Der Löwe von Flandern. Hendrik Conscience
nach damit beschäftigt, ein Lied oder einen Spruch auswendig zu lernen, den ihr Adolf vorsprach; denn von Zeit zu Zeit riefen die verwunderten Edelfrauen: „Wie schön er das sagt! Was ist doch Herr van Nieuwland für ein kluger Minnesänger.“
So erreichten sie endlich Wijnendaal. Der ganze Zug ritt ins Schloß. Hinter ihm zog man die Brücke nicht auf, und auch das Fallgatter wurde nicht herabgelassen.
Einige Augenblicke später verließen die französischen Ritter in voller Rüstung die Burg. Als sie über die Brücke ritten, sagte Châtillon zu seinem Bruder: „Du weißt, daß ich heut' abend die Ehre unserer Nichte verteidigen muß, und ich rechne damit, daß Du mein Sekundant sein wirst.“
„Geht's etwa gegen den kühnen Robrecht van Bethune?“ fragte Saint-Pol. „Ich weiß nicht, mich dünkt, Du wirst schlecht dabei wegkommen; denn der Löwe von Flandern ist kein Kätzchen, das man ohne Handschuhe anfassen kann. Das sollte Dir auch bekannt sein!“
„Was geht's mich an!“ unterbrach ihn Châtillon zornig. „Ein Ritter vertraut seiner Geschicklichkeit und seinem Mut und nicht roher Körperkraft!“
„Du hast recht, Bruder, ein Ritter darf vor keinem Feind weichen, aber er soll sich auch nicht unbesonnen einer Gefahr aussetzen. Ich hätte an Eurer Stelle den finsteren Robrecht reden lassen, soviel er wollte. Was kümmern Dich seine Worte, wo er ja doch unser Gefangener ist.“
„Schweig, Saint-Pol, solche Reden stehen einem Ritter nicht wohl an! Fehlt es Dir etwa an Mut?“
Als sie diese Worte wechselten, verschwanden sie mit den anderen Rittern zwischen den Bäumen des Waldes.
Jetzt ließen die Waffenknechte das Fallgatter herab, zogen die Brücke auf und waren nicht mehr zu sehen.
III.
Der befreundete Ritter oder der bedürftige Minnesänger, dem sich das gastliche Tor des Schlosses Wijnendaal geöffnet hatte, befand sich zuerst auf einem kleinen, viereckigen freien Platz. Ihm zur Rechten lagen die Stallungen, in denen wohl hundert Pferde ohne jede Schwierigkeit untergebracht werden konnten; davor lagen die Dunghaufen, auf denen zahllose Enten und Tauben herumliefen. Zu seiner Linken lag ein Gebäude, das die Wohnungen der Waffenknechte und Troßknappen enthielt. Weiter hinten standen die Belagerungsgeschütze für Zeiten des Krieges. Da waren große Rammen und Sturmböcke mit ihren Stützbalken und Wagen, dann Wurfmaschinen, die Geschosse in die belagerte Stadt schleudern sollten, und auch solche, mit denen man große Steine gegen die feindlichen Tore oder Wälle senden konnte.
Endlich waren dort noch allerlei Sturmbrücken, Fußangeln, Feuertonnen und unzählige andere Kriegswerkzeuge aufgestellt.
Dicht vor den ankommenden Reisigen erhob sich der stattliche gräfliche Palast mit seinen Türmen über die niederen Gebäude, die ihn umringten. Eine steinerne Treppe, an deren Fuß zwei schwarze Löwen ruhten, führte zum ersten Stockwerk hinauf und in eine lange Flucht viereckiger Säle. In vielen stand ein Bett für den jeweiligen Gast, während andere mit den alten Waffenrüstungen verstorbener Grafen oder mit eroberten Bannern und Standarten geschmückt waren.
Auf der rechten Seite, in einer Ecke des Gebäudes, lag ein kleiner Saal, der sich von den übrigen in allem unterschied. Seine Wandbekleidung zeigte die ganze Geschichte der Kreuzzüge in lebensgroßen Bildern.
Auf dem einen Bild stand Gwijde, von Kopf zu Fuß mit einer eisernen Rüstung bedeckt, und hielt den Rittern, die ihn umgaben, das Kreuz entgegen[12].
Im Hintergrunde waren mehrere Kriegsknechte, die sich schon auf den Weg gemacht hatten. Das nächste Bild stellte die Schlacht von Massura dar; hier hatten die Christen 1250 den Sieg errungen. Der heilige Ludwig, König von Frankreich, und Graf Gwijde waren unter den anderen durch ihre Banner kenntlich. Das dritte Bild zeigte ein grausiges Schauspiel. Viele christliche Ritter lagen pestkrank, mit dem Tode ringend, in einer öden Steppe zwischen schrecklichen Leichen und Pferdekadavern. Schwarze Raben kreisten über dieser Unglücksstätte und warteten auf den Tod eines Ritters, um dann sein Fleisch fressen zu können.
Das vierte Bild stellte die glückliche Rückkehr des Grafen von Flandern dar. Seine erste Gemahlin, Fogaats van Bethune, lag weinend an seiner Brust, und seine Söhne Robrecht und Balduin drückten mit inniger Liebe seine Hände. Das war das letzte Gemälde.
Vor dem Marmorkamin, in dem ein kleines Feuer brannte, saß der alte Graf von Flandern in einem mächtigen Armstuhl. Das gedankenschwere Haupt hatte er auf seine rechte Hand gestützt. Unbewußt blickte er auf seinen Sohn Wilhelm, der emsig aus einem Buch mit silbernem Schloß Gebete las. Machteld, die junge Tochter von Robrecht van Bethune, stand mit ihrem Falken auf der anderen Seite des Raumes. Sie streichelte den Vogel, ohne auf den alten Gwijde und seinen Sohn zu achten. Während der Graf mit tiefem Schmerz an seine überstandenen Leiden dachte und Wilhelm die himmlische Gnade anflehte, spielte Machteld mit ihrem geliebten Falken und dachte gar nicht daran, daß das Erbe ihres Vaters von den Franzosen erobert war. Und dennoch war die kindliche Maid nicht gefühllos; aber ihre Trauer dauerte selten länger als der unglückliche Vorfall selbst, der sie erschütterte. Als man ihr gesagt hatte, daß alle Städte Flanderns vom Feinde erobert wären, brach sie in eine Flut von Tränen aus und weinte bitterlich; aber schon am Abend desselben Tages wurde der Falke von neuem geliebkost, und die Tränen waren getrocknet und vergessen.
Nachdem Gwijde lange seinen Sohn unsicher angestarrt hatte, ließ er plötzlich die Hand, die sein Haupt stützte, sinken und fragte:
„Wilhelm, um was flehst Du Gott so eifrig an?“
„Ich bete für meine arme Schwester Philippa,“ gab der Jüngling zur Antwort. „Weiß Gott, vielleicht hat Königin Johanna sie schon ins Grab gestoßen; aber dann gelten meine Gebete ihrem Seelenheil!“
Bei diesen Worten beugte er sein Haupt tief, als wollte er die beiden Tränen verbergen, die ihm über die Wange liefen.
Der alte Vater seufzte tief. Er ahnte, daß die düstere Prophezeiung Wilhelms sich verwirklichen konnte; denn Johanna von Navarra war eine boshafte Frau. Doch ließ er seine Trostlosigkeit nicht merken und sagte:
„Wilhelm, man darf sich nicht mit düsteren Vorahnungen betrüben. Die Hoffnung ist den irdischen Sterblichen als Trost gegeben. Und weshalb solltest Du auch nicht hoffen? Seit der Gefangenschaft Deiner Schwester grämst Du Dich und siechst hin, und nicht ein einziges Lächeln hat seither Dein Antlitz erhellt. Es ist recht, daß Du das Schicksal Deiner Schwester nicht gefühllos mit ansiehst; aber reiße Dich um Gottes willen aus Deiner düsteren Verzweiflung empor!“
„Du sprichst von einem Lächeln, Vater? Lächeln sollte ich, derweil meine arme Schwester im Kerker schmachtet? Nein, das kann ich nicht. Einsam rinnen ihre Tränen auf den kalten Boden ihres Gefängnisses. Dem Himmel klagt sie ihr Unglück, sie ruft Dich, mein Vater! Sie ruft uns alle, denn wir sollen ihr Labsal bringen. Und wer gibt ihr Antwort? Das grausige Echo der unterirdischen Gewölbe des Louvre. Seht Ihr sie nicht, wie sie totenbleich, schwach und welk wie eine hinsterbende Blume ihre Arme Gott entgegenstreckt. Hört Ihr nicht, wie sie ruft: „O mein Vater, meine Brüder, erlöst mich, ich schmachte in Ketten.“ Das sieht und hört mein Herz. – Das fühlt meine Seele! – Und da sollte ich lächeln?“
Machteld, die nur einen Teil dieser schmerzlichen Worte mit angehört hatte, setzte ihren Falken hastig auf die Lehne eines Sessels und fiel ungestüm weinend und heftig schluchzend ihrem Großvater zu Füßen. Sie lehnte ihr Haupt auf seinen Schoß und rief: „Ist meine geliebte Muhme tot? O Gott, welch' Unglück! Ist sie wirklich tot? Werde ich sie niemals wiedersehen?“ Der Graf hob sie zärtlich auf und sprach voll Güte zu ihr: „Sei ruhig, meine liebe Machteld, weine nicht, Philippa ist nicht tot.“
„Nicht tot?“ fragte die Maid erstaunt. „Aber weshalb sprach denn Herr Wilhelm vom Sterben?“
„Du hast ihn nicht richtig verstanden,“ antwortete der Graf. „Philippas Lage ist unverändert