Der Landdoktor Staffel 2 – Arztroman. Christine von Bergen
Ihre Enkelin nicht. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich um die weich geschwungenen Lippen von Julia Winter ein missbilligender Zug legte. Die junge Frau schwieg, lenkte den Wagen mit ernstem Blick, wie ihm der Rückspiegel verriet, durch den Regen. Schöne Hände besaß sie. Perfekt geformt, elegante und trotzdem feste Hände.
Hilde Winter schwieg eine Weile. Wahrscheinlich verarbeitete sie gerade die Informationen, die er ihr über sich gegeben hatte.
Die Straße führte nun wieder durch ein Waldstück, dessen Fichten der immer noch tosende Wind durch die Luft peitschte.
»Erwarten Sie von unserer Pension nicht zu viel«, meldete sich die ältere Frau wieder zu Wort. »Bei uns ist alles ganz einfach. Das Beste ist die Natur ringsum, das Essen aus regionalen Produkten sowie Ruhe und Frieden.«
»Klingt doch gut«, erwiderte er in aufmunterndem Ton. »Wer kocht denn?«
»Ich«, antwortete sie.
Er lachte. »Überzeugt.«
Dann sah er die Jüngere von der Seite an. »Und was machen Sie?«
»Alles andere«, erwiderte Julia Winter knapp.
»Meine Enkelin ist Hotelfachfrau«, fügte ihre Großmutter hörbar stolz hinzu. »Sie hat ihre Ausbildung als Beste abgeschlossen. In Baden-Baden. Im ersten Hotel am Platz. Ich sage Julia immer, dass sie nicht in eine Pension wie unsere gehört, aber sie …«
»Bitte, Oma.« Julias weiche Stimme klang leicht genervt.
»Es stimmt doch, mein Schatz.« Dann drehte sich Hilde Winter wieder zu ihm um und fuhr fort: »Ich rechne es ihr hoch an, dass sie bei mir bleibt. Sie müssen nämlich wissen, dass meine Eltern die Pension gegründet haben. Ich habe sie mit meinem Mann weitergeführt, und nach seinem Tod war ich dann allein für sie verantwortlich, bis Julia sich entschlossen hat, mir zur Seite zu stehen.«
»Oma, ich bin mir nicht sicher, ob Herrn Schubert unsere Familiengeschichte interessiert«, warf Julia nun in energisch klingendem Ton ein.
»Und wie«, widersprach er ihr sofort. »Ich liebe Geschichten.«
»Dort hinten liegt unsere Pension«, sagte Hilde Winter und zeigte auf das kleine Schwarzwaldhaus, das sich unter den dunklen Wolken duckte. »Ihren Wagen können Sie heute ruhig am Wegesrand stehen lassen. Den stiehlt niemand. Hier bei uns ist die Welt noch in Ordnung«, versicherte sie ihm im Brustton der Überzeugung, was ihm prompt ein schlechtes Gewissen machte.
*
Während des munteren Geplauders ihrer Großmutter mit dem neuen Gast jagte in Julias Kopf ein Gedanke den anderen. Aber nicht nur das. In ihrem Herzen meldeten sich überdies die widersprüchlichsten Gefühle. Sie wusste nur eines: Leon Schubert war ihr höchst unwillkommen.
Danke, meine liebe Vera, schoss es ihr durch den Kopf, während Unmut gegen ihre beste Freundin, die Inhaberin des Friseursalons in Ruhweiler, in ihr aufstieg. Hatte Vera denn überhaupt kein Auge dafür, dass dieser Typ nicht in ihre Unterkunft passte? Wenn schon die ehemaligen, inzwischen älteren Stammgäste ausblieben, weil sie sich mehr Luxus wünschten, war dieser gut aussehende Sportwagenfahrer bei ihnen doch völlig fehl am Platz. Sie sah ihn eher in einem Hotel wie dem Traditionshotel Wiesler oder einem der modernen Hotelkomplexe mit Pool, Fitnessstudio, Sauna und Bar, wie es sie in den größeren Orten gab. Dass er im Schwarzwald Urlaub machen wollte, verwunderte sie ohnehin. Er passte viel eher nach Ibiza oder an die Côte d’´Azur, wo die Reichen und Schönen ihre Ferien verbrachten. Eines wusste sie jetzt schon: Spätestens ab morgen würde er sich langweilen und aus Unzufriedenheit übermorgen abreisen, was wiederum eine schlechte Werbung für ihre Pension bedeutete. Gut, sie würde ihm das beste Zimmer von allen geben. Das einzige, das über eine Dusche aus den siebziger Jahren und eine Toilette verfügte. Ihren Fernseher würde sie ihm auch zur Verfügung stellen. Auch ihren Internetstick, damit er im weltweiten Netz surfen konnte. Dass sich in seinem Koffer, der noch in seinem Sportwagen war, ein schicker Laptop befand, darauf hätte sie gewettet. Aber selbst dieser Service würde nicht über all die Unzulänglichkeiten des alten Schwarzwaldhauses hinwegtäuschen.
Und dann war da noch etwas, was sie störte: Leon Schubert versetzte sie in Unruhe. Nicht etwa als Pensionswirtin, nein, als Frau. Er besaß eine Ausstrahlung, die auf sie nicht ohne Wirkung blieb. Damit meinte sie nicht, dass er den Eindruck eines Siegers machte, eines Menschen, der auf der Sonnenseite des Lebens stand, ein Erfolgsmensch, wozu sie seinen Erfolg bei Frauen natürlich gleich mitzählte. All das hätte sie eher als unsympathisch empfunden, wenn da nicht seine Augen gewesen wären. Sie strahlten Wärme aus, eine positive Kraft und Intelligenz. Er trat ganz natürlich auf, hatte Humor. Testfahrer für Rennwagen? Passte das zu ihm? Nach eigener Aussage liebte er Risiken. Und sie? Sie dagegen liebte die Sicherheit, Ruhe, Harmonie und den Frieden.
»So, wir sind da«, hörte sie ihre Großmutter in ihre Gedanken hinein sagen. »Erschrecken Sie nicht. Im Regen sind alle Katzen grau«, fügte Hilde in ihrer burschikosen Art hinzu.
Julia räusperte sich. Sie hielt vor dem Stall an, an dessen Holzplatten der Wind zerrte. Die Geranien vor den niedrigen Fenstern sahen wie gerupft aus. Einer der Gartenstühle war umgekippt und ein Fensterladen hatte sich gelöst.
Einen besseren Eindruck könnte unsere Pension gar nicht vermitteln, sagte sie sich voller Ironie.
»Laufen Sie schon mal zum Haus«, rief ihre Großmutter Leon Schubert zu. »Julia und ich holen noch die Taschen aus dem Kofferraum.«
Ohne darauf etwas zu erwidern, stieg Leon Schubert aus, öffnete die Heckklappe des Jeeps, nahm die Tüten mit den neuen Vorhängen heraus, ließ den Regenschirm aufschnappen, der dort lag, und begleitete ihre Großmutter zur Tür.
Gute Manieren hatte er also, musste sich Julia eingestehen, ein wenig wider Willen. Noch mehr erstaunte sie jedoch, dass er mit dem Schirm wieder flugs zurückkam. »Hier, gehen Sie rein. Haben Sie einen Hammer und Nägel?«
Mit eingezogenem Kopf, als könnte er sich so besser vor dem peitschenden Regen schützen, zeigte er auf den losen Laden, die der Wind hin und her warf.
Sprachlos darüber, dass er sich als so hilfsbereit zeigte, nickte sie nur und zeigte auf den Stall. Dann lief sie los, um das Gewünschte zu holen. Als sie mit dem Werkzeug wiederkam, hatte der Sturm Leon Schubert inzwischen den Schirm aus der Hand geschlagen und ließ diesen wie einen Kreisel auf dem Pflaster tanzen. Triefend nass sah Leon dem Spiel zu und lachte.
»O Mann!«, rief er ihr zu. »Das nenne ich einen stürmischen Empfang.«
»So ist es manchmal bei uns. Stürmisch, wild und rau.«
Ein eindringlicher, ja ernster Blick aus diesen dunklen Männeraugen, dann folgte eine Antwort mit einer Stimme, die ihr unter die Haut ging: »Ich liebe die Natur. Auch genauso, wie sie jetzt ist. Stürmisch, wild und rau.«
So viel Leidenschaft schwang in seiner Stimme mit, so viel Feuer loderte in seinen Augen, so viel Spannkraft lag in seiner Haltung. Sollte sie sich in ihm getäuscht haben? War er weiter von dieser Glamourwelt der Rennställe entfernt, als sie annahm? Vielleicht.
»Ziehen Sie sich was Trockenes an, ich mach das hier«, sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ.
Obwohl sie sich sonst nur ungern etwas vorschreiben ließ, war sie ihm in dieser Situation dankbar. Endlich einmal ein Mann, der anpackte. Und gerade von ihm hätte sie es nie erwartet.
»Sie sind auch völlig durchnässt«, sagte sie trotzdem noch.
»Haben Sie etwas zum Wechseln für mich? Vielleicht so einen hübschen Overall, wie Sie anhaben? Mein Koffer ist ja im Wagen.«
Das amüsierte Funkeln in seinen Augen ärgerte sie. Sie schluckte.
»Klar«, konterte sie dann. »Auch einen Schlabberpulli und Schafswollsocken. Natürlich alles im gleichen Farbton, damit es auch geschmackvoll aussieht.«
Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging hoch erhobenen Hauptes und betont langsam ins Haus.
Blödmann. Sollte sie hier etwa High Heels und ein kurzes Röckchen