Dr. Brinkmeier Staffel 2 – Arztroman. Sissi Merz
hatte er den älteren Bruder stets beneidet, geglaubt, in dessen Schatten zu stehen. Als Max nach dem Studium in die Entwicklungshilfe gegangen war und zehn Jahre lang in Afrika gelebt hatte, war es ganz aus gewesen. Da hatte Lukas ihn nur noch als »Wunderdoktor« verspottet, da waren sie nicht mehr in der Lage gewesen, auch nur ein vernünftiges Wort miteinander zu wechseln.
In der Zwischenzeit hatte sich ihr Verhältnis zueinander einigermaßen normalisiert. Doch Lukas war noch immer unsicher und fiel manchmal in alte Verhaltensweisen zurück. Er konnte sehr eifersüchtig reagieren, es fiel ihm schwer, Vertrauen zu entwickeln. Und daß er über ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein verfügte, würde wohl niemand behaupten wollen. All dies trug dazu bei, daß Tina ein wenig auf Distanz gegangen war. Sie hatte Lukas lieb. Und die Vorstellung, als seine Bäuerin auf den Erbhof zu ziehen, die reizte das patente Madel sehr. Aber sie wollte zunächst sicher sein können, daß ihre Beziehung auch hielt. Denn wenn Tina Lukas ihr Jawort gab, denn sollte es auch wirklich fürs ganze Leben sein...
»Du hast dich also am Riemen gerissen«, vermutete Max und legte seinem Bruder eine Hand auf die Schulter. »Recht so. Denn eins ist dir doch wohl klar: Hier in diesem Haus rechnet bereits jeder fest damit, daß aus dir und der Tina bald ein richtiges Paar wird, mit Trauschein und Hochwürdens Segen...«
Tina, die das gehört hatte, scherzte: »Dann bleibt uns wohl nix anderes übrig, als uns dem Wunsch der Mehrheit zu beugen, gelt, Lukas?«
Der legte einen Arm um ihre Schultern, drückte ihr ein Busserl auf die Schläfe und versicherte: »Wennst ja sagst, bin ich sofort dabei. Von mir aus kann es auf der Stelle losgehen!«
Sie lachte und schmiegte sich an ihn. »Gar so rasch muß es nun auch wieder net sein. Heiraten mag ich nämlich net mit leerem Magen. Und die Afra kocht ausgezeichnet...«
Christel Brenner verabschiedete sich, ließ noch Anna Stadler ins Haus, die gerade hatte klingeln wollen. Und wenig später trudelten auch noch Dr. Peter Brosius und Anni Kaiser ein. Afra, die schon betagte Hauserin im Doktorhaus, wieselte flink herum und freute sich an der vollen Tafel. Max erkundigte sich gleich bei seinem Studienfreund nach dessen Zustand. Dr. Brosius war bei dem Absturz der kleinen Privatmaschine am Rücken verletzt worden. Doch nun schien es ihm tatsächlich wieder gut zu gehen.
»Manchmal melden sich noch ein paar Schmerzen, aber es läßt sich aushalten«, versicherte er. »Und die Anni kann prima massieren.«
Die quirlige kleine Person lächelte ihm strahlend zu. »Wir sind eben kein schlechtes Team, wir beide. Wie sagt man so schön: Gegensätze ziehen sich an!«
»Und für wen fliegen Sie jetzt, Anni?« wollte Max interessiert wissen. »Hat der Chefarzt sich denn wieder eine Maschine angeschafft?«
»Nein, er muß sparen. Ich arbeite jetzt bei den Krankentransporten mit. Dem Spital bleibe ich treu. Aber in die Luft gehe ich immer noch.«
Alle lachten, Josef Brinkmeier, der Senior im Haus, fragte seinen Sohn Lukas: »Wir steht es eigentlich bei euch beiden? Hast der Tina denn schon einen gescheiten Antrag gemacht?«
Der Bauer verzog leicht den Mund, man sah ihm an, daß ihm dieses Thema ein wenig peinlich war. Doch seine Liebste hatte damit kein Problem. Sie hob die Rechte, deutete auf einen blitzenden Ring und erklärte geradeheraus: »Ring und Antrag habe ich schon vor einer Weile angenommen. Aber wir lassen uns trotzdem noch ein bißchen Zeit. Bei einer so wichtigen Entscheidung, da soll man doch nichts überstürzen, gelt?«
»Der Meinung bin ich auch«, verkündete Anni Kaiser. »Und wenn ihr mich fragt, würde ich lieber einen Langstreckenflug antreten, als mich in so ein riskantes Abenteuer zu stürzen.«
»Mit dem Richtigen kann es aber klappen«, gab Anna Stadler zu bedenken. »Ich meine, mit dem richtigen Flugzeug oder dem richtigen Mann, je nachdem...« Sie ärgerte sich, als ihre Bemerkung allgemeine Heiterkeit auslöste.
Afra, die gerade den Nachtisch auftrug, stellte kategorisch fest: »Heiraten ist was Schönes. Aber man sollte sich nur drauf einlassen, wenn man sehr mutig ist. Oder recht verzweifelt.«
Josef Brinkmeier lachte herzlich. »Wie kommst denn jetzt darauf, Afra? Du hast doch vom Heiraten nie was gehalten.«
Die alte Hauserin hob die Schultern. »Eben drum. Mir hat’s halt am Mut gefehlt. Oder an der Verzweiflung...«
Das wollte Lukas nicht unwidersprochen lassen, und so entstand eine lebhafte Unterhaltung über die Vor- und Nachteile der Ehe, die allerdings nicht ganz ernst geführt wurde. Mitten in die entspannte Stimmung hinein wurde unten an der Haustür geläutet.
Max erhob sich gleich, Anna Stadler folgte ihm. Tina schaute Lukas fragend an. »Was ist eigentlich los mit den beiden? Ich glaube, da wäre eine klärende Aussprache fällig, oder?«
Der Bauer hob die breiten Schultern. »So einfach ist das net. Ich erzähle dir später, was dahinter steckt...«
Der Landarzt hatte derweil die Haustür geöffnet und war beiseite getreten. Monika Farber kam herein, blaß und mit verstörtem Gesicht. Sie trug ihren Sohn auf dem Arm, der leise weinte. Anna Stadler, die die Frau kannte, trat gleich auf sie zu. »Was ist denn passiert? Hattet ihr einen Unfall?«
»Paul ist die Kellertreppe runtergefallen. Ich weiß selbst net, wie das passieren konnte. Bitte, Herr Doktor, verzeihen Sie die späte Störung, aber ich war zu aufgeregt, um ins Spital nach Berchtesgaden zu fahren...«
»Ist schon recht, Frau Farber. Kommen Sie bitt’ schön ins Sprechzimmer.« Max machte Anna ein Zeichen, ihn zu begleiten. Er bat die verstörte Frau, den Jungen auf die Untersuchungsliege zu setzen, ließ sie dann kurz allein. Im Vorzimmer fragte er Anna: »Kennst du die Farbers näher? Ich hatte noch nie mit der Familie zu tun. Sie wohnen doch noch net lange hier, oder?«
»Seit ein paar Jahren. Die Monika ist eine nette Frau, wir haben mal zusammen einen Kurs an der Volkshochschule besucht. Aber ich glaube, in der Ehe stimmt es net so. Der Mann ist ein ziemlicher Tyrann. Sie traut sich jetzt nimmer, allein was zu unternehmen.«
»Ist er mit dem Farberbauern verwandt?«
Anna nickte. »Der Benjamin ist sein Bruder. Die zwei sind wie Feuer und Wasser. Ich will nix gesagt haben, aber ich glaube, mit dem Ben wäre die Monika besser bedient gewesen...«
Dr. Brinkmeier bat Anna, wieder zu den anderen zu gehen, während er den kleinen Paul untersuchte. Seine Mutter blieb bei der Untersuchung im Sprechzimmer, denn der Junge war sehr verschüchtert und ängstlich. Wenn Monika sich ein wenig entfernte, fing er sofort an, leise zu weinen. Nachdem Max durch gezielte Fragen eine Gehirnerschütterung ausgeschlossen hatte, versorgte er zwei Schürfwunden an Pauls Knien und schrieb der Mutter noch ein Rezept für ein leichtes Schmerzmittel aus.
»Wie es scheint, ist die Sache noch einmal glimpflich abgegangen«, stellte er fest. Monika wollte sofort gehen, aber Dr. Brinkmeier hatte noch ein paar Fragen an sie.
»Fällt Paul öfter hin? Ich muß Sie das fragen, Frau Farber, denn nicht all seine Hämatome sind neu. Einige sind schon abgeheilt. Und da ist eine häßliche Prellung im Nacken. Die kann eigentlich nicht von einem Sturz herrühren.«
Die junge Frau reagierte sofort ablehnend. Ihre Miene verschloß sich, als sie wissen wollte: »Sind Sie darauf aus, mir etwas zu unterstellen? Ich kümmere mich um meine Kinder, ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen.«
»Das wollte ich auch nicht behaupten. Aber wenn ein Kind solche Verletzungen aufweist, muß ich dem nachgehen. Vielleicht haben Sie schon davon gehört, daß häusliche Gewalt ein leider sehr verbreitetes Phänomen ist.«
»Paul ist hingefallen. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen. Wenn ich das gewußt hätte, wäre ich ins Spital gefahren.«
»Bitte, Frau Farber, nehmen Sie es doch nicht persönlich. Es liegt mir fern, Ihnen etwas unterstellen zu wollen.«
Monika ging nicht weiter auf die Worte des Landarztes ein. Sie nahm Pauls Hand und verabschiedete sich knapp. Kaum eine Minute später hatte sie das Doktorhaus bereits verlassen. Max Brinkmeier blieb nachdenklich zurück. Er hatte das ungute Gefühl, daß mehr hinter dieser