DER FEUERVOGEL. Daphne Niko

DER FEUERVOGEL - Daphne Niko


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hergestellt zu sein schien: mithilfe von Baumrinden und Steinholländern. Amatl wurde seit der Aztekenzeit in Mexiko benutzt, zumeist zu rituellen oder offiziellen Zwecken. Vielleicht hatten die Spanier das Papier aus diesem Grund verboten, es als ein Mittel der Hexerei verworfen, aber manche Dörfer im Norden Mexikos hatten es weiterhin hergestellt, um den unliebsamen Unterdrückern zu trotzen.

      »Sarah?«

      Sie drehte sich in die Richtung der schwachen Stimme. Phoebe stand im Eingang zum Raum. Sie trug alte Jeans und Cowboystiefel.

      »Nakai hat mich zum Reiten in den Blue Canyon eingeladen. Darf ich?«

      Nakai hatte sich mit Phoebe angefreundet, behandelte sie wie seine kleine Schwester. Wenn sie nicht arbeiteten, hatte er Freude daran, ihr Dinge zu zeigen, die ihr – unglaublicherweise – fremd waren: den Nachthimmel zu deuten, ein Omelett zuzubereiten, ein Feuer zu entfachen. Er hatte davon gesprochen, sie auf ein Pferd zu setzen, hatte gesagt, es gäbe keine stärkere Bindung auf der ganzen Welt als die zwischen Pferd und Reiter. Sarah vertraute seinen Fähigkeiten – er kannte jede Klamm und jede Serpentine der Badlands von Ostarizona und er kannte die Geschichte seines Volkes so gut, wie die Tauben die Morgendämmerung kannten –, aber sie war noch immer nicht sicher, was seine Absichten betraf.

      Außerdem war der Blue Canyon ein schwieriges Stück Hinterland, weit weg von Ganado. So viel konnte passieren.

      Sarah klappte ihre Akten zu und stand auf. »Weißt du, ich könnte mir auch mal die Beine vertreten. Hast du was dagegen, wenn ich mitkomme?«

      Phoebes Züge bildeten ein zurückhaltendes Lächeln. »Nein. Wenn du nicht zu beschäftigt bist.«

      Sarah glaubte, einen Funken Freude in ihrem jungen Schützling zu sehen. Das passierte nicht oft. An den meisten Tagen nahm das Mädchen die Forschungsarbeit still in Angriff und vermied den Kontakt mit anderen Teammitgliedern. Sarah kannte ihre Geschichte, weswegen es sie nicht überraschte. Seit sie sich vor einem Jahr in den Bergen Zentralgriechenlands begegnet waren, hatte Phoebe einem ganzen Berg von Dämonen eine Identität abringen müssen. Sie hatte die Wahrheit darüber, was ihr widerfahren war, nicht sofort begriffen. Stattdessen kam die Erkenntnis in Stößen und Schüben, die ihr emotionales Pendel zwischen absoluter Stärke und nackter Verzweiflung hin und her schwingen ließen.

      Es brach Sarah das Herz, ein Kind so kämpfen zu sehen. Sie und Daniel hatten Phoebe unter ihre Fittiche genommen, um sie von ihrer Vergangenheit abzulenken und ihr beizubringen, die Zukunft durch die Linse der menschlichen Geschichte zu deuten. Die Wildnis des amerikanischen Westens, mit ihren urgewaltigen Felsformationen, riesigen Weiten und jahrtausendealten unentdeckten Geheimnissen, schien ein guter Ort dafür zu sein. Doch psychologisches Trauma war ein mächtiger Gegner.

      Sarah legte einen Arm um Phoebes Schulter. »Blue Canyon also? Das ist Hopi-Land.«

      »Nakai hat einen Freund, der Pferde an Touristen vermietet und uns helfen kann, einen Führer zu finden.« Sie warf Sarah einen Blick zu. Ein Hauch von Angst lag in ihren großen, haselnussbraunen Augen. »Ich saß noch nie auf einem Pferd.«

      »Mach dir keine Sorgen. Pferde in Mietställen sind normalerweise älter und ziemlich gutmütig.« Sie lächelte. »Ich bin sicher, sie brechen nie aus dem Trab aus.«

      Blue Canyon, eine sedimentäre Felseneinöde am östlichen Rand des Painted Desert, lag eine zweistündige Fahrt von Ganado entfernt, wo das Archäologenteam die Arbeit aufgenommen hatte. Sarah hatte einen Arm ins offene Fenster, den anderen über das Lenkrad eines einfachen, mit Segeltuch überdachten Jeeps gelegt. Sie rückte ihre Aviator-Sonnenbrille zurecht, um sich gegen die Mittagssonne zu schützen, die ohne Gnade auf die ockerbraune Wüste herabbrannte.

      Sie sah Phoebe im Rückspiegel an. Die gesamte Fahrt über hatte das Mädchen mit den Knien an der Brust dagesessen und aus dem Fenster gestarrt. Lange Büschel krausen, rotbraunen Haars waren zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengefasst, der aus der khakifarbenen Baseballkappe herausragte, die sie Tag und Nacht trug. Sarahs Einschätzung nach versteckte sich Phoebe vielmehr unter der Kappe, als dass sie sie gern mochte.

      Phoebes Verhalten stand im krassen Gegensatz zu Nakai. Der Vierundzwanzigjährige war in das Display seines Handys vertieft, scrollte und tippte die ganze Zeit darauf herum. Ab und zu hörte er damit auf und klopfte mit den Fingern, die von verschieden gravierten Silberringen geziert wurden, zu einem Rhythmus, den ihm voluminöse Kopfhörer zu hören gaben.

      Als sie Tonalea erreichten, das Tor zum Canyon, zog Nakai die Kopfhörer ab und schüttelte die glänzenden schwarzen Strähnen zurück, die ihm ständig ins Gesicht hingen.

      »Hier rechts abbiegen«, sagte er. »Am Ende des Wegs steht eine Scheune. Mein Freund wird uns da treffen.«

      Sarah bog wie angewiesen ab und folgte einer unbefestigten Straße. Während die Reifen über die ausgedörrte Erde rollten, erhob sich eine Staubwolke vom Boden und hüllte den Horizont in einen safrangelben Schleier. Anders als am Ostrand des Staates hatte es hier seit Monaten nicht geregnet.

      Der Freund – ein kleiner, quadratischer Mittzwanziger in staubigen Jeans, einem karierten Hemd und einem Cowboyhut – war nicht der Typ für überschwängliche Begrüßungen. Er schlug Nakai auf den Rücken und zeigte auf drei an einem Pfosten vor der Scheune angebundene Pferde, dann schlenderte er davon. Nakai machte sich daran, zwei fuchsbraune Quarter Horses für Sarah und sich selbst und ein geschecktes Pony für Phoebe zu satteln.

      Sarah wandte sich an Phoebe. »Ich denke, das Pony passt zu dir. Komm, lernen wir es kennen.«

      Mit seinem gefleckten Fell aus Schattierungen von Rotfuchs bis Schimmel stand das Pony ganz still da, während Phoebe seinen Nacken mit einem Geschick streichelte, das ihre Unerfahrenheit Lügen strafte. Obwohl Sarah seit ihrem sechsten Lebensjahr ritt, hatte sie selten einen Reitanfänger eine sofortige Bindung zu einem Pferd haben gesehen. Sie hoffte, es wäre ein gutes Vorzeichen für den Ausritt.

      Die drei folgten einem schmalen Pfad zum Eingang des Canyons, wo zwei Männer sie erwarteten. Derjenige zu Pferde näherte sich. Er sah jung aus, als sei er vielleicht noch in der Highschool.

      »Ihr habt einen Führer verlangt?«

      »Ja. Bist du das?«

      Der junge Hopi musterte den männlichen Begleiter. »Hier entlang.«

      Der Führer ritt voraus und hielt den Kontakt auf einem Minimum. Sarah schloss zu ihm auf. »Ich bin Sarah. Wie heißt du?«

      »Sarah. Sie haben einen merkwürdigen Akzent.«

      »Ich bin Britin. Aus London.«

      »Ich weiß nicht, wo das ist.«

      Einen Moment lang war Sarah sprachlos. Dann begriff sie, dass er vermutlich nie herkömmlichen Unterricht gehabt hatte. »Das liegt in Europa. Fünftausend Meilen weit weg.«

      »Was machen Sie in Arizona?«

      »Die Sehenswürdigkeiten besuchen. Wirst du mir deinen Namen verraten?«

      Er blickte geradeaus. »Tocho. Und das hier …«, er tätschelte den Hals des Pferdes, »… das ist Trigger.«

      »Woher kommst du, Tocho?«

      »Stellen alle britischen Ladys so viele Fragen?«

      Tocho schien nicht in Stimmung für einen Plausch zu sein. Sarah ließ ihn in Ruhe, richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Landschaft, die sich ringsum erstreckte. Dieser Ort, mit seinen roten Sandsteinmonolithen und Tafelbergen, die sich aus der trockenen Erde erhoben, hatte etwas Ehrwürdiges an sich. Die Felsformationen, von ewigem Wind geformt und von hohen Anteilen von Eisenoxid gefärbt, überragten die Menschen, lehrten sie Demut. Sarah stellte sich vor, wie sich die ersten Bewohner, Einwanderer aus Ländern voll Eis und Schnee, gefühlt haben mochten, als sie diesen gewaltigen Gebilden vor tausenden von Jahren zum ersten Mal begegneten. Auf sie mussten sie wie Götter gewirkt haben, beeindruckende Steingottheiten, die ein Schicksal verbessern oder zerstören konnten, je nach Laune.

      Sie ritten um eine Biegung auf eine Ansammlung roter Findlinge zu. Aneinandergedrängt wie Flüchtlinge erröteten


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