Gesammelte Werke. Isolde Kurz
Mich schauert und die Ruh’ ist fort
In nächtiger Stunde,
Denk’ ich an jenen Schläfer
dort Im Grunde.
In der tiefen Stille jener Tage war plötzlich der unsichtbare Gefährte meiner ersten Jugend zurückgekehrt. Er redete wieder vernehmbar in den Nächten, und ich schrieb alles unbedenklich nach, was er sagte. Ich nannte ihn bei mir den »Anderen« und meinte mitunter seine Nähe körperlich zu spüren. Es konnte vorkommen, dass ich des Nachts bei plötzlichem Erwachen seine Stimme noch nachklingen hörte mit irgendeiner Traumgabe, hinter der ich dann einen tieferen Sinn suchte. Aber es blieb alles nur Selbstgespräch und verschönernde Umgestaltung des eigenen Lebens. Wir Schwabenkinder wussten nicht, wie man aus Poesie Literatur macht. Nur ein paar meiner Sachen fanden durch Vermittlung unserer treuen Freunde Hemsen und Vollmer den Weg in ich weiß nicht mehr welches Dichteralbum. Immerhin war es schon ein Trost, den Schwerpunkt in sich selber zu fühlen, da jede neue Verlockung, das Lebenssteuer bequem in andere Hände zu legen, an einem neuen Nein des Herzens scheiterte. Da war einer, der mir in sehr schwerer Zeit zart und hilfreich zur Seite gestanden und der in der Stille sein Leben auf mich eingerichtet hatte. Da er mich niemals bedrängte, glaubte ich eine wahre und tiefe Dankbarkeit für ihn zu empfinden. Aber wie schnell nimmt sich das Herz sein Recht zum Undank, wenn es entdeckt, dass mit den Liebesdiensten erworben werden soll, was außer jedem Preise steht. So kam der Tag, wo ich zu meinem eigenen Leid auch diese Erwartung vernichten und ein wertes Band zerschneiden musste. Es war immer derselbe gute Geist, der von innen heraus unheilbare Missgriffe verhindern wollte, aber er schuf damit eine Leere um mich her, in der die junge Seele bisweilen an sich selber irre ward. Der Kreis lebensfroher junger Menschen, der uns in den letzten Jahren umgeben hatte, war in alle Winde zerstreut, denn in einer Universitätsstadt wechseln die Gesichter schnell. Neue kamen und glitten wie ein Schattenspiel vorüber. Dazu die dunkle Pein der Jugend, keinen Zusammenhang in den Dingen zu sehen und von sich selber nichts zu wissen. Gestriges war gleich verwischt, das Heute hatte nur eine halbe Wirklichkeit und fiel jeden Abend wie welke Blätter zu Boden; da war nur immerdar ein lockendes, versprechendes Morgen, das vor einem herwich wie der Horizont.
Edgar lebte unterdessen mit Inbrunst den Tag, von dem er keine Stunde verlieren wollte. Die inneren Hindernisse, die mir immer wieder den Becher vom Munde zogen, begriff er nicht und sah mein Tun mit Verwunderung. Er hatte es eilig mit dem Leben, eiliger als wir anderen, als ahnte er, dass seine Zeit knapp bemessen sei. Doch hatte diese Lebensgier nichts mit der schalen Genusssucht einer späteren Jugend gemein: er wollte das Leben heroisch ausschöpfen; auch Kampf und Qual waren ihm nur andere Formen der Freude und ebenso willkommen. Dabei war sein Lebensgefühl von solcher Stärke, dass er mir einmal gestand, so sehr er als Arzt die Erfahrung des Todes habe, könne er sie doch nicht auf sich selber anwenden, ja er fühle die körperliche Gewissheit in sich, dass er niemals sterben werde. Diese Worte, so wunderlich sie klangen, waren mir ganz aus der Seele gesprochen. Dasselbe unbezwingliche körperliche Hochgefühl der Jugend, dieses wie in einem Siegestanze Dahingehen und sich als unzerstörbar Empfinden war auch in mir. Wir Geschwister standen uns in den Jahren zu nahe und waren uns auf manchen Punkten zu ähnlich, um uns in der Dürre des Lebens zu ersetzen, was beiden fehlte. Wie innig würde er ein kleines, hilfloses, nur an seinen Augen hängendes Schwesterlein beschützt haben! Wie wohl hätte mir die reife Männlichkeit eines viel älteren Bruders getan! So pilgerten wir zwar immerdar nach demselben Mekka der Seele, aber häufig, wie einst auf unserer Schweizer Fahrt, auf beiden Seiten der Straße. Jedes gab dem andern die Schuld. Er fühlte seine Liebe als die leidenschaftlichere und hielt sie deshalb für unerwidert, ohne zu begreifen, wie schwer es bei seinen auf und ab zuckenden Stimmungen und der Gewaltsamkeit seines Wesens war, ihn zu begleiten. Einmal verglich ich uns beide in einem nur für mich bestimmten Gedicht mit dem Geschwisterpaar der nordischen Sage, das den Reigen von Tag und Nacht führt und sich bei aller Liebe nie begegnen kann. Mama steckte ihm das Gedicht zu. Er nahm das Gleichnis auf in einer schmerzlichen Antwort, worin die Worte standen:
Weißt du denn, welche Geister in mir wohnen?
Kennst du mich, der ein Leben durchgelebt?
Nicht Schatten, nein, lebendige Dämonen
Sind es, in deren Zwang mein Herz erbebt.
Er hatte recht, ich kannte ihn nicht und hielt auch diese Worte nur für eine poetische Formel. In der Familie beobachtet man eine allmähliche Wandlung am allerwenigsten. Für mich hatte er immer noch viel von dem Jünglingsknaben, der mir in Niedernau im eifersüchtigen Schmerz die Kränze vom Arm gerissen und mich auf dem Rigi durch seine Wunderlichkeiten gepeinigt hatte, weil er jenem auch äußerlich noch so ähnlich sah. Dass nach seinem Übergang von der Philologie zur Medizin der schwärmerische Blick seiner Augen nach und nach einem Ausdruck durchdringender Bestimmtheit wich, das vollzog sich zu langsam, um in die Wahrnehmung zu fallen. Ich wusste auch vor allem nichts von den Herzensstürmen, die schon über ihn hereingebraust waren, und wie Frauenliebe an ihm gemodelt hatte. Und die dämonischen Plötzlichkeiten, denen man ausweichen musste, ließen den darunter verborgenen, straff gespannten und stetigen Willen nicht in seiner wahren Bedeutung erscheinen. An die Schnelligkeit seiner wissenschaftlichen Entwicklung aber war man schon so gewöhnt, dass sich niemand groß verwunderte, ihn mit 21 Jahren als Assistenzarzt an der geburtshilflichen Klinik zu sehen, wo er seine Altersgenossen und zum Teil noch ältere Studierende zu Schülern hatte.
Wieder bei den Griechen
Im Jahr, das auf meines Vaters Tod folgte, kam Ernst Mohl von einer Hofmeisterstelle in der Pfalz noch einmal zur Vollendung seiner Studien auf kürzere Zeit nach Tübingen zurück. Und jetzt machte dieser Freund meiner Tugend, der stets für die Bedürfnisse meiner Natur das meiste Verständnis gezeigt und mich durch seinen Glauben gestützt hatte, mir ein Geschenk, das mich auf alle Jahre meines Lebens bereichern und erheben sollte: er unterrichtete mich im Griechischen.
Den Homer in der Ursprache zu lesen, war mein alter Wunsch, allein die Zeit, die vor uns lag, war knapp, und ich zweifelte, ob es möglich sein würde, in der Schnelligkeit so weit zu kommen. Der unternehmende Lehrer aber war seiner Sache sicher. Wir begannen nach kurzer Vorbereitung mit dem Xenophon, der mir durch seine immer wiederkehrenden Wendungen schnell einen gewissen Wort- und Formenschatz übermittelte. Während des Sommers wurden vier Bücher der Anabasis gelesen. Dann unterbrach eine Reise nach Wien die Studien, die noch kaum zwei