihm wissenschaftlich erklären. Er ermöglichte ihm schließlich auch das Studium.30 Ebenso begegnete Humboldt dem Pfarrer Christian Ludwig Brehm, dem Vater Alfreds, des Verfassers des bekannten Tierleben31. Neben seinem Beruf als Seelsorger trieb er zoologische, vor allem vogelkundliche Studien und legte eine große Vogelsammlung an.32 Er war in Thüringen ebenso bekannt wie der Schuster und Vogelfänger Thiem in Waltershausen, den Alexander ebenfalls kennenlernte.33
Das Bewunderungswürdige an diesen Männern schien ihm ihr Bildungstrieb, der sich von keiner Not brechen ließ. War es nicht erstaunlich, dass Friedrich Gottlieb Dietrich die lateinischen Namen der Pflanzen genau kannte, Goethe und manchen Botaniker belehren konnte, ohne je studiert zu haben?
Der Balte Justus Christian Loder galt damals als einer der besten Anatomen. Humboldt hatte ihn bereits 1794 kennengelernt und kam ihm jetzt von allen Professoren am nächsten. Die Vollendung des Werks über die gereizte Muskel- und Nervenfaser setzte praktische anatomische Kenntnisse voraus. Manches hatte sich Alexander im Selbststudium angeeignet oder im Fränkischen befreundeten Ärzten abgesehen. Außerdem war Soemmerring auf diesem Gebiet sein Lehrer gewesen. Jetzt interessierte sich auch Goethe für Humboldts Fragestellungen, und beide besuchten einige Male gemeinsam Loders Kolleg.
Alexander nahm ein zwei Monate dauerndes Privatissimum und arbeitete in dieser Zeit täglich fünf bis sechs Stunden im anatomischen Theater, um sich auf seine »Westindische Reise« vorzubereiten.34 Er hielt nicht viel von Loder und meinte, er sei »sehr kopflos«, aber das »Mechanische« lerne man gut bei ihm.35 Loder war ein vorzüglicher Redner und als Organisator größer denn als Forscher. Seit 1794 waren seine »Anatomischen Tafeln« (1794–1803) mit deutschem und lateinischem Text erschienen. Sie hatten sehr zu seinem wissenschaftlichen Ansehen beigetragen, weil solche Hilfsmittel damals selten waren. Er hatte als frühreifes Talent bereits mit 19 Jahren Eulers Lettres à une Princesse d’Allemagne und ein Jahr später die Erzählung von den Reisen des hochbegabten Russen Stephan Petrowitsch Krascheninnikov in Kamtschatka übersetzt.36 Diese Gespräche mussten Alexander, der die russischen Reisen der beiden Gmelin und Pallas gut kannte, sehr beeindrucken. Und sein absprechendes Urteil mag nun in einem milderen Licht erscheinen; denn Alexander stellte in Jena »Geisteslähmung unter den Lehrern, aber Geistesthätigkeit unter den jungen Leuten« fest.37 Er lebte daher hauptsächlich mit diesen, d. h. mit dem jungen Johannes Fischer und den Brüdern Keutsch, die in zwei Jahren, also 1799, nach Westindien zurückkehren wollten. Vielleicht würde er mit ihnen reisen. »Auf jeden Fall ist mir diese Bekanntschaft sehr wichtig, so wie die Aussicht, daß ein sehr reicher junger Russe Böhtlingk aus Petersburg, ein Mensch, mit dem ich in Hamburg 1 Jahr lang auf einem Zimmer wohnte, wahrscheinlich mit mir geht, jener Expedition mehr Sicherheit giebt«, schrieb er im Mai 1797.38
Je länger Humboldt in Jena lebte, desto näher musste er den Brüdern Keutsch kommen. In seinen Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser nannte er sie an mehreren Stellen. Die wichtigsten Passagen lauten: »Der merkwürdige Versuch, Contractionen zu erregen, ohne alle kettenförmige Verbindung der Excitatoren (Fig. 9) ist in den letzten Tagen des Merzes 1797 meinem Freunde, dem älteren Herrn Keutsch (aus St. Thomas in Westindien) geglückt. Dieser treffliche junge Mann, welcher die feinsten anatomischen und physiologischen Kenntnisse mit einander verbindet und dessen Beobachtungen ich in der Folge noch öfter anführen werde, hatte einen sehr lang präparirten Ichiadnerven mit Zink armirt.« Ebenso: »An einem großen Hunde, der erdrosselt wurde, stellte ich mit meinen Freunden Herrn Keutsch, Fischer aus Lenzburg und dem jüngeren [Elias] Siebold mehrere Versuche mit Alkalien, Opium und anderen Stoffen an.« Und: Ich »eilte … zu meinen Freunden, den Herren Keutsch, mit denen ich die wichtigsten Experimente gemeinschaftlich anzustellen pflegte«.39
Aus einem Schreiben, das Humboldt an Freiesleben richtete, tut sich wiederum kund, wie ernst er die vorbereitenden Arbeiten nahm: »Ich lebe nun schon seit dem 1. März in Jena ganz mit meinem Buche, chemischen Versuchen und Anatomie beschäftigt. Ich bin recht eigentlich in ein Studentenleben zurückgetreten, denn meine Sphäre ist eng und ganz auf mich selbst eingeschränkt … Da ich mich zu meiner westindischen Reise jetzt sehr ernsthaft vorbereite und mich dort vorzüglich mit den organischen Kräften abzugeben gedenke, so ist Anatomie jetzt mein Hauptstudium.«40 Der Umgang mit den Brüdern Keutsch und die Gespräche über deren westindische Inselheimat gehörten für Humboldt zur speziellen Präparation. Diese mündlichen Berichte wurden durch das Studium von Reisewerken ergänzt. So kannte Humboldt z. B. bis in die Einzelheiten hinein La Condamines und Bouguers Gradmessungsexpedition (1735–1745), die durch die Hilfe eines einheimischen Spaniers, Maldonados, in gewisser Weise gekrönt worden war. Er studierte Mark Catesbys Natural History of Carolina, Florida and the Bahama Islands41 und Joseph Gumillas Orinocowerk. Sehr gründlich beschäftigte er sich mit Solanos und Iturriagas spanischer Grenzexpedition (ab 1750), die mit modernen Instrumenten ausgerüstet war und zum oberen Orinoco geführt hatte. Besonders liebte er William Dampier, den er den feinsinnigsten Reisebeschreiber nannte, und die im Anhang seines Reisewerks mitgeteilten Schilderungen des Bukaniers Lionel Wafer, der die Landenge von Panama, Darien und westindische Inseln bereist hatte.42
Alexander war in diesen Monaten auf Lernen und auf die Ordnung des Gelernten konzentriert. »Ich muß gewaltig arbeiten, um mich so zu rüsten, als ich es vorhabe; daher wundern Sie sich nicht, mein Lieber, wenn Sie ewig von neuen Arbeiten hören. Freilich kann ich nicht existiren, ohne zu experimentiren, aber der eigentliche Zweck meines Treibens ist es jetzt nicht …«43 Seine Experimentierlust wurde von der gründlichen allgemeinen und speziellen Präparation gedämpft, aber nicht gebrochen und steckte selbst Goethe und Wilhelm v. Humboldt an, der oft gemeinsam mit dem jüngeren Bruder Tiere sezierte, um den Einfluss des Galvanismus in und auf ihrem Körper zu studieren.
Im kleinen und großen Kreis wurden die Untersuchungen