Siegen ist Kopfsache. Matt Fitzgerald

Siegen ist Kopfsache - Matt  Fitzgerald


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los. Nach ungefähr 50 bis 60 Metern schlich sich eine grippeähnliche Schwäche in meine Beine. Mit jedem Schritt schien ich ein Kilo schwerer zu werden. Meine Kehle brannte wie eine offene Wunde, in die man Salzwasser kippt. In meinem Kopf begann es zu kribbeln, und mein Bewusstsein reduzierte sich auf ein schwaches Flämmchen, das in einem heimtückischen Wind flackerte. Die wenigen Gedanken, die ich noch fassen konnte, waren panikdurchzogene Fragmente: Was zur Hölle passiert mit mir? Ist das normal? Tut es den anderen Kindern auch so weh?

      Ich beendete die erste Runde, kämpfte die übermächtige Versuchung nieder, einfach aufzuhören, und ging auf die zweite. Ein Junge war noch vor mir – Jeff Burton, das einzige Kind in meiner Klasse, das so dürr war wie ich selbst. Ich begriff meine Situation. Ich konnte entweder Druck machen, um Jeff einzuholen, was aber bedeutet hätte, dass ich mein Leid vergrößerte. Oder ich konnte mein Leid auf dem jetzigen Niveau halten und Jeff ziehen lassen. Was schließlich eintrat, war eine dritte Möglichkeit: Jeff schwächelte. Seinen Einbruch zu sehen, verlieh mir Flügel. Ich überholte ihn im Angang auf die letzte Kurve und überquerte als Erster die Ziellinie, wobei ich so erschöpft war, dass ich dies nur innerlich feiern konnte.

      Aus dieser Erfahrung habe ich eine fundamentale Wahrheit über Ausdauersport gelernt. Während meine Beine und meine Lunge mich an eine Position gebracht hatten, die es mir ermöglichte, zu gewinnen, war es mein Kopf – insbesondere meine Fähigkeit, den Schreck über die neuen Empfindungen zu dämpfen, und mein Wille, für den Sieg etwas zu leiden –, der mich zu Höchstleistungen angespornt hatte. Mir wurde klar: Die grundlegende Herausforderung von Langstreckenrennen ist eine mentale.

      Drei Jahre nach meinem Triumph beim Field Day verletzte ich mich beim Fußball am Knie. Der Chirurg, der mich wieder zusammenflickte, riet, dass ich mir einen anderen Sport suchte. Ich lief nebenbei für das Leichtathletik-Team der Mittelstufe an der Oyster River Schule und hatte, bis ich mich verletzte, schon einige Erfolge feiern können. Also entschied ich mich, alles auf die Karte »Laufen« zu setzen.

      Das war 1985 – Mittelalter, was den Entwicklungsstand der Knie-Rekonstruktion und -Rehabilitation betraf. Mein komplettes Bein war sechs Wochen lang eingegipst, dann bekam ich für weitere sechs Monate eine Schiene. Dieser Koloss aus Kevlar und Klett begleitete mich meine komplette erste Indoor-Leichtathletik-Saison an der High School. Als mir die Schiene im Frühjahr abgenommen wurde, fühlte ich mich wie neugeboren. In der Outdoor-Saison lief ich siebenmal 1.500 Meter und pulverisierte sechsmal meine persönliche Bestleistung.

      Im Herbst führte ich unser Cross-Country-Team bei den Staatsmeisterschaften zum Titel in einer von drei schulübergreifenden Athletik-Kategorien New Hampshires. Eine Woche später nahm ich als Einzelstarter am »Meet of Champions« teil, bei dem die besten Teams und Einzelathleten aus allen drei Kategorien gegeneinander antreten, und wurde Zehnter. Ich war der Zweitbeste unter den Zehntklässlern und der Erfolgreichste unter den Debütanten. Ich war auf gutem Wege, der beste High-School-Läufer von New Hampshire zu werden, noch bevor ich meinen Schulabschluss hatte.

      Dazu ist es nie gekommen. Das erste Anzeichen dafür, dass es nie passieren würde, zeigte sich bereits direkt nach meinem großen Durchbruch bei der Cross-Country-Staatsmeisterschaft. Das Rennen fand im Derryfield Park in Manchester statt, dem härtesten Gelände-Kurs in Amerika. Er beginnt am Fuß eines Skihangs, führt dort direkt hinauf und wieder hinunter. Ich erklomm den Anstieg als Zweiter hinter Sean Livingston, einem Oberstufenschüler, der sich talentmäßig auf einem ganz anderen Niveau befand. Ich dachte mir dabei nicht viel, bis wir aus dem Wald kamen, meine Freundin mich sah und kreischte: »O mein Gott! Er ist Zweiter!« Erst da wurde mir bewusst, dass ich hier ein ganz großes Ding durchzog.

      Nur wenige Augenblicke später jedoch überholte mich Todd Geil von der konkurrierenden Stevens Academy, auch ein Zehntklässler. Als wir den Fuß des Hügels erreichten, hatte er 10 oder 15 Meter auf mich herausgelaufen. Aber der Kurs machte eine letzte teuflische Kurve nach oben, bevor er zum Ziel hin abflachte. Ich war ein besserer Bergaufläufer als Todd (so war ich überhaupt erst vor ihn gekommen) und ich begann aufzuholen.

      Wir liefen die Schlusskurve zusammen. Todd zog das Tempo an, ich auch. Wir spurteten im wortwörtlichen Gleichschritt die Zielgerade entlang, während uns unsere Eltern, Trainer und Teamkollegen lautstark anfeuerten.

      Dann gab ich einfach auf. Ich warf das Handtuch. Ende. Es passierte, als Todd das Tempo noch ein klein wenig anzog – sein letzter Schachzug. Ich werde nie erfahren, ob ich hätte mithalten oder das Tempo sogar noch ein wenig höher schrauben können, weil ich es nicht einmal versuchte. Der Grund dafür war einfach: Es tat zu weh. Ein Teil von mir schien zu fragen: Wie sehr willst du das hier wirklich? Und ein anderer Teil antwortete: Nicht so sehr wie dieser andere Typ da. Ich glaube nicht, dass Todd talentierter oder fitter war als ich – tatsächlich habe ich ihn in zwei der fünf Cross-Rennen, die uns in unserer Schullaufbahn noch blieben, geschlagen. Was an diesem Tag den Unterschied machte, war, dass er den Willen hatte, es noch ein bisschen mehr zu versuchen.

      Der Schreck, den mir im Alter von elf Jahren meine erste Begegnung mit dem Leiden, das Ausdauerwettkämpfe mit sich bringen, eingeflößt hat, war nie ganz weggegangen. Ich liebte es, zu laufen, ich liebte es, fitter und schneller zu werden, aber ich hasste es, so zu leiden, wie ich es in den Rennen tat. Meine Abneigung gegen diese dunkle Seite des Sports, den ich mir ausgesucht hatte, war auszuhalten, als ich noch neu darin war und niedrige Erwartungen hatte. Aber als ich mit den Konkurrenten auf Augenhöhe war, stellte ich fest, dass noch größere Schmerzen möglich waren, als ich sie bisher gehabt hatte, und dass ich würde noch mehr leiden müssen, wenn ich ganz oben auf dem Treppchen stehen wollte. Erst da merkte ich, dass ich mich bisher in einer Art Komfortzone innerhalb des Unwohlseins bewegt hatte, in der Illusion eines »100-Prozent-Bereichs«, und dass mir keine andere Wahl blieb, als über diese Schwelle zu treten, wenn ich jemals der Beste sein wollte.

      Aber ich entschied mich dagegen. Stattdessen wurde ich zu einem klassischen Kopf-Fall. Eine Furcht, die alles andere aufsaugte, ergriff an Wettkampftagen Besitz von mir. Mein Magen rotierte, mein Herz raste, meine Gedanken drehten sich unaufhörlich um die Qual, der ich mich gleich aussetzen würde. Wenn das Rennen auf einen Dienstag fiel, saß ich wie in Trance im Unterricht und bekam nichts von dem mit, was die Lehrer erzählten. Wenn der Wettkampf an einem Samstag stattfand, konnte ich kaum meine Frühstücksflocken hinunterwürgen, bevor ich das Haus verließ, um mich mit meinen Teamkameraden für die Busfahrt zur Schlachtbank zu treffen.

      In meinem Junior-Jahr wurden aus meinen falschen 100 innerlich anerkannte 95 Prozent. Ich strengte mich genau so sehr an, dass niemand merkte, dass ich nicht am Anschlag lief. Trotzdem hatte ich noch gute Tage – ich wurde Sechster beim »Meet of Champions« 1987 – aber viel öfter verließ ich die Rennstrecke angewidert von mir selbst, wissend, dass ich da draußen nicht alles gegeben hatte.

      Es wurde immer schlimmer. Bei einem Leichtathletikwettkampf unter freiem Himmel in Boston simulierte ich nach der Hälfte eines 3.000-Meter-Rennens einen verstauchten Knöchel, ließ mich auf den Boden fallen und wand mich unter gespielten Schmerzen. Wochen später bei einem weiteren 3.000-Meter-Lauf tat ich so, als hätte ich den Aufruf an die Startlinie verpasst, und das Feld rannte ohne mich los. Nach meiner Schulzeit und meiner letzten Gelände-Saison (die ich mit einem erbärmlichen 17. Platz beim »Meet of Champions« abschloss, einem Rennen, in dem mein Widersacher Todd Zweiter wurde), hörte ich mit dem Laufen auf. Der Waschlappen in mir hatte gewonnen.

      1995, zwei Jahre nach meinem College-Abschluss und immer noch der Überzeugung, dass ich mit dem Laufen fertig war, zog ich nach San Francisco. Ich hatte vor, den ersten vernünftigen Job als Schreiber anzunehmen, der mir angeboten wurde. Dieses Angebot sollte von Bill Katovsky kommen, der zwölf Jahre zuvor das Magazin Triathlete gegründet hatte und nun eine neue Ausdauerzeitschrift namens Multisport auf den Markt bringen wollte. Ich hätte genauso bei einem Angebot von High Times (alles über Cannabis) zugeschlagen, aber das Schicksal wollte mich offensichtlich in ein Umfeld führen, in dem es von Leuten wimmelte, die es liebten, zu trainieren, fitter und schneller zu werden, so wie ich früher.

      Es geschah das Unvermeidliche. Ich wurde rückfällig, trainierte wieder und nahm an Wettkämpfen teil. Erst als Läufer, dann als Triathlet. Es war ein zweischneidiges Schwert. Mir gefielen diese Freizeitbeschäftigungen mehr und mehr,


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