Gesammelte Werke. Isolde Kurz
nach Zürich gewandt mit der Anfrage, ob dem Dichter diese Vorgänge bekannt seien, hatte aber gar keine Antwort erhalten.
Berka? Berka? Woher kenne ich diesen Namens ging es mir durch den Kopf. Da stellte sich plötzlich ein Gesicht, an das ich seit Jahren nicht gedacht hatte, vor mein inneres Auge, ein unruhiges und unerfreuliches Gesicht, über das es von Zeit zu Zeit wie ein Kribbeln von Ameisen lief, und jener Geistesschmarotzer, der sich in der Stuttgarter Zeit in Gustavs Künstlertum eingefressen hatte, stand wieder vor mir.
Er hat die Handschrift gestohlen, fuhr ich heraus.
Das nicht, war die Antwort. Ich weiß aus sicherer Quelle, dass Gustav mit ihm einverstanden war. Er wagte als Fahnenflüchtiger nicht, das Werk unter seinem Namen auf die Bühne zu bringen.
Weiß er denn, was in St. Hubert geschah? fragte ich zögernd.
Ich glaube nein, und möge er es nie erfahren. Er hat keine Beziehungen zu seiner Heimat und zu seinen ehemaligen Kameraden. Und Selma umgibt den Traumwandler unermüdlich mit Schutzwehren. Höre, dieser Frau habe ich Unrecht getan und bitte es ihr im stillen ab. Solch ein stündliches Opferbringen und Aufgeben der eigenen Persönlichkeit für einen, der es nicht einmal bemerkt, solch ein immerwährendes Sorgen und Behüten macht manche Torheit gut. Und war sie nicht im Recht, als sie ihm riet, die Pflicht des Genius über die des Alltagsmenschen zu stellen? Jetzt aber steht er heimatlos und rechtlos im Leeren und kann sein Werk nicht durchsetzen. Hätte er das bedacht, so wäre er doch vielleicht den anderen Weg gegangen, wandte ich ein.
Das Große setzt sich bei uns nie auf Einen Schlag durch, dafür hat es auch Zeit zu warten, sagte er. Die Hauptsache war doch, dass es entstand, besser gesagt, dass es aus den Tiefen geholt wurde, wo es fertig lag und wohin kein anderer den Schlüssel hatte. Ich glaubte ja auch einmal ihn meistern und lehren zu können und tappte selber im Dunkeln. Damals hatte ich die Weihen noch nicht. Jetzt sehe ich anders. Er sah von jeher anders, weil er auf einer anderen Ebene lebte. Jeder hat Recht auf der Ebene, wo er steht. Die Ebenen liegen stufenweise übereinander.
Ich wunderte mich, den Mann, dessen Vaterlandsgefühl sonst immer bis zum Überkochen erhitzt war, so reden zu hören.
Wie kann der Geistesjünger sein Herz an ein einziges Land hängen, war seine Antwort, wenn er doch weiß, dass er in jedem Land der Erde schon einmal geboren war oder es werden kann, und dass jeder Menschenbruder sein gewesener oder künftiger Landsmann ist?
Mir wurde bei dieser Rede zumut, als stürzte ich häuptlings ins Leere. Unter einfacheren Seelen lebend, war ich gewohnt, dass auf diesem Boden der großen Völkermischung ein jeder zu seinem eigenen Volkstum stand, und es war mein Stolz und meine Freude gewesen, für die Meinen tun zu können, was ich alle andern selbstverständlich für die Ihrigen tun sah. Darüber hatte ich ganz vergessen, dass der deutsche Genius seine Höhe immer nur ersteigt, um sich selber aufzulösen und zu verneinen, als ob sein Kreis sich niemals runden sollte, als ob ihm niemals eine irdische Erfüllung bestimmt sei.
Auch Kuno hatte die Stufe des Volkstums überflogen und schwebte ohne Pol im Unbegrenzten. Alles Geformte war ihm entglitten, und nur die Teilnahme am Geschick der Freunde schien an ihm noch irdisch zu sein.
Als er gegangen war, sprach mein zweites Ich die Worte aus meiner Seele:
In Zürich bedürfen sie deiner. Lass uns die Herbstferien in Europa verbringen.
*
Als wir wieder deutsche Luft atmeten, fanden wir dann freilich, dass nicht alles Gold war, was so hell über die Wasser herübergeglänzt hatte, und es ging uns allmählich auf, was Kuno durch Schweigen und halbe Worte hatte ahnen lassen. Das Reich war teuer bezahlt. Die wenigen Jahre seit der Tübinger Zeit hatten genügt, einen ganz anderen Deutschen auf die Bildfläche zu bringen; Gründer und Streberwesen standen in Blüte. Der Durchschnitt beugte sich vor dem goldenen Kalb, die einen in satter Befriedigung, die andern in ungestillter Gier. Die Besseren standen trauernd und hilflos beiseite oder waren verbitterte Nörgler geworden. Anderwärts war es ja bei der Allgemeinheit gewiss auch nicht besser bestellt, aber Deutschland, das Land der Poesie, die feste Burg des Geistes, von demselben Taumel ergriffen zu sehen, das traf ins Herz. Unersetzliches, sonst nirgend Vorhandenes, war dahin, und mein Herz füllte sich mit Trauer. Eine Luft wie im Kaffeehaus Molfetta gab es nun nicht mehr. Weder bei den Verwandten meiner Frau noch bei meinen eigenen, die noch da und dort verstreut lebten, fanden wir die Welt, nach der wir uns so tief gesehnt hatten. Wir standen auf deutschem Boden und suchten Deutschland! Und wieder einmal schwebte das Ewigmorgige vor uns her wie die Fata Morgana. –
*
In Zürich fand ich nächst nur Selma. Gustav hatte die letzte, schon kalte Herbstsonne benutzt, um noch für zwei Tage in die Berge zu gehen. Das Mädchen kannte mich noch und ließ mich ohne weiteres eintreten. Die Künstlerin stand halbseits mit dem Rücken gegen die Tür, dass ich sie zuerst im Profil erblickte; sie neckte sich zärtlich mit einem Kinde, das sie auf einen Bücherschrank gesetzt hatte, von wo es lachend und strampelnd nach ihr hinstrebte. Ein Mops beteiligte sich durch Emporspringen und Bellen an diesem Spiel. Sie schien mir größer geworden, was auf Rechnung einer fast asketischen Schlankheit kam.
Als sie mich erkannte, stieß sie einen Schrei aus, riss das Kind auf den Arm und stürzte mir mit einem Ungestüm entgegen, worin ich ganz die alte Selma erkannte.
Der Mohikaner! Endlich! endlich! O nun wird alles gut. Sie Böser, wo haben Sie so lange gesteckt?
Dieser Empfang verriet, wie verloren sie sich beide in der Fremde fühlten trotz Selmas Erfolgen, von denen man uns schon im Gasthof erzählt hatte.
Es brach auch gleich mit der alten Aufrichtigkeit aus ihr heraus:
Lieber, lieber Freund! Sie glauben nicht, wie mir Ihr Anblick wohl tut. Wir frieren hier an Leib und Seele. Das heißt: ich, setzte sie schnell mit wehmütiger Schalkheit hinzu, denn Er will es nicht Wort haben. Ich müsste ja dankbar sein, weil es uns äußerlich wohl geht, aber in unsrem guten Schwabenland wehte doch eine andere Luft.
Ich hielt das Kind, das sie während des Sprechens immerzu hätschelte, für ihr eigenes, da brach sie in Tränen aus.
Es ist ein Nachbarskind, das ich mir herüberhole, wenn Gustav fort ist. Ich darf ja kein eigenes haben. Ach, und ich wäre eine gute Mutter gewesen; dies eine Lob darf ich mir geben, es ist das höchste für eine Frau. Aber auf mich kommt es nicht an, er kann den Kinderlärm nicht ertragen.
Kaum hatte sie diese Worte herausgesprudelt, als sie sich erschrocken über ihre Offenherzigkeit in der ersten Minute des Wiedersehens auf den