Der Landdoktor Staffel 2 – Arztroman. Christine von Bergen
Oma«, widersprach sie in eindringlichem Ton. »Ich will nicht mehr im Hotel arbeiten. Ich brauche die Natur, die Tiere um mich herum. Wir müssen die Pension retten. Das bedeutet Renovieren. Das wiederum bedeutet, dass wir Geld brauchen. Wir könnten den Wald verkaufen und …«
Da hob Oma Winter die Hand. »Kommt nicht infrage. Der Wald war für deinen Großvater sein Ein und Alles. Er würde sich im Grab rumdrehen.«
»Gut.« Ihre Enkelin rieb sich die Stirn. »Dann werde ich mir etwas anderes einfallen lassen müssen. Ich gebe jedenfalls nicht auf. Jetzt erst recht nicht.«
*
Am liebsten hätte Julia umgehend Leon angerufen und ihm von Ludger Pfeifer erzählt. Um diese Zeit musste er inzwischen in Düsseldorf angekommen sein. Doch das Wissen um seinen kranken Vater hielt sie zurück. Er musste jetzt erst einmal für seine Mutter da sein. Sie durfte ihn in dieser Situation nicht mit ihren eigenen Problemen belasten.
Während sie durch den Garten ging, der nicht nur den Duft vielfältiger Blüten versprühte, sondern mit seinem Wildwuchs auch einen ganz besonderen Charme, arbeitete ihr Gehirn fieberhaft. Sie musste etwas tun. Schließlich beschloss sie, sich umzuziehen, zur Bank zu fahren und dort noch einmal wegen eines Kredits nachzufragen. Seit einigen Wochen hatte der Leiter gewechselt. Ein ehemaliger Schulkamerad von ihr stand der Filiale jetzt vor. Vielleicht würde sie bei ihm ja mehr Glück haben als bei dessen stets schlecht gelauntem Vorgänger.
*
»Du siehst super aus«, begrüßte Benno Hartmann sie, der inzwischen verheiratet und Vater zweier Kinder war. »Aber wen wundert’s? Schon früher warst du das schönste Madel auf der Schule.«
Julia lachte. »Jetzt übertreibe aber nicht«, wehrte sie errötend ab. »Wie geht es deiner Familie?«, wechselte sie schnell das Thema, woraufhin ihr Benno begeistert von seinen Kleinen erzählte. Dann legte er die Ellbogen auf den Schreibtisch und beugte sich nach vorn. »Was kann ich denn für dich tun?«
»Das, was dein Vorgänger nicht tun wollte«, antwortete Julia prompt. Dabei lächelte sie wehmütig.
Benno hob die blonden Brauen.
Er schien sich auf ihre Antwort keinen Reim machen zu können. Da er schon seit einigen Jahren auswärts wohnte, wusste er vielleicht auch nicht über die Situation der Pension Bescheid.
»Also, Benno«, begann sie deshalb mit eindringlichem Blick. »Du bist meine letzte Hoffnung. Ich brauche zur Renovierung der Pension einen Kredit.«
Nachdem sie ihm die Lage beschrieben und er alle Unterlagen gesichtet hatte, sah er sie mit bekümmerter Miene an. Und wieder nahm das Gespräch den Verlauf, den sie schon kannte: Sie verfügte über keinerlei Sicherheiten für die benötigte Investitionshöhe.
»Wenn ihr der Bank den Wald als Sicherheit geben würdet …«, räumte Benno mit hoffnungsvollem Lächeln ein.
»Geht nicht. Oma wehrt sich mit Händen und Füßen dagegen.«
Immer wieder blätterte Benno die Unterlagen durch, die sie ihm zusammengestellt hatte. Und immer wieder schüttelte er den Kopf.
»Und einen kleineren Kredit?«, fragte sie leise.
Es war ganz und gar nicht ihre Art zu betteln, aber sie sah keinen anderen Ausweg mehr, als ihren Stolz zu überwinden. »Wir müssten ja nicht sofort alle Zimmer renovieren«, räumte sie ein.
»Das Fundament ist feucht, Julia«, erwiderte Benno. »Allein diese Sanierung kostet schon eine schöne Summe. Wenn ihr wenigstens monatlich laufende Einnahmen hättet oder einen Bürgen …«
»Haben wir aber nicht.« Sie seufzte. »Es ist ein Teufelskreis.«
Ihr ehemaliger Schulkamerad versprach ihr, noch einmal mit seinem obersten Chef zu reden. Sie solle sich jedoch keine zu großen Hoffnungen machen.
Mit dieser Information verließ Julia die Bank.
*
Hohe Tannen säumten die Straße, die zur Pension Winter führte. Sie spendeten Schatten und verströmten den würzigen Geruch von Harz. Der Duft des Waldes mischte sich mit dem staubigen der Sommerhitze, die den Asphalt flimmern ließ. Stille und Geruhsamkeit der Mittagsstunde umfingen die junge Frau. Als Julia an einem der Schwarzwaldhöfe vorbeifuhr, winkte die Bäuerin ihr zu. Ein bunter Hahn rannte gerade einer gackernde Henne nach, und in der Sonne spielten zwei kleine Katzen. Eine Welt voller Harmonie und Eintracht. Heimat, dachte sie. Das ist meine Heimat. Bei dem Gedanken daran, dass sie vielleicht schon bald dieser Idylle Lebewohl sagen musste, traten ihr die Tränen in die Augen. Sie kullerten ihr die Wangen hinunter, benässten ihre weiße Bluse. Ein paar Augenblicke lang nahm sie diese tiefe Traurigkeit gänzlich gefangen. Doch dann bäumte sich ihr Wille wieder in ihr auf. Nein, sie würde kämpfen bis zum Letzten. Vielleicht würde sie dabei ja auch unverhoffte Hilfe von außen bekommen. Vielleicht würde ja doch einer der Reiseveranstalter ein Plätzchen in seinem Katalog für die kleine Pension Winter finden, die durch so leckeres Essen und so viel Herzlichkeit punkten konnte.
*
Als Julia auf dem Hof anhielt, saß ihre Großmutter auf der Bank neben der Haustür. Mit hängenden Schultern, die Hände im Schoß gefaltet. Hilde sah Julia entgegen. Nicht gerade erfreut.
»Die Arbeit, unsere Pension anzubieten, hättest du dir sparen können.« Mit diesen Worten empfing sie ihre Enkelin.
Julia ließ sich neben sie auf die Bank sinken.
»Als hätten sich die Reiseveranstalter abgesprochen, haben während deiner Abwesenheit alle nacheinander binnen zwei Stunden angerufen und uns eine Absage erteilt.«
»Ich habe eigentlich auch nichts anderes erwartet«, gab Julia leise zu. »Ich habe zwar noch auf ein Wunder gehofft, aber die gibt’s halt nicht im wahren Leben.«
»Was hat denn das Gespräch auf der Bank ergeben?«, fragte Oma Winter in mattem Ton nach.
»Ebenfalls kein Wunder.« Julia gab ihr die Unterhaltung mit Benno Hartmann wieder. Sie seufzte. »Willst du nicht doch noch einmal über den Verkauf des Waldes nachdenken?«
»Nein.« Ihre Großmutter richtete sich auf. »Der Wald soll auch für deinen Vater erhalten bleiben. So hat es Opa gewollt. Vielleicht kommt er ja doch aus Australien zurück. Dann kann er die Holzwirtschaft weiterführen. Er ist immerhin erst Ende vierzig und besitzt nicht das Geld, sich schon zur Ruhe setzen zu können.«
Julia schluckte.
In gewisser Weise musste sie ihrer Großmutter recht geben. Sie wusste, dass ihre Eltern schon oft mit dem Gedanken gespielt hatten, nach Ruhweiler zurückzukommen. Nur der Stolz ihres Vaters stand dieser Rückkehr noch im Wege. Es fiel ihm schwer, die Prophezeiungen einiger Leute aus dem Tal zu bestätigen, er würde in der Ferne nichts auf die Beine bringen.
Julia seufzte schwer.
»Hat Leon schon angerufen?«, fragte sie dann.
Hilde verneinte. »Wahrscheinlich wird er sich erst heute Abend melden. Schließlich war er lange Zeit von zu Hause weg und wird viel zu erledigen haben, zumal sein Vater auch noch krank ist.«
Julia nickte mit verständnisvoller Miene, obwohl die Sehnsucht in ihrem Herzen brannte. Sie konnte kaum erwarten, in ein paar Stunden Leons Stimme zu hören, die Versicherung, dass er sie liebte.
Ganz gleich, wie es mit der Pension weitergeht, sagte sie sich. Ich bin nicht mehr allein. Und wenn er wiederkommt, wird uns vielleicht zusammen eine Lösung einfallen.
*
Großmutter und Enkelin blieben noch eine Weile schweigend in der Mittagssonne sitzen. Beide hingen ihren Gedanken nach. Dann wurde ein Geräusch laut. Motorengeräusch. Das kam nicht oft vor hier am Ende der Welt.
Julias Herz begann, schneller zu schlagen. Vielleicht Leon? Blödsinn, rief sie sich innerlich zur Ordnung. Der Gedanke war nur so schön.
»Vera«, sagte ihre Großmutter, als das rote Cabriolet aus dem Wald auftauchte.
Julia lächelte