Gesammelte Erzählungen von Anatole France. Anatole France
begreifen kann, worüber sich nicht streiten läßt, als etwas, dessen man sich weder zu rühmen noch zu beklagen hat.
Wenn der Präsident Bourriche in diesem Augenblicke durch die Decke herabgestiegen wäre mit einem Heiligenschein um das Haupt und Flügeln an den Schultern, so wäre Crainquebille von dieser neuen Manifestation der richterlichen Glorie nicht weiter überrascht gewesen.
Er hätte sich einfach gesagt:
»Ach so, meine Angelegenheit nimmt ihren Verlauf.«
Am folgenden Tage besuchte ihn sein Advokat.
»Nun, mein Lieber«, fragte Maître Lemerle, »geht es ziemlich gut? Nur Mut, zwei Wochen sind ja schnell vorüber. Wir dürfen uns übrigens nicht allzu sehr beklagen.«
»Das ist wahr«, gab Crainquebille zu, »die Herren sind sehr freundlich und höflich gewesen. Nicht ein grobes Wort haben sie mir gesagt. Hätt’ ich gar nicht gedacht. Und haben Sie wohl gesehen, der Soldat hatte weiße Handschuhe angezogen.«
»Überlegt man sich’s«, bemerkte der Advokat, »so war es das beste, daß Sie gestanden.«
»Mag wohl sein«, erwiderte Crainquebille.
»Ich habe eine gute Nachricht für Sie, Crainquebille. Eine mildtätige Person, die ich für Ihre Lage interessiert habe, hat mir fünfzig Francs für Sie übergeben, also gerade die Summe, zu der Sie verurteilt sind.«
»Und wann werde ich das Geld bekommen«, fragte der Alte.
»Das wird direkt der Kanzlei übergeben, darum brauchen Sie sich nicht zu kümmern.«
»Na einerlei; sagen Sie der Person meinen besten Dank.«
Dann wurde Crainquebille nachdenklich. Nach einer Weile meinte er: »Sonderbar, höchst sonderbar ist das, was mir passiert ist.«
»Glauben Sie das nicht, Crainquebille, Ihr Fall ist durchaus nicht selten.«
»So? – und können Sie mir vielleicht auch sagen, was aus meinem Wagen geworden ist?«
Die öffentliche Meinung.
Crainquebille war aus dem Gefängnis entlassen und schob wieder seinen Wagen durch die Rue Montmartre vor sich her und rief: Kohl, Rüben, Wurzeln!
Er empfand weder Stolz noch Scham wegen seines Abenteuers.
Es war keine peinliche Erinnerung für ihn, sondern wie ein Schauspiel, eine Reise, ein Traum.
Nun aber war er froh, wieder im Schmutz herumzugehen über das Pflaster der Straßen und über sich den Himmel zu sehen, grau in grau im strömenden Regen – den lieben Himmel seiner geliebten Stadt.
An allen Straßenecken hielt er an, um ein Glas zu trinken, dann fühlte er sich frei und seelenvergnügt, spuckte in die schwieligen Hände, damit sie geschmeidiger wurden, und faßte von neuem die Griffe seines Handwagens.
Die Sperlinge, die wie er arme Frühaufsteher waren und ihr Futter am Wege suchten, flatterten auf bei seinem Rufe –Kohl, Rüben, Wurzeln – und flogen vor ihm her.
Eine alte Haushälterin kam heran und prüfte das Gemüse.
»Ja, was war denn mit Ihnen los, Vater Crainquebille«, fragte sie, »man hat Sie ja so lange nicht gesehen. Sind Sie krank gewesen? Sie sehen etwas blaß aus.«
»Tje«, erwiderte Crainquebille, »ich will Ihnen was sagen, Frau Mailloche, ich hab’ ‘n bißchen privatisiert.«
Nichts in seinem Leben ist verändert, höchstens daß er häufiger als sonst ein Gläschen trinkt. Er hat das Gefühl, als sei immer Feiertag, und dann hat er ja auch die Bekanntschaft von mildtätigen Leuten gemacht.
Ein bißchen angeheitert gelangt er abends in seinen Verschlag. Dann streckt er sich zufrieden aus, deckt sich mit den Säcken zu, die ihm sein Freund, der Kastanienverkäufer von der Ecke, geliehen hat und brummt vor sich hin:
»Im Gefängnis ist es gar nicht so übel, man hat da alles, was man braucht, aber einerlei, zu Hause ist es doch besser.«
Seine Zufriedenheit sollte nicht lange dauern. Er bemerkte bald, daß die Kunden ihn schnitten.
»Ich habe heute recht schönen Sellerie, Madame Cointreau«, sagte er freundlich.
»Brauche nichts«, erwiderte die Frau barsch.
»Was, Sie brauchen nichts? Sie leben doch jetzt wohl nicht bloß von der Luft?« fragte Crainquebille erstaunt.
Aber Madame Cointreau würdigte ihn keines Blickes und ging stolz in ihren Schlächterladen. Sonst hatten sich Meisterinnen und Mädchen um seinen Wagen gedrängt, der stets mit reichlicher Auswahl versehen war, jetzt drehten sie ihm alle den Rücken, sobald sie ihn sahen.
Als Crainquebille zu dem Schusterladen kam, wo sein gerichtliches Abenteuer angefangen hatte, rief er:
»Madame Bajard, Madame Bajard, Sie sind mir noch von neulich die fünfzehn Sous schuldig.«
Aber Madame Bajard, welche an der Kasse thronte, hielt es unter ihrer Würde, ihn zu beachten.
Die ganze Straße wußte, daß der alte Crainquebille aus dem Gefängnis kam, und alle taten, als ob sie ihn nicht kannten.
Von hier aus hatte sich das Gerücht in dem ganzen Viertel verbreitet.
Als Crainquebille gegen Mittag in eine andre Straße kam, sah er seine freundliche Kundin Madame Laure an dem Gemüsewagen des kleinen Martin stehen. Sie musterte gerade einen großen Kohlkopf. Ihre Haare glänzten wie eine Unmasse feiner goldener Fäden. Und Martin, der Knirps, dieser schmutzige Lausbub, schwor mit der Hand auf dem Herzen, daß es weit und breit keine bessere Ware gäbe, als die seine.
Das gab Crainquebille einen Stich ins Herz. Er stieß seinen Wagen gegen Martins Karren und sagte mit klagender, gebrochener Stimme:
»Das ist nicht schön von Ihnen, daß Sie mir untreu werden.«
Wie sie selbst eingestand, war Madame Laure durchaus nicht als Herzogin geboren. Und ihre Kenntnisse vom grünen Wagen und Gefängnis hatte sie sich auch nicht gerade in der großen Welt erworben.
Aber man kann in allen Lebenslagen ehrlich sein, nicht wahr? Jeder hat seine Portion Selbstgefühl, und man mag nichts zu tun haben mit einem Individuum, das gerade aus dem Gefängnis kommt.
Daher antwortete sie Crainquebille nur mit einem verächtlichen Achselzucken und wandte sich ab.
Der alte Mann zuckte schmerzlich zusammen, dann aber fuhr er auf und brüllte ihr nach:
»Schanddirne, – liederliches Weibsbild!«
Vor Schreck ließ Madame Laure ihren Kohlkopf fallen.
»Scher’ dich weiter, du Lump«, rief sie außer sich vor Entrüstung, »so was kommt gerade aus dem Gefängnis heraus und will andere beleidigen.«
Bei ruhigem Blut hätte Crainquebille Madame Laure niemals ihren Lebenswandel vorgeworfen. Er wußte nur zu gut, daß es in dieser Welt nicht so geht, wie man gern möchte, und daß man sich sein Handwerk nicht immer wählen kann.
Für gewöhnlich kümmerte er sich überhaupt nicht darum, was seine Kunden taten. Aber heute war er außer sich. Er schimpfte hinter der Frau her:
»Gemeine Person, Hurenmensch …«
Ein Kreis von Neugierigen sammelte sich um die beiden, die immer ausfälliger wurden. Wahrscheinlich hätte die Schimpfszene noch lange fortgedauert, wenn nicht plötzlich ein Polizist aufgetaucht wäre und sie durch seine schweigende Unbeweglichkeit eingeschüchtert hätte.
Leise murrend gingen die beiden auseinander.
Nach diesem Auftritt aber war Crainquebille in seinem Viertel erst recht unmöglich geworden.
Die Folgen.