MATTHEW CORBETT und die Königin der Verdammten (Band 2). Robert Mccammon
an, mit dem ein Teil des Sammelsuriums abgedeckt war, und entdeckte darunter eine Zielscheibe fürs Bogenschießen. Das Ding bestand aus mit Heu gefülltem Sackleinen und war voller Löcher. Hier und da quoll Heu aus den Öffnungen. Er riss eines der Löcher größer auf, steckte das Notizbuch in die Zielscheibe und hängte das Segeltuch wieder darüber. In einer Ecke machte er eine Entdeckung: Neben einer Schaufel und einer Axt stand ein Degen, dessen Griff aus Elfenbein gefertigt zu sein schien. Eine Scheide fehlte. Die Klinge war mit Rostflecken übersät. Matthew fragte sich zwar, wie der Degen und die Zielscheibe hier gelandet waren, doch er hatte anderes als Grübeln zu tun. Mit der Tasche in der Hand verließ er das Milchhaus.
Er brauchte fast zwanzig Minuten und war über eine Meile weit gegangen, bis er Berry Grigsby fand. Sie war auf der Queen Street am Getümmel und Lärm der Werften vorbei nach Norden gegangen, bis sie einen Pier gefunden hatte, der ihr gefiel. Ausladende Bäume spendeten Schatten und der Fluss umspülte hausgroße Findlinge, die von der Hand Gottes im Wasser platziert worden waren. Sie saß vielleicht zwanzig Meter vom Ufer entfernt ganz am Ende des Piers, ihren Strohhut auf dem Kopf und einen Block Zeichenpapier auf dem Schoß. Ihr Kleid sah aus, als sei es aus den pfirsich- und lavendelfarbenen, hellblauen und zitronengelben Stoffproben eines Dutzend augenverletzender Kostüme zusammengestückelt worden. Matthew war sich nicht sicher, ob er im Begriff war, mit einem Mädchen oder einer Obstschale zu reden.
Er biss sich auf die Lippe und rief: »Zum Gruße!«
Berry warf einen Blick in seine Richtung, winkte und fuhr mit dem Zeichnen fort. Sie schien sich auf die Aussicht auf eine grüne, hügelige Wiese auf der anderen Flussseite zu konzentrieren. Möwen glitten im Sinkflug über das Wasser und folgten den weißen Segeln eines kleinen Bootes auf dem Weg nach Süden.
»Darf ich zu Euch hinauskommen?«, rief Matthew.
»Wenn Ihr wollt«, gab sie zurück, ohne beim Malen innezuhalten.
Matthew hatte den Eindruck, dass es ein aussichtsloses Unterfangen war, ging aber trotzdem den Pier hinunter. Schon nach drei Schritten merkte er, dass Berry sich einen Steg ausgesucht hatte, den bereits der erste Trapper, der in New Amsterdam je einem Biber das Fell abgezogen hatte, benutzt haben musste. Der Pier war von so vielen längst vergessenen Booten malträtiert worden, dass zwischen den verwitterten Planken große Löcher klafften. Er blieb stehen. Ein falscher Schritt oder das Brechen einer wurmstichigen Planke unter seinen Füßen würde ihm zu einem Bad und einer gründlichen Kleiderwäsche verhelfen. Dann merkte er, dass sie ihn ansah, und wusste, dass er den Rest der Strecke zurücklegen musste. Außerdem hatte das Mädchen es ja auch bis ans Ende geschafft. Aber warum, zum Teufel, hatte sie sich von all den Anlegestellen ausgerechnet dieses alte Wrack ausgesucht?
Er ging weiter. Jedes Knarren und Ächzen jagte ihm einen Schauder über den Rücken. An einer Stelle gähnte ein Amboss großes Loch. Sein Blick fiel auf das dunkle Wasser darunter und fast wäre er stehen geblieben und hätte umgedreht – aber inzwischen hatte er bereits mehr als die Hälfte der Strecke zu dem im Schneidersitz sitzenden Mädchen zurückgelegt. Er hatte das Gefühl, dass es hier irgendwie um seine Ehre ging. Oder dass es wie eine Wette war. So oder so umging er das von zersplitterten Planken umgebene Loch vorsichtig und marschierte Schritt um nervösen Schritt voran.
Als er bei Berry angekommen war, musste er ein erleichtertes Seufzen von sich gegeben haben, denn sie kehrte ihm unter dem Strohhut ihr Gesicht zu und er erhaschte einen kurzen Blick auf ein schelmisches Lächeln. »Ein herrlicher Morgen für einen Spaziergang, nicht wahr, Mr. Corbett?«
»Sehr belebend.« Seine Achselhöhlen fühlten sich feucht an.
Sie wandte sich wieder ihrer Zeichnung zu und Matthew sah, dass sie eine sehr hübsche Weide- und Hügelszene zeichnete.
Neben ihr lag eine offene kleine Schachtel mit einer Kollektion von verschiedenfarbigen Malkreiden. »Ich glaube, ich habe sie noch nicht so ganz einfangen können«, sagte Berry.
»Was einfangen können?«
»Die Seele dieses Ortes«, gab sie zurück. »All diese Energie.«
»Energie?«
»Diese Naturgewalten. Hier, das ist fertig.« Sie blätterte das oberste Papier nach hinten, um ihm die Zeichnung darunter zu zeigen. Matthew beschlich das Gefühl, dass ihm sogleich die Augen zu bluten anfangen würden. Die Zeichnung stellte dieselbe Szene in blendendem Smaragdgrün, blassem Grasgrün, gelben Streifen und feurigen orangefarbenen und roten Flecken dar. Ihn erinnerte das Bild mehr an das Innere eines Schmiedeofens als an eine sonnige Weidelandschaft. Es war ein Kriegsverbrechen an Mutter Natur, dachte er, als er über den Fluss spähte, um zu sehen, ob er das entdecken konnte, was sie sah. Natürlich tat er das nicht. Er fragte sich, was die braven, hexenfürchtigen Einwohner von Fount Royal von diesem Bild und seiner Malerin gehalten hätten. Dem Himmel sei Dank, dass schlechter künstlerischer Geschmack kein Zeichen für Teufelsbesessenheit war, denn sonst hätte man Berry an ihren blauen Stümpfen aufgehängt. Das würde ich niemandem zeigen, hätte er fast gesagt, biss sich aber so stark auf die Zunge, dass sie beinahe blutete.
»Das ist natürlich nur der erste Entwurf«, sagte sie. »Wenn ich es richtig hinbekommen habe, werde ich es auf Leinwand malen.«
Er musste etwas dazu sagen. »Aber wisst Ihr, ich kann da drüben weder Rot noch Orange entdecken. Nur Grün. Ach so – war das die aufgehende Sonne?«
Sie ließ die neueste Skizze auf das Blatt darunter fallen, als wollte sie damit sagen, dass er nicht intelligent genug war, es sich anzusehen. »Ich versuche nicht, das wiederzugeben, was zu sehen ist, Mr. Corbett«, sagte sie mit frostiger Stimme. »Ich versuche, das Wesentliche eines Ortes auszudrücken. Ihr seht weder Rot noch Orange – meine Interpretation der schöpferischen Hitze der Erde –, weil Ihr nur auf die Wiese schaut.«
»Ja«, stimmte er ihr zu. »Das ist es, was ich sehe. Eine Wiese. Gibt es da noch etwas zu sehen, das mir entgeht?«
»Nur das Element, das unter der Wiese zugange ist. Das Auflodern des Lebens und Feuers im Herzen der Erde. Fast wie … ja, ein Feuer, auf dem man kocht, würde ich sagen. Oder …«
»Ein Schmiedeofen?«
»Aha!« Berry lächelte zu ihm empor. »Jetzt habt Ihr es erfasst.«
Matthew dachte sich, dass sie Ausdrücke wie Herz der Erde nur in den Mund nehmen sollte, wenn sie geteert und gefedert aus der Stadt zum Tollhaus gejagt werden wollte, aber seine Manieren verboten es ihm, den Gedanken auszusprechen. »Das ist wohl, wie man heutzutage in London malt?«, fragte er.
»Um Himmels willen, nein! Dort sind die Leinwände so grau und trübselig, dass man meint, die Künstler waschen ihre Pinsel mit ihren Tränen aus. Und die Portraits! Warum die Menschen sich nur als affige Arschzusammenkneifer für die Nachwelt festhalten lassen? Und die Frauen noch viel mehr als die Männer!«
Matthew musste sich auf diesen skandalösen Ausbruch hin erst einmal sammeln. »Vielleicht«, sagte er schließlich, »weil sie affige Arschzusammenkneifer sind?«
Berry sah zu ihm hoch und gestattete der Sonne diesmal, ihr ins Gesicht zu scheinen. Ihre blauen Augen, so klar und schneidend wie Diamanten, musterten ihn ein paar Sekunden lang mit echtem Interesse. Dann senkte sie den Kopf und ihr Bleistift kratzte weiter über das Papier.
Matthew räusperte sich. »Darf ich fragen, wieso Ihr Euch ausgerechnet für diesen Pier entschieden habt? Ich habe das Gefühl, dass er jeden Moment zusammenbrechen kann.«
»Das kann sein«, stimmte sie ihm zu. »Ich hätte nicht gedacht, dass jemand dumm genug sein könnte, sich hier drauf zu wagen und mich bei der Arbeit zu stören.«
»Entschuldigt die Störung.« Er verbeugte sich leicht. »Ich werde Euch jetzt dem Schmiedefeuer überlassen.«
Er hatte sich gerade umgedreht, um über den wackeligen Steg zurück an Land zu gehen, als Berry mit ruhiger, sachlicher Stimme sagte: »Ich weiß, worum mein Großvater Euch gebeten hat. Ich meine, er weiß nicht, dass ich es weiß, aber er gibt nichts auf meine … sagen wir Wahrnehmung. Er will, dass Ihr mich bewacht, stimmt’s? Dass Ihr verhindert, dass