Gesammelte Werke von Sacher-Masoch. Леопольд фон Захер-Мазох
war es vollends aus; sobald Iwan sah, daß man mit ihm die Geduld verlor, stieg ihm das Blut zu Kopfe und er sah und hörte nichts mehr.
»Hörst Du, die Patrone –«
Iwan starrte vor sich hin in das Leere.
»So beiß doch!« schrie Frau von Mellin.
Der Rekrut machte ein rundes Maul wie ein Karpfen.
»Hörst Du nicht? –«
Iwan hörte in der That nichts mehr. Da klatschte eine tüchtige Ohrfeige auf seine Wange, welche ihn zur Besinnung brachte.
Pauloff, der sich bis jetzt heroisch bezwungen, brach in ein schallendes Gelächter aus. –
»Sie lachen,« stammelte der weibliche Oberst wütend, »Sie wagen zu lachen? – Das ist Insubordination; – das ist ein Akt der Widersetzlichkeit gegen Ihren Vorgesetzten.«
»Aber, Madame –«
»Kein Wort mehr –«
Pauloff lachte fort.
»Sie lachen noch immer?« sagte Frau von Mellin bleich vor Zorn. »Gehen Sie sofort zum Profoßen.«
Pauloff verneigte sich und verließ, sich noch immer vor Lachen schüttelnd, den Exerzierplatz.
Der weibliche Oberst ging hierauf, die Hände auf dem Rücken, schweigend vor dem schönen Grenadier auf und ab, dann in einiger Entfernung vor ihm stehen bleibend, begann er: »Bist Du wirklich so ein Tölpel, Iwan Nahimoff, oder ist es mehr Trotz und Eigensinn bei Dir?«
Der Adonis gab keinen Laut von sich.
»Nun, antworte doch, kannst Du Dir nicht merken, daß Du die Patrone abzubeißen hast?«
»Nein«, sagte der Rekrut.
»Und weshalb nicht? Weshalb merkst Du Dir, daß Du den Ladestock in den Lauf zu stoßen hast?«
»Weil ich den Ladestock in Händen halte, die Patrone aber nicht«, entgegnete der Grenadier, »und überhaupt nicht weiß, wie eine Patrone aussieht.«
»Es ist Logik in dem, was Du sagst«, meinte Frau von Mellin. Dann rief sie den alten Korporal und befahl eine scharfe Patrone zu bringen.
Die Patrone in der Hand, machte sie jetzt das Exercitium noch einmal durch und reichte sie dann Iwan.
»Wirst Du es jetzt treffen?«
»Ja.«
»Also – gieb Acht auf das Kommando!«
Es ging vortrefflich.
»Sehr gut, noch einmal.«
Wieder lief die Sache ohne Anstand ab.
»Ah! ich merke, Du bist ein Sohn der Natur«, rief Frau von Mellin, »Dir taugt das Abstrakte nicht. Du mußt sehen, hören oder in Händen halten, was Du auffassen sollst. Kannst Du lesen?«
»Nein.«
»Möchtest Du es erlernen?« fragte sie.
»O! für mein Leben gern«, antwortete der schöne Grenadier.
»Warte nur, wir wollen gleich einen Versuch machen.« Frau von Mellin zog ein kleines Buch aus der Tasche ihres grünen Samtüberrockes und begann, die kleine Hand auf die Schulter des Soldaten legend, ihm die Buchstaben zu zeigen und zu erklären.
»Aber dies sind keine russischen Buchstaben«, sagte Iwan.
»Woher weißt Du das?«
»Ich habe oft die großen Kirchenbücher gesehen bei unserem alten Kirchensänger.«
»Ja, Du hast Recht, es sind lateinische Buchstaben.«
»Und die Worte verstehe ich auch nicht«, sagte der Grenadier, »es ist nicht unsere Sprache.«
»Ganz recht«, gab Frau von Mellin zur Antwort, »es ist französisch, das Buch nennt sich Candide und der Mann, der es geschrieben, Voltaire, ist der größte Geist der Zeit, den die Kaiser und Könige wie ihres gleichen achten.«
»Ich möchte das Buch lesen«, meinte Iwan, »ich möchte überhaupt alles lesen, alles lernen, alles erfahren, was wahr und ist und die zukünftigen Dinge, ich möchte die alten Chroniken kennen und wissen, wie es in fremden Ländern ist, in Frankreich und bei den Türken.«
»Nun, Dein Wunsch soll in Erfüllung gehen«, sagte Frau von Mellin lächelnd, »Du gefällst mir, Du gefällst mir sehr gut, ich werde Dich unterrichten lassen, ja, ich selbst werde Deine Bildung übernehmen.«
»Gott soll es Ihnen lohnen«, rief der Grenadier, indem er sich nach der Art russischer Bauern vor seinem Obersten niederwarf und den Saum des hellen Frauengewandes küßte, »alle Heiligen sollen Sie beschützen, schönes Mütterchen, und werde ich auch französisch erlernen?«
»Ja, – auch französisch!« lachte Frau von Mellin.
IV.
Ein Jahr und darüber war seit dem Morgen auf dem Exerzierplatze des Regiments Tobolsk verflossen, und Iwan Nahimoff war Dank der von Rousseau’schen Prinzipien geleiteten Fürsorge seines schönen Mütterchen Oberst, seinen Lehrern und noch mehr der erstaunlichen russischen Bildsamkeit, aus einem unwissenden Bauern, einem halbwilden Leibeigenen ein Mann von Bildung und feinen Sitten geworden, freilich nicht in dem Sinne unserer Zeit, aber er wußte von der Welt, ihren Geschicken und Einrichtungen, von Geschichte, Geographie, Naturgeschichte und Litteratur beiläufig so viel, wie die Hofleute Katharina’s, er bewegte sich mit dem Anstand und der Grazie eines Kavaliers Ludwig XV., und was die Hauptsache war, er sprach französisch besser als die meisten Russen jener Zeit, und las französisch, was die wenigsten seiner »gebildeten« Landsleute imstande waren.
Und vor allem war er ein strammer Soldat, nicht allein, daß er nie mehr vergaß, die Patrone abzubeißen, er hatte es in den Ladetempo’s zu einer Schnelligkeit gebracht, wie sie nur den besten alten Grenadieren Friedrichs des Großen eigen war, und galt als der beste »Driller« junger Soldaten. Längst zierte die Auszeichnung des Sergeanten seinen Uniformrock, aber er strebte weiter. Es war eine Zeit, wo gemeine Soldaten durch ihre Tapferkeit vor dem Feinde, ihre Talente oder die Gunst schöner Frauen zu den höchsten militärischen Würden stiegen, die Zeit der Orloff und Potemkin. Auch Iwan Nahimoff träumte von goldenen Epauletten und dem breiten Bande des Georgskreuzes. Jede Minute, welche ihm der Dienst der Kaiserin frei ließ, verwendete er unermüdlich dazu, sich in militärischen Dingen zu unterrichten; mit einem preußischen Deserteur, einem deutschen Pastorsohne, studierte er die Taktik der Griechen und Römer und die Feldzüge der Preußen. Man begann sich in militärischen Kreisen und sogar am Hofe für ihn zu interessieren.
Böse Zungen nannten ihn den Potemkin der Frau von Mellin.
Indes ebenso gewiß Amor es war, der ihn mit dem Korporalstock in den verschiedenen Wissenschaften drillte, ebenso unschuldig waren bisher die Beziehungen des schönen Grenadiers zu seinem Oberst im Reifrock gewesen. Frau von Mellin selbst war sich über den Charakter ihres Interesses für ihm am wenigsten klar.
Eines Abends – Iwan Nahimoff hatte eben mit seiner Kompagnie die Wache im Palaste bezogen – saß er in einem der duftigen Hollunderbüsche des Parkes von Zarskoje Selo gleich einem scheuen Vogel verborgen und las, als unerwartet ein Frauengewand ganz in seiner Nähe rauschte. Iwan hielt den Atem an, aber vergebens.
»Wer ist hier?« fragte eine schöne energische Stimme.
Iwan trat hervor und nahm Stellung. Vor ihm stand eine majestätische Frau, deren gebietender Blick freundlich auf ihm haften blieb. »Ein Soldat?« sagte sie lächelnd, »und ein Soldat, der liest? –«
Sie nahm das Buch aus seiner Hand. »Französisch sogar – der Anti-Marchiavell – nun, mein Bruder Friedrich kann zufrieden sein, er ist bei Lebzeiten in das