Die Vampirschwestern 6 - Bissige Gäste im Anflug. Franziska Gehm
Nicht irgendein Otto-Normal-Vampir. Es war das größte, angsteinflößenste und ausgewachsenste Exemplar, das der Vampirjäger jemals gesehen hatte.
„Was guckst du, Puschel? Keine Angst, ich will dich nicht aussaugen“, dröhnte Urio Transgoliato. „Na, zumindest jetzt nicht.“
„Das ist … äh … sehr freundlich von Ihnen, Herr Transgoliato.“ Dirk van Kombast klammerte sich noch immer mit den Händen an die Hosennaht. Dort, wo er sich festhielt, entstand ein feuchter Fleck.
„Aber etwas werde ich aus dir heraussaugen: dein Wissen!“, sagte Urio Transgoliato mit grollender Stimme.
„Mein Wissen?“ Dirk van Kombast zog die Augenbrauen zusammen. „O-kay. Aber ich sag es Ihnen gleich: In Geschichte bin ich ganz schlecht.“
Urio Transgoliato ließ sich von dieser Neuigkeit nicht abschrecken. „Ich will nur eins wissen: Wo ist sie? Wo ist Helene Steinbrück?“
„Was?“, erwiderte Dirk van Kombast. Es klang wie ein Hicks, so überrascht war er.
„Du kennst sie doch, oder?“
„Ähm … ja … nein … ein wenig … kaum … vom Sehen.“ Dirk van Kombast wusste nicht, was die richtige Antwort war. War es gut, wenn er Helene Steinbrück kannte? Oder besiegelte er damit sein Schicksal?
„WO IST SIE?“ Zwei dunkelblaue Wolken stießen aus den Nasenlöchern des Vampirs.
Dirk van Kombast war sich sicher, dass Helene Steinbrück mittlerweile dort war, wo er selbst gerne gewesen wäre: in Deutschland. In Bindburg. Vielleicht war sie sogar gerade in der Reihenhaussiedlung im Lindenweg und besuchte ihre bissigen Freundinnen. Vielleicht erzählte sie ihnen gerade, wie er von der rumänischen Polizei abgeführt worden war. Sie hatte ihn vor ein paar Tagen im Wald wie einen Vollidioten aussehen lassen. Sie hatte einfach behauptet, es gäbe keine Vampire. Dabei war sie erst ein paar Minuten zuvor Hand in Hand mit einem Vampir durch den Wald spaziert. Helene Steinbrück war ihm in den Rücken gefallen. Obwohl er ihr das Leben gerettet hatte. Dirk van Kombast hatte keine Skrupel, ihr den Verrat heimzuzahlen.
„WO IST SIE?“, rief Urio Transgoliato abermals.
Dirk van Kombast holte tief Luft. Konnte er das tun? Einen Menschen an einen Vampir verraten? Wahrscheinlich würde Urio Transgoliato Helene aussaugen. Was sollte ein Vampir sonst mit einem Menschen tun? Mikado spielen? Und so, wie dieser Herr Transgoliato aussah, war Helene nur ein kleines Appetithäppchen.
Aber konnte ihm nicht egal sein, was dieser Riesenvampir mit Helene anstellte? Sie hatte ihn im Stich gelassen. Sie hatte sich auf die Seite der Vampire gestellt. Sie war eine gefährliche Vampirsympathisantin. Ein Besuch von Urio Transgoliato würde ihr nur recht geschehen. Dirk van Kombast nickte, um sich davon zu überzeugen, dass er das Richtige tat.
„Helene Steinbrück ist …“ Dirk van Kombast hielt inne. Er erinnerte sich auf einmal an einen Agentenroman, den er vor Jahren bei einem Wellnessurlaub in der Schweiz gelesen hatte. Ein Merksatz war dort immer wieder gefallen: Jede Information hat ihren Preis. Für den Geheimagenten im Buch war eine Information eine Ware, mit der er handelte. Eine hervorragende Idee, fand Dirk van Kombast. Bei dem Agenten im Roman hatte der Handel sehr gut geklappt. Allerdings hatte er mit Menschen verhandelt. Nicht mit einem Vampir in Übergröße. Trotzdem wollte es Dirk van Kombast versuchen. Er räusperte sich. „Sie ist an einem Ort, zu dem ich Sie gerne persönlich führen würde. Da wäre nur eine Kleinigkeit, Herr Transgoliato, Sie müssten mich vorher hier rausholen.“
Urio Transgoliato riss die Augen auf. Die feuerrote Iris schien sich um die Pupille zu drehen. „WAS? Du willst handeln? Mit MIR?“
„Nennen wir es doch einen Austausch im gegenseitigen Interesse.“ Dirk van Kombast wedelte unauffällig die dunkelblaue Wolke vor seinem Gesicht weg, die ihm aus der Nase des Vampirs zusammen mit einer Portion Empörung entgegengeströmt kam.
„Dass ihr Menschen immer spielen müsst. Kein Wunder, dass aus euch nichts wird“, murmelte Urio Transgoliato. „Na gut, Puschel, du hast es nicht anders gewollt.“
Alles ging so schnell, dass es Dirk van Kombast wie eine einzige Bewegung vorkam.
Urio Transgoliato umklammerte einen Gitterstab des Fensters mit dem kleinen Finger, zog kurz daran, hatte in der nächsten Sekunde das gesamte Gitter in der Hand, schleuderte es wie einen lästigen Krümel hinter sich, langte mit dem anderen Arm in die Zelle, schnappte sich Dirk van Kombast am Kragen, zog ihn aus der Gefängniszelle, warf ihn sich auf den Rücken wie eine dünne Schlenkerpuppe und erhob sich in den tiefblauen Nachthimmel.
„HILFE – HILFE – HILEEEEE!“, schrie Dirk van Kombast.
„Klappe, Puschel“, bellte Urio Transgoliato nach hinten. „Du wolltest mich doch höchstpersönlich zu Helene Steinbrück führen. Wo liegt jetzt das Problem?“
„Ich … äh … bin nur nicht angeschnallt.“ Dirk van Kombast krallte sich an den Schultern des Vampirs fest und starrte nach unten. Das Gefängnis wurde immer kleiner. Bald war es nur noch so groß wie eine Streichholzschachtel. Die Autos sahen aus wie Käfer, ihre Scheinwerfer wie Fühler, die über die Erde tasteten. Die Nachtluft knisterte vor Kälte und Gefahr. Mit jedem Höhenmeter, den sie dem Mond entgegenstiegen, wurde sie immer kühler.
Dirk van Kombast zitterte. Nicht vor Kälte. Vor Angst. Er befand sich mehrere Hundert Meter über der Erde. Lag flach wie eine Kellerassel auf dem Rücken eines Vampirs, der doppelt so breit war wie er und ihn um mindestens zwei Kopflängen überragte. Noch nie war er seinem Feind so nah gewesen. Doch er konnte nichts gegen ihn ausrichten. Er hatte keinerlei Waffen bei sich und hätte zu seiner Verteidigung noch nicht einmal einen Knoblauchrülpser hervorbringen können.
Natürlich – er könnte versuchen, den Vampir mit den bloßen Händen zu würgen, ihn ins Ohr zu beißen oder ihm sein Knie in die Seite zu rammen. Doch das schien Dirk van Kombast unklug, wenn er an die momentane luftige Lage dachte und sich daran erinnerte, wie Urio Transgoliato mit dem kleinen Finger das stählerne Gitter vom Fenster gerissen hatte.
„Also, was ist? In welche Richtung müssen wir?“, fragte Urio Transgoliato.
Dirk van Kombast schlang die Beine um die Hüften des Vampirs, richtete sich ein wenig auf und zeigte mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger in die Nacht. „Nach Norden!“
Wiedersehen macht Gänsehaut
Ludo Schwarzer saß in einem Sessel aus der Zeit des Biedermeiers. In dem Sessel hatte schon sein Ururopa gesessen. Ludos Fußspitzen berührten gerade so den Boden. Die Sessellehne umgab Ludos Kopf wie ein gigantischer Helm. Manchmal stellte sich Ludo vor, der Sessel wäre eine Kapsel, mit der er durch die Zeit reisen könnte. Er fühlte sich sehr wohl in dem alten Sessel.
„Und dann haben wir Helene noch den Flugparcours gezeigt“, sagte Daka. Sie hing kopfüber an der Gardinenstange im Fenster. Die Gardine hatte sich in ihren schwarzen Haarstacheln verfangen und sah aus wie ein Schleier.
„Und den Blutmarkt“, fügte Silvania hinzu. Sie lag wie eine Diva auf einem Diwan.
„Und das Theatnyk“, meldete sich Helene zu Wort, die auf einem Hocker saß und kippelte.
Ludo hatte die Fingerspitzen aneinandergelegt und nickte. Seit einer Stunde hörte er sich die Geschichten aus Bistrien an, die seine Freundinnen in den Ferien dort erlebt hatten. Er hatte von Oktavians Gruft, von eingelegten Ratten, vom Flug mit Pupsantrieb, von rotzenden Jungfrauen, vom Ha-Chi-Kampf und von Silvanias Saikato-Auftritt gehört. Langweilig war ihm keine Sekunde geworden, höchstens schwindlig.
„Und jetzt sag bloß nicht, du hast das alles vorausgesehen“, sagte Daka.
„Hätte ich das alles gesehen, wäre ich garantiert mitgekommen.“ Ludo sah auf seine Fingernägel und verzog das Gesicht. „Wenn mich meine Eltern gelassen hätten.“
Ludos Eltern waren gerade beim Kunstturmspringwettkampf von Fero. Fero war Ludos Bruder. Er war etwas älter und etwas sportlicher als Ludo. Ludos Eltern wussten nichts von dem vampwanischen Blut, das in den Adern von Ludos neuen Freundinnen floss. Von Ludos übernatürlichen