Gesammelte Erzählungen von Anatole France. Anatole France

Gesammelte Erzählungen von Anatole France - Anatole France


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Polyp‹, je, je, je!«

      Gerade, als er diese Worte hervorstieß, kam die Schusterfrau auf ihn zu, um ihm die vierzehn Sous zu geben.

      Aber der Schutzmann hielt Crainquebille beim Kragen, und als die Meisterin das sah, ließ sie das Geld wieder in ihre Tasche gleiten, in dem guten Glauben, daß man einem Menschen, der zur Polizeiwache abgeführt wird, nichts schuldig sei.

      Als Crainquebille so seinen Wagen im Stich lassen mußte und sich seiner Freiheit beraubt sah, war es ihm, als sei die Sonne plötzlich erloschen, und ein Abgrund schien sich vor ihm aufzutun.

      Ganz verzweifelt murmelte er:

      »Ist es möglich – ist es möglich:

      Vor dem Kommissar erklärte der alte Herr, daß er durch die Verwicklung der Fuhrwerke aufgehalten und dadurch Zeuge der Szene geworden sei. Der Schutzmann habe den Gemüsehändler falsch verstanden, der alte Mann hätte ihn weder beleidigt noch beschimpft. Dann gab er seinen Namen und seine Wohnung an: Doktor David Matthieu Oberarzt am Krankenhaus von Ambroise Paré, Offizier der Ehrenlegion. Zu andern Zeiten hätte ein solches Zeugnis den Kommissar genügend über die Sachlage aufgeklärt, aber dazumal waren die Gelehrten in Frankreich verdächtig.

      Crainquebilles Verhaftung wurde aufrecht erhalten. Er mußte die Nacht auf der Polizeiwache zubringen und wurde am nächsten Morgen im »grünen Wagen« ins Gefängnis befördert.

      Das Gefängnis hatte in seinen Augen weder etwas Schmerzliches, noch Erniedrigendes, es erschien ihm als etwas Notwendiges.

      Bei seinem Eintritt in die Zelle fiel ihm besonders die große Sauberkeit der Mauern und Dielen auf. Er sagte sich: »Höllisch sauber hier, man könnte schlankweg vom Boden essen.«

      Als er allein war, wollte er seinen Schemel von der Wand abrücken, aber der war angeschmiedet.

      Crainquebille äußerte ganz laut seine Verwunderung darüber:

      »Sonderbar, sonderbar – auf so was wär’ ich nie gekommen.« Dann setzte er sich nieder, drehte die Daumen übereinander und staunte vor sich hin. Er hatte Langeweile und dachte mit Sorge und Betrübnis an seinen Karren, den sie mit Beschlag belegt hatten, und der noch ganz mit Kohl und Rüben, Sellerie, Salat und anderen Gemüsen beladen gewesen war.

      Voll Unruhe fragte Crainquebille sich:

      »Wo können sie nur mit meinem Wagen geblieben sein!«

      Am dritten Tage besuchte ihn sein Advokat. Maître Lemerle war einer der jüngsten Gerichtsanwälte von Paris und Präsident einer Sektion der französischen, vaterländischen Liga.

      Crainquebille versuchte seinen Fall zu erzählen, was ihm keineswegs leicht fiel, denn er fand nur mühsam seine Worte. Vielleicht hätte er es doch fertig gebracht mit ein wenig Hilfe. Aber sein Anwalt schüttelte nur mißtrauisch den Kopf zu allem, was er sagte, und indem er in den Papieren blätterte, murmelte er:

      »Hm, hm, davon sehe ich ja gar nichts in den Akten.« Dann strich er sich mit einer etwas müden Bewegung über den gepflegten blonden Schnurrbart und sagte:

      »Ich rate Ihnen in Ihrem eigenen Interesse, ein offenes Geständnis abzulegen. Dies System, alles ableugnen zu wollen, ist sehr ungeschickt.«

      Von nun an hätte Crainquebille gern gestanden, wenn er nur gewußt hätte, was er eigentlich gestehen sollte.

      Crainquebille vor Gericht.

      Der Präsident widmete dem Verhör von Crainquebille ganze sechs Minuten.

      Dies Verhör hätte entschieden mehr Licht in den Sachverhalt gebracht, wenn der Angeklagte auf die an ihn gestellten Fragen geantwortet hätte.

      Aber Crainquebille war zu unbeholfen im Reden, und außerdem brachte er vor lauter Respekt und Angst kein Wort hervor.

      Er schwieg beharrlich, und so gab der Präsident selbst die Antworten, die dann allerdings sehr belastend ausfielen.

      Er schloß mit den Worten:

      »Also Sie geben zu ›Verfluchter Polyp‹ gesagt zu haben.«

      Da drang aus Crainquebilles Kehle ein Ton wie verrostetes Eisen und Klirren von Glasscherben:

      »Ich habe ›Verfluchter Polyp‹ gesagt, weil der Herr Schutzmann ›Verfluchter Polyp‹ gesagt hat – da hab ich es gesagt.«

      Er wollte zu verstehen geben, daß er bei dieser plötzlichen Anschuldigung in seiner ersten Verblüffung die merkwürdigen Worte wiederholt hatte, die man ihm nun fälschlich in den Mund legte.

      Er habe es gesagt, wie er gesagt haben würde: »Ich, ich sollte so etwas wagen, ich? Wie können Sie so etwas glauben?«

      Aber der Präsident faßte es nicht so auf.

      »Wollen Sie etwa behaupten«, sagte er, »der Beamte hätte diesen Schmähruf zuerst gebraucht?«

      Crainquebille verzichtete darauf, sich verständlich zu machen; es war zu schwierig.

      »Sie bestehen nicht auf Ihrer Behauptung, da haben Sie recht«, schloß der Präsident.

      Dann ließ er die Zeugen rufen.

      Der Schutzmann Nr. 64, mit Namen Bastien Matra, schwor, daß er die Wahrheit und nichts als die Wahrheit sagen wolle. Dann machte er folgende Aussage:

      »Am 20. Oktober hatte ich nachmittags Dienst in der Rue Montmartre und sah, wie ein Individuum, das mir ein herumziehender Gemüsehändler zu sein schien, sich ungebührlich lange vor dem Hause Nr. 328 aufhielt und dadurch eine Verwicklung der Fahrzeuge verursachte.

      Ich gab ihm dreimal den Befehl, weiter zu fahren, aber er tat es nicht, und als ich ihm darauf drohte, daß ich ihn aufschreiben müsse, da schimpfte er mich ›Verfluchter Polyp‹, was mir beleidigend erschien.«

      Diese gemessene, bestimmte Aussage wurde von den Richtern mit sichtlichem Wohlwollen aufgenommen.

      Zur Verteidigung waren Madame Bayard, die Schustersfrau, und Doktor Matthieu als Zeugen geladen worden.

      Madame Bayard hatte nichts gesehen und gehört. Der Arzt hatte sich in der Menge befunden, die den Schutzmann umgab, als dieser den Händler ermahnte, weiter zu fahren.

      Seine Aussage verursachte einen Zwischenfall. »Ich war Zeuge der Szene«, sagte er. »Der Schutzmann hat sich verhört, der Mann hat ihn nicht beleidigt. Ich habe ihm das damals gleich gesagt, aber er bestand auf der Verhaftung und veranlaßte mich, meine Erklärung vor dem Kommissar abzugeben, was ich auch getan habe.«

      »Sie können sich setzen«, sagte der Präsident.

      »Gerichtsdiener, rufen Sie mal den Zeugen Matra wieder vor.«

      »Matra, als Sie die Verhaftung des Angeklagten vornahmen, hat Sie damals der Doktor Matthieu darauf aufmerksam gemacht, daß Sie sich getäuscht hätten?«

      »Ja, nämlich Herr Präsident, er hat mich beleidigt.«

      »Was sagte er denn?«

      »Er hat ›Verfluchter Polyp‹ gesagt.«

      Im Zuschauerraum wurde Lärm und Gelächter laut.

      »Sie können zurücktreten«, beeilte sich der Präsident zu sagen, dann wandte er sich ans Publikum und sagte, daß er den Saal räumen lassen würde, wenn noch einmal derartige ungebührliche Kundgebungen laut würden.

      Währenddessen fuchtelte der Verteidiger mit dem Rockärmel triumphierend in der Luft herum, und alle glaubten, daß Crainquebille freigesprochen werden würde.

      Als die Ruhe im Saal wiederhergestellt war, erhob sich Maître Lemerle.

      Er leitete seine Verteidigung mit einem Lob auf die Polizisten ein, auf diese bescheidenen Diener des Gesetzes, die bei einem kläglichen Gehalt den größten Ermüdungen und fortwährenden Gefahren ausgesetzt seien und täglich ihren


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