Gesammelte Werke. Isolde Kurz

Gesammelte Werke - Isolde Kurz


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im­stan­de sind, einen jä­hen, un­er­mess­li­chen Ver­lust, be­son­ders wenn es der ers­te ist, au­gen­blick­lich mit sei­ner gan­zen Schwe­re ins Be­wusst­sein auf­zu­neh­men. Wenn ich spä­ter Men­schen in sol­chen Fäl­len so­gleich in ein ver­zwei­fel­tes Wei­nen aus­bre­chen sah, so blieb es mir im­mer un­ge­wiss, ob dies nicht eher eine Ab­wehr­be­we­gung ge­gen die Er­kennt­nis oder gar ein un­be­wusst voll­zo­ge­nes Her­kom­men sei. Ich je­den­falls konn­te, auf der Stra­ße von der Schre­ckens­bot­schaft über­rascht, das Ge­sche­he­ne im vol­len Sinn des Wor­tes nicht fas­sen, und die­ses Un­ver­mö­gen ver­ur­sach­te eine schau­ri­ge Lee­re, die quä­len­der war als der wil­des­te Schmerz. Beim atem­lo­sen Heim­stür­zen gin­gen die Stim­men des Ta­ges wei­ter in mei­nem Ohr, die jähe Läh­mung des Ge­fühls war durch das Wort »tot«, das ich mir in­ner­lich zu­rief, ohne einen Sinn dar­in zu fin­den, nicht zu he­ben. Und das frie­de­vol­le, aber zu Stein ge­wor­de­ne Haupt in den Kis­sen, leicht zur Sei­te ge­neigt, als woll­te es die Welt nicht mehr se­hen, mach­te mir das Rät­sel des To­des nur noch rät­sel­haf­ter. Ein Mär­ty­rerant­litz, in dem das tie­fe Le­bens­leid durch über­ir­di­sche Ho­heit nicht aus­ge­löscht, aber über­wun­den war. Kein Nach­glanz ei­ner Freu­de lag dar­auf, nur das Er­lö­sungs­wort: Es ist voll­bracht. Ich lern­te nun plötz­lich sein We­sen, das ich bis­her nur bruch­stück­wei­se im Licht der Stun­de ge­se­hen hat­te, als ein Gan­zes zu über­schau­en und be­griff den nie aus­ge­spro­che­nen Schmerz um die un­ver­stan­de­nen Wer­ke sei­nes Ge­ni­us und den noch grö­ße­ren um die nicht ge­schaf­fe­nen, die durch den Druck des Le­bens in ihm er­tö­tet wor­den wa­ren. Und sein Al­lein­ste­hen in­mit­ten ei­ner lie­ben­den, aber für ihn zu lau­ten Fa­mi­lie. Es fehl­te die See­le, die nur für ihn ge­lebt und ihm in wunsch­lo­ser Hin­ga­be durch ihr Ein­ge­hen ver­gü­tet hät­te. Sei­ner Gat­tin war un­ter den zer­rei­ben­den Mut­ter­pflich­ten und dem he­ro­i­schen Kamp­fe ge­gen die Not die Zeit für ihn im­mer knap­per ge­wor­den. Ich war zu jung und von in­nen und au­ßen zu sehr be­drängt für das, was er be­durft hät­te: ein stil­les Hand in Hand durch fei­er­li­che Abend­lan­de Ge­hen. Und jetzt kam al­les Er­ken­nen zu spät. Wie oft hat­te ich schon ge­träumt, ich hät­te ei­nes mei­ner Lie­ben ver­lo­ren, und als der Mor­gen durchs Fens­ter sah, war al­les wie­der gut. Dass es jetzt nie wie­der gut wer­den konn­te, muss­te erst Tag für Tag neu er­lebt wer­den.

      In die­ser jä­hen Wen­de lern­te ich mei­ne Mut­ter von ei­ner völ­lig neu­en Sei­te ken­nen, die sie aber spä­ter­hin bei al­len schwe­ren Schick­sals­schlä­gen her­vor­ge­kehrt hat: die lei­den­schaft­li­che Frau, die je­des Un­glück Jah­re vor­aus be­wein­te, stand je­des Mal, wenn es wirk­lich ein­traf, in der er­ha­bens­ten Fas­sung da. Am Mor­gen nach un­se­res Va­ters Tode fand ich sie, wie sie im Wohn­zim­mer, das sie sorg­li­cher als sonst auf­ge­räumt hat­te, dem Ka­na­ri­en­vo­gel das Was­ser wech­sel­te. Du sollst nicht mit uns lei­den müs­sen, ar­mes Tier­chen, hör­te ich sie sa­gen. War’s hel­den­haf­te Selb­st­über­win­dung oder ver­moch­te auch sie den Tod nicht zu er­fas­sen? Ich konn­te es nie er­grün­den. Eine Ge­ho­ben­heit lag über ih­rem gan­zen We­sen, die mich den schwers­ten Rück­schlag fürch­ten ließ. Es kam kei­ner. Sie fass­te sich ganz fest in die Zü­gel. Mit ei­nem Blick über­sah sie un­se­re un­säg­lich schwie­ri­ge Lage und ihre Pf­licht, das Gan­ze zu­sam­men­zu­hal­ten. Jetzt zeig­te sich erst recht die sitt­li­che Macht ih­rer Na­tur in der Wir­kung auf ihre Um­ge­bung, da die wil­den Jun­gen trotz der Er­zie­hungs­feh­ler, die sie be­gan­gen hat­te, nicht um Haa­res­brei­te von dem en­gen Wege ab­wi­chen, auf dem es nun wei­ter­zu­ge­hen galt. Die Jün­ge­ren muss­ten im Heran­wach­sen auf all das ver­zich­ten, was sie den Äl­tes­ten hat­ten ge­nie­ßen se­hen. Sie ta­ten es, ohne zu mur­ren. Es war ja das Selbst­ver­ständ­li­che, aber das Selbst­ver­ständ­li­che ist nicht im­mer das, wor­auf man mit Si­cher­heit zäh­len kann.

      Das All­tags­le­ben renk­te sich wie­der ein. Aber eine Stil­le lag jetzt über dem Hau­se, in der die Stim­me des To­ten lau­ter zu den Sei­ni­gen re­de­te als es je die des Le­ben­den ge­tan hat­te. Paul Hey­se, der ihm in sei­nem letz­ten Jahr­zehnt nahe Ver­bun­de­ne, nahm sich mit Freun­de­streue des geis­ti­gen Nach­las­ses, dem wir noch nicht ge­wach­sen wa­ren, an und gab schon im fol­gen­den Jahr die ge­sam­mel­ten Wer­ke her­aus. Man hat­te Kor­rek­tu­ren zu le­sen, Tex­te zu ver­glei­chen und Stoff für die Le­bens­be­schrei­bung her­bei­zu­schaf­fen. Im Som­mer 1874 über­sand­te sein al­ter Freund Mö­ri­ke nach ei­ner er­grei­fen­den Be­geg­nung mit mir in Stutt­gart und ei­nem dar­auf­fol­gen­den Be­such, den Mama und ich ihm in Be­ben­hau­sen mach­ten, un­se­res Va­ters Ju­gend­brie­fe, die zu­sam­men mit de­nen Mö­rikes einen köst­li­chen, spä­ter von J. Bächtold bei der Her­aus­ga­be nicht völ­lig ge­ho­be­nen Schatz bil­de­ten. Da­zwi­schen ka­men neue Er­schüt­te­run­gen durch die wie­der­keh­ren­den schwe­ren Krank­heits­an­fäl­le, die un­se­ren Jüngs­ten mit stei­gen­der Ge­fahr heim­such­ten. Die bei­den Me­di­zi­ner Ed­gar und Al­fred konn­ten schon mit ärzt­li­cher Hil­fe bei­sprin­gen und teil­ten die Nacht­wa­chen mit der angst­ge­quäl­ten Mut­ter. Ich saß fast die gan­ze Zeit am zwei­ten Ban­de mei­ner Nie­vo­über­set­zung. Über den Er­trag war im vor­aus be­stimmt. Der lee­re, schon ein­sin­ken­de Hü­gel auf dem Fried­hof, wo un­se­re Blu­men­grü­ße von der Son­ne ge­dörrt und vom Re­gen zer­klatscht wur­den, sah mich bei je­dem Be­such wie ein stil­ler Vor­wurf an. Eine Zeit lang war­te­te ich, ob sich nicht die Hei­mat jetzt ih­res ver­kann­ten großen Soh­nes er­in­nern und ihm den spä­ten Dank an sei­nem Gra­be ab­tra­gen wür­de. Als aber al­les still blieb, trat ich selbst mit ei­nem Bild­hau­er in Un­ter­hand­lung. Und nun soll­te das Denk­mal auch so fei­er­lich wie nur mög­lich sein, kein blo­ßer be­haue­ner Stein, son­dern ein Stück at­men­der Kunst. Man ei­nig­te sich über die Ko­pie ei­ner le­bens­großen an­ti­ken Muse in Sand­stein auf ho­hem So­ckel. Der ge­for­der­te sehr hohe Preis stand au­ßer al­lem Ver­hält­nis zu mei­ner Le­bens­la­ge, aber ge­ra­de das emp­fand ich wohl­tu­end. Solch ein To­ten­op­fer für den Ab­ge­schie­de­nen, der sich nicht mehr dar­an freu­en konn­te, der mit ei­nem Zehn­tel die­ser Hin­ga­be im Le­ben glück­lich ge­we­sen wäre, moch­te wohl ei­ner küh­len Ver­nunft wi­der­strei­ten, aber der er­schüt­ter­ten See­le war es ein Be­dürf­nis. Und auch die Ver­nunft woll­te sich der ma­te­ria­lis­ti­schen Zeit­strö­mung zum Trotz nicht völ­lig über­zeu­gen, dass zwi­schen dem Ge­stor­be­nen und uns kein Band mehr mög­lich sei; aus Träu­men kam es oft wie ein tröst­li­ches Zei­chen. Schrit­te führ­ten in das dunkle Land hin­ein, de­nen man ein­mal ru­hig nach­ge­hen konn­te. Vi­el­leicht dass sich dann von drü­ben eine Hand ent­ge­gen­streck­te, de­ren Berüh­rung wie­der Schutz gab. Aber das, was hier noch üb­rig war und da un­ten lag in der un­end­li­chen Ver­ein­sa­mung des Gra­bes, ängs­te­te die Vor­stel­lung. Denn die Wohl­tat der Ver­bren­nung, die er sich er­sehnt hat­te, ge­stat­te­ten die Sat­zun­gen sei­ner Zeit noch nicht. Die Win­ter­käl­te der zu­frie­ren­den Erde wur­de et­was Ent­setz­li­ches. Je­der Schritt auf der Eis­bahn, die sonst das Win­ter­pa­ra­dies ge­we­sen, schi­en fühl­los über die ver­las­se­nen To­ten weg­zuglei­ten. Und je­der kal­te Wind­stoß fuhr mit ei­nem schau­ri­gen Griff ins Herz:

       Die wei­ßen Flo­cken fal­len dicht

       Auf Dach und Mau­ern;

       Ich drück’ ins Kis­sen mein Ge­sicht

       Mit Schau­ern.

       An einen


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