Dr. Brinkmeier Staffel 2 – Arztroman. Sissi Merz
hatte sich zu dem Kind gesetzt und redete behutsam mit der Kleinen, die gleich ein wenig zutraulich wurde. Da der Landarzt das Mädchen in guten Händen wußte, folgte er der Schwester auf den Gang, wo diese erzählte: »Melanie ist ein schwieriger Fall. Ihre Mutter hat sich vor einer Weile das Leben genommen. Es gibt keine Verwandten, die das Kind hätten aufnehmen können. Als sie herkam, war sie völlig verschüchtert und voller Angst. Wir haben uns bemüht, ihr zu helfen, aber natürlich wird aus einem sensiblen Kind kein Raufbold. Sie hat Schwierigkeiten, sich einzuleben und Freunde zu finden.«
»Wollen Sie damit sagen, daß die anderen Kinder sie hänseln?«
»Ich glaube schon. Melanie sagt mir nichts, sie ist sehr verschlossen. Vielleicht traut sie sich auch nicht. Aber sie hatte in letzter Zeit öfter blaue Flecken. Und ich glaube, ihre Verletzung jetzt stammt sozusagen aus der gleichen Quelle. Vielleicht gelingt es Ihnen oder Frau Stadler ja, etwas zu erfahren. Ich würde Melanie gerne helfen, verstehen Sie?«
»Sicher. Ich will versuchen, mit ihr darüber zu reden.«
Als Max wieder ins Behandlungszimmer kam, saß Melanie auf Anna Stadlers Schoß und ließ sich eine Geschichte vorlesen. Der junge Arzt betrachtete das schöne Bild einen Moment lang fasziniert, dann untersuchte er behutsam Melanies Handgelenk.
»Es ist nur leicht gezerrt, das heilt bald wieder«, stellte er freundlich fest. »Wir machen dir einen elastischen Verband. Aber du mußt deine Hand eine Weile schonen. Versprichst du mir das?«
»Ja, mache ich«, kam es leise von der Kleinen.
»Melanie hat mir erzählt, daß der Bösbär sie festhalten wollte. Da hat sie sich die Hand verletzt«, merkte Anna an. »Nicht wahr, Schätzchen, so ist es doch gewesen?«
Das Kind nickte. »Der Bösbär ist immer gemein zu mir. Er hält mich fest oder schubst mich. Einmal bin ich fast die Treppe runtergefallen. Der ist richtig gemein!«
»Und wie sieht dieser Bösbär aus?« wollte Dr. Brinkmeier wissen. »Ist er größer als du und älter?«
»Ja, er ist riesengroß und ganz gemein!« Melanies Augen füllten sich mit Tränen. »Er kann mich nicht leiden, aber ich habe ihm nie was getan. Das ist unfair, nicht wahr?«
»Ja, das ist es.« Max legte den Verband an, den Melanie mit einem gewissen Stolz betrachtete. Er versprach, in ein paar Tagen wieder nach ihr zu sehen, und verabschiedete sich dann bald. Auf dem Rückweg nach Wildenberg sagte er zu Anna: »Die anderen Kinder mobben die Kleine. Ich glaube, dieser ›Bösbär‹, das ist ein älteres Mädchen, das es besonders auf Melanie abgesehen hat. Die Schwester hat so etwas angedeutet.«
»Die Kleine tut mir leid«, bekannte Anna spontan.
»Willst du mich das nächste Mal wieder begleiten? Ich glaube, Melanie würde sich freuen. Sie hat sofort Zutrauen zu dir gefaßt«, stellte der Mediziner wohlwollend fest.
Anna Stadler schenkte ihm ein Lächeln. »Ich komme gerne mit.«
*
»Der Kaffee ist viel zu dünn. Wie soll man denn da munter werden? Kannst nicht einmal einen gescheiten Kaffee kochen?« Christian Farber musterte seine Frau Monika verärgert. »Es kommt noch soweit, daß ich den Haushalt führen muß. Auf keinen ist Verlaß. Wenn man nicht alles selber macht...«
Die junge Frau seufzte leise. Sie mahnte ihre beiden Kinder, sich zu beeilen. »Der Schulbus kommt bald, trödelt nicht so.«
Der kleine Paul, der in die zweite Klasse ging, erzählte: »Herr
Taschner hat gesagt, nächste Woche machen wir einen Ausflug. Und wir sollen...«
»Ruhe! Wie soll man denn da seine Zeitung lesen?« Christian versetzte dem Jungen eine Backpfeife, der sofort verschüchtert schwieg. Birgit, seine Schwester, warf dem Vater einen trotzigen Blick zu. Monika schüttelte leicht den Kopf, das Mädchen stand auf und rannte aus dem Zimmer. »Du mußt auch gehen, Paul. Sonst kommst du zu spät.«
Monika folgte den Kindern in die Diele und achtete darauf, daß sie ihre Brote mitnahmen. Als sie die neunjährige Birgit drückte, murmelte das Mädchen: »Papa ist immer nur gemein zu uns. Dabei haben wir nix gemacht.« Sie biß sich auf die Lippen und eilte davon. Monika drückte Paul einen Kuß auf die runde Wange. Es brach ihr das Herz, wie der kleine Kerl mit hängenden Schultern aus dem Haus schlich. Die hübsche junge Frau mit dem langen blonden Haar empfand unvermittelt eine schreckliche Wut. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wie es so weit hatte kommen können. Ihr Leben war ein einziges Martyrium. Dabei hatte alles so hoffnungsvoll begonnen...
Gut zehn Jahre war es nun her, daß Monika den strebsamen Bankangestellten Christian Farber geheiratet hatte. Sie stammte aus Berchtesgaden, er war in Wildenberg geboren. Die erste Zeit ihrer Ehe war sehr glücklich gewesen. Christian hatte Monika geliebt und alles getan, um sie zufrieden und froh zu machen. Aber schon damals hatte sich die dunkle Seite seines Charakters manchmal gezeigt. Sein Jähzorn, seine ungerechtfertigten Vorwürfe, Anfälle von grundloser Eifersucht. Nach Birgits Geburt war er wie ausgewechselt gewesen. Und als sie das kleine Haus neben dem Farberhof gekauft hatten, da war Monika für eine kurze Zeit wieder unbeschwert glücklich gewesen.
Die junge Frau hatte sich auf Anhieb mit Christians Bruder Benjamin verstanden, der nun ihr Nachbar war. Der Bauer hatte den elterlichen Hof übernommen. Er war ein warmherziger und offener Mensch. Doch er hatte Monika schon auf der Hochzeit vor seinem Bruder gewarnt. Damals hatte sie seine Worte nicht ernstgenommen. »Christian ist kein schlechter Kerl, aber er kann manchmal wie ausgewechselt sein, das war schon früher so. Wenn er Streit sucht, gehst du ihm am besten aus dem Weg«, hatte er gesagt. Und dann hatte er ihr Dinge erzählt, die sie bis zum heutigen Tag nicht hatte vergessen können.
Zum Beispiel die Geschichte, wie Christian die kleine Katze seines Bruders ertränkt hatte, weil sie mit ihm nichts zu tun haben wollte. Oder der Brand in einem Heuschober, den er gelegt hatte. Und das nur, weil sein Bruder zur Kirchweih mit einem Mädchen getanzt hatte, das auch Christian gut gefiel...
Monika hatte versucht, sich mit den Fehlern ihres Mannes zu arrangieren. Im Grunde ihres Herzens aber wußte sie, daß all ihre Liebe und ihr Verständnis Christian nicht ändern würden. Er hatte Probleme, über die er nicht sprechen wollte. Und sie hatte sich abgewöhnt, daran zu rühren. Als der kleine Paul auf die Welt gekommen war, schien es Christian plötzlich besserzugehen. Er war eine ganze Weile ausgeglichen und liebenswert. Doch auch dieser Zustand war nicht von Dauer gewesen. Und seit die Kinder ein wenig größer waren, konnten sie ihrem Vater nichts mehr recht machen. Ständig hatte Christian schlechte Laune. Dann rutschte ihm die Hand aus. Und es waren nicht nur die Kinder, die das zu spüren bekamen...
»Morgen, Monika, wie geht’s?«
Sie hatte Benjamin gar nicht bemerkt, der eben über den Wirtschaftshof zum Haus ging. Ein wenig entspannte sich ihr blasses Gesicht, sie lächelte und rief: »Alles in Ordnung. Bei dir auch?« Und als er nickte, schloß sie die Haustür.
»Da schau her, flirtest wieder mit meinem Bruder, was?« Ohne daß sie es bemerkt hatte, war Christian in die Diele gekommen. Er griff nach seinem Aktenkoffer und starrte seine Frau drohend an. »Treib es net zu weit. Oder meinst, ich weiß nicht, was da hinter meinem Rücken vorgeht, wenn ich arbeiten muß?«
»Da geht gar nix vor«, erwiderte Monika leise. »Und du bist net der Einzige, der arbeitet. Ich muß hier genauso meine Aufgaben erledigen.«
»Daß ich net lach! Du hockst doch den ganzen Tag nur drüben beim Ben. Erzähl mir nix, ich weiß Bescheid. Aber ich warne dich; wenn ich euch beide mal zusammen erwisch’, dann ist Schluß. Das überlebt keiner von uns!«
»Christian, ich bitte dich, red’ net so!« Sie war noch eine Spur blasser geworden, sprach nun eindringlich zu ihm: »Zwischen deinem Bruder und mir ist nie was gewesen. Ich hab doch dich lieb. Aber du machst es mir auch nicht leicht...«
»Red’ keinen Schmarrn.« Er wandte sich zum Gehen. »Du weißt Bescheid, also halte dich gefälligst dran!«
Nachdem ihr Mann abgefahren war, kehrte Monika in die Küche zurück und räumte den Tisch ab. Plötzlich