Asklepios. Charlotte Charonne
Bad zu putzen. Ihre Haushaltshilfe hatte schon vor einem Jahr die Flucht ergriffen, und Sophie weigerte sich, eine neue Kraft einzustellen. Es war ihr zu unruhig. Sie wollte keine Menschen um sich haben.
Paul öffnete die Tür zu Emmas Zimmer einen Spalt. Sophie lag zusammengerollt auf dem kleinen Bett. Er fragte sich, ob sie heute überhaupt aufgestanden war.
„Hallo, Sophie.“ Er strich über ihr Stoppelhaar. Sie hatte die lange Haarpracht, die er so geliebt hatte, zu einem raspelkurzen Pixie geschnitten, da es ihr zu anstrengend geworden war, die Mähne zu pflegen. Statt den Gruß zu erwidern, rollte sie sich noch kleiner zusammen.
„Ich bestelle uns etwas zu essen. Okay?“ Paul streichelte über ihren Rücken. Die Wirbelsäule drückte sich spitz in seine Handfläche.
„Ich habe keinen Hunger. Mir ist übel“, murmelte sie.
„Soll ich dir ein Bad einlaufen lassen?“ Er setzte sich zu ihr auf das Bett und sichtete die Schüssel, die sie für den Fall, erbrechen zu müssen, in Greifweite deponiert hatte.
Sophie reagierte nicht.
„Schatz, es kann so nicht weitergehen. Wir sollten uns klinische Hilfe holen. Du musst mit deinem Therapeuten sprechen. Er kann uns helfen.“ Er stützte die Ellenbogen auf die Oberschenkel und die Stirn in die Hände.
Sie schüttelte den raspelkurzen Schopf.
Pauls Schultern fielen nach unten. Sie hatten diese Diskussion schon unzählige Male geführt. Er redete jedes Mal gegen eine Wand. „Sophie, bitte“, sagte er deshalb nur.
„Lass mir Zeit zum Trauern“, wisperte sie in die Kissen. „Ich kann nicht wie du einfach zur Tagesordnung übergehen und so tun, als hätte Emma nie gelebt.“
„Du weißt genau, ich vermisse Emma genauso wie du. Aber ich trauere anders. Ich muss arbeiten. Viel arbeiten. Es lenkt mich ab. Das habe ich dir bereits oft erklärt.“ Sein Daumen strich über ihre Wange.
„Ich bin anders.“ Ihre geröteten Augäpfel begegneten ihm flüchtig. „Die Schmerzen, die Emma ertragen musste – ich kann sie nicht vergessen. Der Gedanke, ihr nicht geholfen zu haben …“, raunte sie. “Ich bin so müde. Bitte lass mich schlafen.“ Sie drückte Flopsi gegen ihren Bauch und krümmte sich wie ein Embryo zusammen. „Bitte!“
Paul legte die Decke über sie und liebkoste ihr Stoppelhaar. „Nun gut. Ich räume ein wenig auf und bestelle uns etwas Leckeres. Sobald es da ist, werde ich dich damit aus dem Bett locken. Keine Widerrede!“ Er bedachte ihre Stoppeln mit einem Kuss.
Das Haustelefon klingelte. Bei dem ungewohnten Geräusch fuhr er zusammen. Sophie schien es hingegen gar nicht zu hören. Sie war schon wieder in den erlösendenden Schlaf abgedriftet.
Paul hetzte zwei Stufen auf einmal nehmend zum Telefon und hob den Hörer ab. „Hofmann!“
„Hallo, Paul, hier spricht Maria. Störe ich?“ Ihre Stimme taumelte wie eine vom Wind und Regen gepeitschte Möwe.
„Natürlich nicht. Sophie schläft, und ich wollte mir gerade etwas zum Essen bestellen.“ Er betrachtete den Stapel der Menüs, der neben dem Telefon lag.
„Geht es Sophie trotz der Therapie immer noch nicht besser?“ Maria liebäugelte auf ihrer Seite der Leitung mit der Weinflasche.
„Leider nicht. Ich habe es auch schon mit Kollegen diskutiert. Ich fühle mich machtlos. Was soll ich tun? Ich kann sie ja nicht einfach in die Psychiatrie einweisen lassen.“
„Wobei dies sicherlich das Beste wäre.“ Maria schwenkte die Flasche. Die Flüssigkeit quirlte in dem grünen Glas und erzeugte einen kleinen Strudel. „Sie wird allein nicht über den Verlust hinwegkommen. Auf der Skala des Schreckens rangiert der Verlust eines Kindes auf Rang eins. Und auch die Höchststrafe für den Täter kann das Leid nicht lindern.“
„Vielleicht solltest du noch einmal versuchen, mit ihr zu sprechen.“ Paul fächelte sich mit dem Flyer, der den Haufen zuvor gekrönt hatte, Luft zu und legte ihn nach einigem Hin und Her neben seinen Artgenossen ab. Auf der ersten Seite waren ein Pizzaofen, eine italienische Flagge und der Schriftzug Bella Napoli abgebildet. Die Verpackungen dieses Restaurants fanden sich nicht nur auf dem Esszimmertisch, sondern auch in der Küche.
Früher waren sie Stammkunden im Vesuvo gewesen, einem kleinen italienischen Restaurant, in dem sie auch ihr erstes richtiges Rendezvous gehabt hatten. Damals war Sophie neunzehn Jahre alt und im dritten Semester ihres Medizinstudiums gewesen. Er hatte sie während des Anatomiekurses kennengelernt, an dem sie als Studentin und er als betreuender Tischassistent teilgenommen hatte. Er hatte sich Hals über Kopf in das auffallend hübsche Mädchen verliebt, das stets behutsam und bedacht handelte. Einige Monate hatte er ihr mit allen erdenklichen Anatomie-Tipps und Charme-Tricks den Hof gemacht, bis sie sich letzten Endes bereit erklärte, mit ihm auszugehen.
Eineinhalb Jahre später wurde Emma geboren. Sie heirateten, als Sophie im dritten Monat schwanger war. Sie beendete zwar ihr Studium, verschob die Ausbildung zum Facharzt jedoch auf einen unbekannten späteren Zeitpunkt, um sich zunächst voll und ganz Emma widmen zu können.
„Sie hat seit drei Jahren nicht mit mir gesprochen und wird es jetzt wohl kaum tun. Sie gibt mir die Schuld.“ Maria füllte etwas von der dunkelroten Flüssigkeit in das Glas.
Paul sah sich in dem unaufgeräumten Wohnbereich um. Alte Zeitungen lagen zerfleddert rund um das Sofa. Die Zierkissen auf den Sitzpolstern purzelten durcheinander. Eine Gläserparade bevölkerte den Sofatisch. Dazwischen quetschten sich die Fernbedienungen von Fernseher und DVD-Player.
„Aber du weißt, das stimmt nicht. Es ist nicht deine Schuld.“
„Nur begrenzt. Ich habe Emma nicht nur zwei Minuten allein gelassen. Insgesamt waren es fünfzehn Minuten. Ich würde alles dafür geben, es rückgängig machen zu können.“ Sie haschte nach dem Glas und hielt es gegen das Licht, das aus der Wohnzimmerlampe strömte.
„Sie gibt auch mir die Schuld, weil ich sie zu dem Ausflug nach Hamburg gedrängt habe, und sich selbst, weil sie eingewilligt hat.“ Paul zog einen Stuhl vom Esstisch und setzte sich. „Du solltest versuchen, nochmals mit ihr zu sprechen.“
„Das werde ich. Ich habe nun viel Zeit.“ Maria nahm einen kräftigen Schluck und berichtete Paul von dem gestrigen Vorfall im Krankenhaus. „Deshalb habe ich eigentlich angerufen. Ich wollte nicht, dass du es von jemand anderem erfährst.“
„Du bist eine Koryphäe auf deinem Gebiet. Hast du dir das wirklich gut überlegt?“ Paul massierte seine Stirn mit der freien Hand.
„In meinem Zustand bin ich wohl eher eine Gefährdung.“ Sie ließ den Alkohol durch ihre Kehle rinnen.
„Was wirst du jetzt machen?“ Paul starrte auf einen leeren Pappkarton.
„Rosen pflanzen. Das wollte ich schon immer.“ Sie schickte eine zweite Fuhre hinterher.
Pauls Blick glitt über das Chaos, dem sein Zuhause gewichen war. Er schwieg.
„Und mich in einer karitativen Organisation einbringen. Du und ich, wir finden durch Ablenkung Trost. Aber Sophie …“ Sie leerte das Glas. „Ich werde morgen bei ihr vorbeischauen und versuchen, mit ihr zu reden. Falls sie mir dazu eine Chance gibt, werde ich probieren, ihr eine Einweisung in ein Krankenhaus schmackhaft zu machen.“ Sie schenkte sich Rotwein nach. „Falls sie mir überhaupt die Tür öffnet.“
„Danke, Maria.“ Er seufzte erleichtert.
„Bis bald, Paul.“ Sie beendete das Telefonat und machte es sich mit der Flasche Wein auf dem Sofa bequem.
Pauls Augen durchbohrten die Zimmerdecke mit der Intensität eines Steinbohrers, als könnte er auf diese Art und Weise einen Blick auf die schlafende Sophie erhaschen. Seine Halsschlagader trat hervor und pulsierte alarmiert. Die blonden Härchen an seinen Unterarmen richteten sich auf.
Er machte auf dem Absatz kehrt und brauste die Treppe hinauf in Emmas Zimmer. „Sophie?“
Sie lag als Kugel