DER FEUERVOGEL. Daphne Niko
Stück des Kreuzes, das Euch meine Männer brachten. Ich möchte, dass Ihr es zu meiner Familie in den Maghreb bringt. Sie soll es in alle Ewigkeit beschützen. Die vier Teile des Kreuzes dürfen niemals zusammenkommen. Das ist meine Buße dafür, Schande über diese Menschen gebracht zu haben.«
Die klare Luft brachte das schwache Geräusch von Trommeln und Sprechchören mit sich.
»Sie kommen, um mich zu holen«, sagte Esteban. »Ihr müsst gehen. Nehmt so viele meiner Männer mit Euch, wie Ihr könnt, denn sie verdienen es nicht, zu sterben. Ihr einziges Verbrechen ist es, mir vertraut zu haben.«
Esteban umarmte Garrido und befleckte die weiße Bluse und das Notizbuch des Konquistadoren mit seinem Blut. Garrido trat zurück und sah in die Augen eines toten Mannes. Er bestieg sein Pferd und führte die anderen aus dem Canyon und über den ausgetrockneten Erdpfad.
Der durchdringende Schrei der Verdammten klang durch das Tal und jagte Garrido einen Schauder über den Rücken. Er warf einen Blick zurück auf die Ansammlung alter Steine, die die einzigen Zeugen von Estebans Richtspruch waren. Er spürte den Umriss des Kreuzfragments unter seinem Konquistadorengewand und dachte für einen Moment darüber nach, eine Expedition zur Suche nach den anderen drei Teilen des Kreuzes – und zu dem Gold, in dessen Richtung es wies – zu organisieren. Er sah zu den entsetzen Männern seines Gefolges und besann sich eines Besseren.
Er hatte einen Pakt geschlossen, und den galt es zu würdigen.
Kapitel 1
In jedem anderen Jahr würde der Fuß der kupfergefärbten Sandsteinklippen in der sengenden Hitze des Spätaugusts schillern und mit der verdorrten Erde verschwimmen. Doch in diesem Sommer kam die Regenzeit ungewöhnlich früh und heftig und bewegte die Sandfläche des Canyonrands. Im unablässig starken Regen waren Schlammlawinen über die Felswände hinabgestürzt und hatten Treibsandteppiche gebildet, die einen Geländewagen im Nu verschlingen konnten. Und den silbernen Streifen am düsteren Himmel nach zu urteilen, würde es nicht so bald besser werden.
Sarah Weston hockte im Schlamm und rollte einen flachen Ring zwischen den Fingern hin und her, rieb den Matsch ab, um einen olivgrünen Stein mit ockerbrauner Maserung zum Vorschein zu bringen. Türkis, die Sorte, die nicht mehr existierte, in keiner Mine, nirgendwo. Obwohl es eher aussah wie ein Trennstein, war es ganz definitiv eine Schmuckperle, von den Vorfahren der Pueblo-Indianer vor Jahrhunderten zu Dekorationszwecken und für den Handel bearbeitet. Hunderte solcher Beispiele waren im Chaco Canyon ausgegraben worden, der Zeremonialstätte im westlichen New Mexico, etwa hundertdreißig Kilometer von ihrem Arbeitsplatz entfernt.
Sarah und ihr Partner, Daniel Madigan, waren in den südlichen Randbereich des Canyon de Chelly gerufen worden, in einen Teil von Arizona, der dem Volk der Navajo gehörte. Es war ungewöhnlich, dass zwei Archäologen, die sich auf die Regionen des Mittelmeeres und den Mittleren Osten spezialisiert hatten, in diesem Teil der Welt arbeiteten. Dennoch lag etwas Vertrautes, sogar etwas Tröstliches, in seinen gewaltigen Felsformationen, seinen einst bewohnten, doch längst verlassenen Höhlen, der Wüstenlandschaft, deren Oberfläche sich in Sekundenschnelle ändern konnte. In den vier Jahren, in denen sie schon miteinander arbeiteten, hatten Sarah und Daniel ähnliche Landstriche erkundet, ihre Launen und Eskapaden kennengelernt.
Es war ein Manuskript, das sie hierhergeführt hatte. Einige Meilen von dem Punkt entfernt, an dem sich die Perle in einem Schlammfeld präsentiert hatte, waren die eingerissenen Seiten eines Kodex von einem Archäologieteam der University of Arizona ausgegraben worden. Das Papier selbst war präkolumbisch, aus mexikanischer Amatl-Rinde gefertigt, aber es war mit einem nordafrikanischen Stammesdialekt beschrieben, was die Forscher verblüffte. Daniel und Sarah, Experten der antiken Linguistik, waren um Rat gebeten worden. Daniel, der aus Tennessee stammte und Cherokee-Blut besaß, war begeisterter, diesen Teil der Welt zu erkunden, als Sarah es war. Doch am Ende beugte sie sich seinem Enthusiasmus.
»Wir sollten los.« Nakai Tsosie, ein Aufbaustudent der Universität, zeigte auf die dunkle Wolke am östlichen Horizont. »Wir werden gleich pitschnass.«
Sarah steckte die Perle in einen Probenbeutel und folgte dem Schlammpfad mit ihrem Blick. Er ging von einer mandelförmigen Spalte aus, die wie ein Auge in den Stein geschnitten war, etwa dreißig Meter über dem Grund des Canyons. Es könnte einst eine Siedlung gewesen sein oder vielleicht Teil einer Festung. Canyon de Chelly war voll von beidem.
Sie schätzte die Entfernung des Sturms ein. »Uns bleibt eine Stunde, zwei, wenn wir Glück haben. Zeit genug.«
Daniel näherte sich mit Phoebe Bellamy, der Hilfskraft, die sie auf der Expedition begleitete. »Sieh mal, was Phoebe gefunden hat«, sagte er.
Das dreizehnjährige Mädchen streckte eine schmale Hand aus. Darin lag eine schlammbedeckte Türkisscheibe.
Sarah hielt den Probenbeutel daneben. »Identisch. Wo hast du das gefunden?«
Phoebe zeigte zum anderen Ende des Schlammlaufs.
»Wenn wir warten, bis noch ein Sturm vorbeigezogen ist, werden diese Artefakte zerstreut werden und vermutlich verlorengehen.« Sarah nickte zum Einschnitt im Felsen. »Ich will sehen, was da oben ist.«
Daniel musterte das Terrain. »Das ist ein weiter Weg dort hinauf und es wird glatt sein.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht.«
»Ich habe eine Kletterausrüstung im Truck.«
»Kein Equipment«, sagte Nakai. »Felsenklettern ist auf Reservatsboden nicht gestattet.«
»Dann mach ich’s ohne. Es gibt genug Zehenhalte.«
»Und ich halte das für eine schlechte Idee.« Nakai zuckte die Achseln. »Nicht, dass das wichtig wäre.«
Bei den Erforschungen von Canyon de Chelly und den umliegenden Badlands war Nakai sowohl Assistenzarchäologe als auch obligatorischer Navajo-Führer. Obwohl er das letzte Wort hatte, was Navajo-Gesetze betraf, gaben Sarah und Daniel den Ton für die Expedition an. Sarah dankte Nakai für seinen Hinweis, aber sie vertraute ihren eigenen Fähigkeiten genug, um die Warnung zu übergehen.
Sie verschwendete keine Zeit, den Fels hinaufzuklettern. Jahrelanges Erforschen von hoch gelegenen Höhlen und Inschriften an Felswänden hatten ihr Selbstvertrauen in Sachen Freeclimbing gestärkt, wenngleich sie sich bei einer Neigung wie dieser wohler gefühlt hätte, wenn Daniel sie gesichert hätte. Wie so viele andere Dinge war auch das Klettern in seiner Gesellschaft leichter und angenehmer.
Zu der Öffnung zu gelangen, war nicht so problematisch, wie sie erwartet hatte. Sie sah nach unten, um Daniel ein Daumenhoch zu zeigen, und bereute es augenblicklich. Dreißig Meter über dem Boden sahen von oben weit bedrohlicher aus, besonders wenn man nicht angeseilt war.
Sie trat auf einen schmalen Vorsprung und bewegte sich, nach Griffen an der Sandsteinwand tastend, zur Öffnung weiter. Ein Wall aus Schiefer und Schlick, von unten nicht sichtbar, füllte sie aus, vielleicht das Werk der Natur, vielleicht nicht. Der Regen hatte das Material veranlasst, sich zu lösen und über die Felswand hinunterzustürzen, was der Wissenschaft einige Möglichkeiten eröffnete.
In diesem Teil der Welt entwickelte sich die Archäologie ständig weiter, da jede Laune von Wind und Wasser ein neues Flüstern vernehmen und lange gehütete Geheimnisse entdecken ließ. Es hieß, dass die Wissenschaftler noch weitere fünfhundert Jahre an diesem Ort arbeiten könnten und trotzdem nicht alles finden würden, was in seinen Erdengrenzen vergraben lag.
Sarah untersuchte den Eingang. Er war noch teilweise versiegelt, der Stein mit Sediment verklebt, was es schwer machen würde, Halt für die Hände zu finden. Sie kratzte den losen Schiefer mit einer Spitzhacke ab. Es war eine mühselige Arbeit, wie alles in der Archäologie, aber sie hatte die Geduld dafür entwickelt. Es war, fand sie, ein kleines Opfer, um ein weiteres Stück zum Puzzle der Vergangenheit der Menschheit hinzuzufügen.
Als genug Geröll geräumt war, duckte sich Sarah unter einen Überhang und ging hinein. Ehe sie den Ort beleuchtete, nahm sie sich einen Moment, um ihn in der Dunkelheit zu erleben. Als Folge der Regenfälle war die Kammer kühl