Asklepios. Charlotte Charonne
Strafvollzug korrigierbar.
In seinem letzten Wort vor der Urteilsberatung äußerte der Angeklagte Einsicht und Reue, bat die Angehörigen des Opfers um Entschuldigung und erklärte sich bereit, das Therapie- und Hilfeangebot anzunehmen, was die Entscheidung der Richter beeinflusste.
Im April 2000 hatte Georg S. die fünfjährige Emma H. aus dem Garten ihres Elternhauses entführt. Er betäubte das Mädchen mit Chloroform und brachte es in sein nur wenige Kilometer entferntes Haus. Die Leiche des Mädchens wurde zwei Wochen später von einer Spaziergängerin und ihrem Hund in einem Waldstück entdeckt. Hinweise aus der Bevölkerung führten schließlich zur Festnahme des Mörders.
In seinem Keller stellten Polizeibeamte Sexspielzeuge sadistischer Natur wie Gummimasken, Silikon-Mundknebel und Maulsperren mit Lederbändern sowie Videos, die den Missbrauch dokumentieren, sicher.
Emma H. befand sich fünf Tage lang in der Gewalt von Georg S., bis er sie, laut Aussage des Angeklagten, erwürgte, weil sie zu stark blutete und ständig nach ihrer Mama rief.
Die Staatsanwaltschaft legte Revision ein.
Kapitel 6
Drei Jahre später
„Doktor Kaiser“, meldete sich Maria, nachdem ihr Piepser ein Schrillen von sich gegeben hatte. Sie hatte bereits seit zwei Stunden Dienstschluss. Anstatt direkt nach Hause zu fahren, hatte sie es vorgezogen, im Arztzimmer zu bleiben und gemeinsam mit einem Foto von Sophie und Emma auf ihre Schuldgefühle anzustoßen, bevor sie sich auf den Heimweg machte. Sie strich mit dem Zeigefinger über die Porträts und steckte das Foto zurück in die Brieftasche.
„Doktor Kaiser? Gott sei Dank! Autounfall. Notaufnahme.“ Die routinierte Stimme geizte mit Worten.
„Ich komme.“ Maria gönnte sich einen letzten Spritzer Wodka, spülte das Glas mit Wasser aus und stellte es zum Abtropfen auf das Tablett neben der Kaffeemaschine. Sie verstaute die Flasche in ihrer Umhängetasche sowie ein Pfefferminzbonbon in ihrem Mund, verließ das Arztzimmer und hechtete zum Aufzug. Dort drückte sie auf den Knopf und wartete auf den Lift.
„Guten Abend, Doktor Kaiser.“ Die Nachtschwester sauste an ihr vorbei.
„Guten Abend, Schwester Susanne.“ Sie schaute der Krankenschwester, die das Zimmer 312 betrat, hinterher. Über der Zimmertür blinkte ein rotes Lämpchen.
Die Fahrstuhltüren glitten auseinander. Maria betrat das Gefährt und tippte den Knopf, der zur Notaufnahme im Erdgeschoß führte. Der Lift stoppte mit einem sachten Ruck, der ausreichte, um einen Kloß in ihren Hals zu befördern. Sie schluckte vergeblich und räusperte sich mehrere Male, während sie durch den leeren Flur eilte. Das Echo ihrer Tritte hallte vorwurfsvoll von den Wänden.
Maria erreichte die Notfallstation, trat an das Waschbecken, wusch ihre Hände und Unterarme und schrubbte ihre gekürzten Fingernägel. Sie trocknete sich mit Papierhandtüchern ab, rieb die Haut gründlich mit einem Desinfektionsmittel ein und blickte in den Spiegel. Über dem Mundschutz lauerte ein Augenpaar – skeptisch, vorwurfsvoll, resigniert. Geplatzte Äderchen hatten zwei rote Netze gewebt, in deren Mitte jeweils eine blaue Iris gefangen saß. Die geröteten Lider umrahmten die surrealistischen Kreationen. Sie unterbrach den Blickkontakt und wankte in den Raum.
Eine düstere Vorahnung hockte wie ein fetter schwarzer Rabe auf ihrer Schulter. Langsam stakte sie auf das Untersuchungsbett zu. Die Stimmen des Anästhesisten, zweier Assistenzärzte und mehrerer Schwestern drangen – von einer unsichtbaren Glasglocke gedämpft – in ihren Gehörgang. Sie wichen auseinander und ebneten ihr den Weg zu dem Patienten.
Marias Blick streifte das Gesicht der Verletzten. Unverzüglich spürte sie ein Flimmern vor den Augen und ein Zittern in den Beinen. Das Mädchen war ungefähr in Emmas Alter. „Wo sind die Unfallchirurgen?“ Maria schwankte kaum merklich und stützte sich am Bett ab.
„Sie sind nebenan. Autounfall mit fünf Schwerverletzten.“ Die Augen des Anästhesisten funkelten zwischen Mundschutz und Haube.
„Und der Kinderchirurg?“ Sie atmete einige Male tief durch. Das Schwindelgefühl wurde besser.
„Wir konnten ihn erst nicht erreichen.“ Die Schwester schlug die Augen nieder. Der Arzt war für seine zahlreichen Eskapaden mit hübschen Krankenschwestern bekannt. „Er ist jetzt unterwegs.“
„Wie bitte?“ Maria versuchte, sich zu sammeln. „Und die Allgemeinchirurgen? Ich bin Ärztin für plastische Chirurgie. Das Kind ist höchstens fünf Jahre alt!“
„Einer ist ebenfalls in einem der anderen Räume! Und einige andere Kollegen nehmen an einem Ärztekongress teil.“
„Das kann doch nicht wahr sein!“ Die Hiobsbotschaft stach in Marias Trommelfell. Das Flimmern war zwar besser geworden, und sie konnte den kleinen Körper gestochen scharf sehen, aber ihre Beine bebten noch immer. Sie trat einen wackeligen Schritt näher.
„Verdacht auf Milzriss“, diagnostizierte sie und deutete auf einen Bluterguss entlang der Höhe des Sicherheitsgurtes im Oberbauch. „Kreislauf?“
„Instabil“, verlautete ein Assistenzarzt.
„Sonographie!“, befahl sie. „Schnell!“
Ihre Hände zitterten. Sie verknotete die Finger ineinander, um dem Zittern Einhalt zu gebieten. Das Notfallteam war in Schweigen gehüllt; alle Blicke klebten an Marias Händen.
„Sonographie! Sofort!“, donnerte eine Stimme. Der Kinderchirurg war scheinbar aus dem Nichts erschienen. Das Schweigen des Teams wurde durch Bewegung ersetzt. „Danke, Doktor Kaiser. Ich übernehme.“ Der Kinderchirurg nickte ihr zu.
Maria starrte ihn an, als wäre er eine Halluzination, die ihre angetrunkene Fantasie heraufbeschworen hatte. Dann wandte sie der Szene den Rücken zu, torkelte aus der Station und flüchtete mithilfe des Fahrstuhls aus dem Schreckensbereich.
Zu ihrer Erleichterung fand sie das Arztzimmer verwaist vor. Sie sicherte die Tür im Schloss, befreite die Wodkaflasche aus der Tasche, füllte ein Glas mit dem klaren Heilmittel und leerte es in einem Zug. Sie schenkte sich einen weiteren Drink ein, platzierte ihn neben dem Computer auf der Arbeitsplatte und versteckte die Flasche wieder in der Umhängetasche. Dann schritt sie langsam durch das Zimmer, sank in den Schreibtischstuhl, lehnte den Schopf an die hohe Lehne und schloss die Lider. Der Alkohol entspannte ihren Körper. Das Zittern verebbte.
Der Computer schnarchte leise brummend. Ein Bildschirmschoner behütete seinen Schlaf. Sie rüttelte an der Maus und störte damit die Fische, die über den Bildschirm schwammen. Anschließend öffnete sie Word, wählte eine leere Vorlage aus und schrieb ihre Kündigung.
Kapitel 7
Am Tag darauf
Paul klinkte die Haustür hinter sich zu. Eine schwindelerregende Stille und der Geruch nach ranziger Pizza schlugen ihm entgegen.
„Sophie?“ Er horchte gebannt. Enttäuscht wischte er sich mit der Hand über die Augen. Auf dem Esstisch stand noch der Karton mit den Resten der Pizza, die er sich gestern Abend bestellt hatte. Zur Abwechslung hatte er sich eine Pizza Hawaii gegönnt, nachdem in der vorhergehenden Woche zweimal die Sorte Salami seinen Hunger gestillt hatte. Daneben lag der Container der chinesischen Nudeln vom Vorabend. Teller, Bestecke und Gläser türmten sich auf dem Tisch. Offensichtlich war Sophie zu müde gewesen, um für ein wenig Ordnung zu sorgen. Gewohnheitsmäßig hörte Paul den Anrufbeantworter ab.
Keine Anrufe. Ihre Freunde, Bekannte und Nachbarn hatten sich einer nach dem anderen zurückgezogen. Die einen wussten nicht, wie sie sich den verwaisten Eltern gegenüber verhalten sollten, die anderen empfanden es als zu schmerzlich, einen möglichen Verlust des eigenen Kindes vor Augen geführt zu bekommen. Die nächsten hatten wiederum andere Gründe. Paul waren lediglich einige befreundete Arbeitskollegen geblieben. Doch der Kontakt beschränkte sich auf die Klinik. Er hatte keine Lust auf Partys, Bars und Ausgehen, und es war schier unmöglich, Sophie aus dem Haus zu locken.
„Sophie?“