Die Vampirschwestern 6 - Bissige Gäste im Anflug. Franziska Gehm
Moment, dass er recht hatte.
Fallobst aus Transsilvanien
Seine blonden Locken waren feucht, verklebt und vom Flugwind nach hinten geweht. Seine Hände waren rot und eiskalt. Dirk van Kombast hatte Angst, die Finger könnten abbrechen, wenn er sie bewegte. An seiner Nase hing ein vereister Tropfen. Doch der Vampirjäger wagte es nicht, die Schultern von Urio Transgoliato auch nur eine Sekunde loszulassen, um den Tropfen wegzuwischen. Nicht, solange die Straßen unter ihnen wie winzige Regenwürmer aussahen. Seine Zähne klapperten. Seine Nasenflügel bebten. Vor allem, wenn Urio Transgoliato eine dunkelblaue Wolke ausstieß.
Dirk van Kombast stiegen vor Freude die Tränen in die Augen, als er nach ungefähr 1500 Flugkilometern von Weitem die Lichter von Bindburg erkannte. Die Großstadt breitete sich am Rand eines kleinen Gebirgszugs aus. In der kohlrabenschwarzen Nacht glänzte sie wie ein goldener Teppich. Noch nie war Dirk van Kombast die Stadt, in der er wohnte, so schön vorgekommen. Die Lichter funkelten verheißungsvoll, wie Kerzen am Weihnachtsbaum. Sie kündeten von Leben und Menschen. Normalen Menschen. Menschen, die tagsüber arbeiteten und nachts schliefen. Die zweimal am Tag Zähne putzten, zweimal die Woche einkauften und zweimal im Jahr zum Zahnarzt gingen. Menschen, die nichts von den blutrünstigen Wesen in ihrer unmittelbaren Nähe wussten. Die ernsthaft glaubten, Vampire gäbe es nur in Büchern, Filmen und Kinderköpfen. Manchmal wünschte sich Dirk van Kombast, er wäre einer von ihnen. Er könnte arglos durchs Leben taumeln. Statt sich nachts an schauerlichen Orten auf die Lauer zu legen oder im Verborgenen an Knoblauch-Spezialwaffen zu basteln, könnte er einen Töpferkurs machen. Oder einen Steingarten anlegen. Oder die Verkäuferin mit den rotblonden Haaren und den olivengrünen Katzenaugen von Kasse vier im Bio-Supermarkt auf einen Mango-Lassi einladen.
All das könnte Dirk van Kombast tun – müsste er nicht seine Mutti rächen und die Menschheit vor einer Unterwanderung durch die Vampire bewahren. Dirk van Kombast war ein pflichtbewusster und zielstrebiger Mann. Er ließ niemanden im Stich und gab niemals auf. Selbst, wenn er sich auf dem Rücken des Feindes in sieben Kilometer Flughöhe befand und weit und breit keine Knoblauchzehe in Sicht war.
„Dort ist es“, sagte Dirk van Kombast und zeigte auf die Lichter der Stadt. „Bindburg. Dort wohnt Helene Steinbrück.“
Urio Transgoliato stieß anstelle einer Antwort eine dunkelblaue Wolke aus und ging langsam in den Sinkflug über.
Dirk van Kombast klammerte sich mit den Armen um den Hals des Vampirs und mit den Beinen um seine Hüften. Er sah, wie die Lichter der Großstadt immer näher kamen und sich in einzelne Gebäude verwandelten, wie aus Regenwürmern Straßen wurden und aus Käfern Autos. Er erkannte die fünf großen Türme des Rathauses, sogar die Ritterstatue auf dem höchsten Turm. Würde er nicht gerade auf dem Rücken eines gigantischen, blutrünstigen Wesens sitzen, hätte er gerne einen Stadtrundflug gemacht.
„Wohin jetzt, Puschel?“, dröhnte der gewaltige Vampir.
Dirk van Kombast spürte jede einzelne Silbe auf dem Rücken wie ein Erdbeben. Sein Herz galoppierte vor Schreck. „Dort entlang“, erwiderte er mit klappernden Zähnen. „Zum nördlichen Rand der Stadt.“ Er leitete Urio Transgoliato zur Reihenhaussiedlung und in den Lindenweg. Hätte ihm vor einer Woche jemand gesagt, dass er auf dem Rücken eines ausgewachsenen Vampirs aus Transsilvanien nach Hause kehren würde, hätte er der Person lächelnd auf die Schulter geklopft und ihr geraten, es mal mit mehr Obst zu versuchen.
Noch war er nicht zu Hause. Sie flogen gerade geräuschlos über die Dächer des Lindenwegs hinweg. In den meisten Häusern brannte kein Licht oder die Rollläden waren heruntergelassen. Ein gescheckter Hund trippelte über die verlassene Straße. Er hob den Kopf und sah zum Himmel. Als Urio Transgoliato sich mit ausgebreiteten Armen und bestialischem Grinsen vor den Mond schob, zog der Hund den Schwanz ein, duckte sich und rannte schnell zu einem Auto, unter dem er verschwand. Es war ein silberner Sportwagen. Er stand vor dem Reihenhaus Nummer 21.
„Hier“, sagte Dirk van Kombast und zeigte auf das Reihenhaus.
Urio Transgoliato flog über dem Haus eine Runde. „Da wohnt sie?“
Dirk van Kombast schluckte einen Angstknödel herunter, der ihm im Hals steckte, seit sie die Lichter der Großstadt gesehen hatten. Erst da war ihm klar geworden, dass es ein kleines Problem gab. Für den übergroßen Vampir war es aber womöglich ein übergroßes Problem. Dirk van Kombast wusste nicht, wo Helene Steinbrück wohnte. „Äh … nein. Da wohne ich.“
Kaum hatte Dirk van Kombast das gesagt, war er in eine tiefdunkelblaue Wolke eingehüllt. Der Vampirjäger hatte das Gefühl, als hätte jemand eine Tüte mit fünf Wochen altem Biomüll über seinen Kopf gestülpt. Er hustete. Er würgte. Er flehte den Vampir an: „Aber gleich nebenan, im Haus Nummer 23, da ist sie manchmal. Also, sehr oft. Genau genommen fast jeden Tag. Was sage ich, ständig. Helene Steinbrück ist so gut wie eingezogen bei den Tepes.“
„FUMPFS! WO WOHNT SIE?“ Urio Transgoliatos Stimme donnerte so laut, dass die Rollläden wackelten und im Vorgarten von Frau Zicklein im Reihenhaus Nummer 18 eine Topfpflanze umfiel. „Und KEINE SPIELCHEN, Puschel!“
Auf Dirk van Kombasts Ohren stellten sich feine Härchen auf, von deren Existenz er bis dahin noch gar nichts gewusst hatte. „Ich … ich … ich weiß es nicht.“
Urio Transgoliato stieß einen durchdringenden, gellenden Schrei aus. Es klang, als würden zwanzig Vampire mit ihren achtzig Eckzähnen an einer Schultafel entlangschaben. Frau Zicklein, die durch die nächtlichen Geräusche alarmiert worden war, schloss das Fenster gleich wieder, als sie den Schrei hörte.
„Bitte, Herr Transgoliato, beruhigen Sie sich. Ich bin sicher, Sie werden Helene Steinbrück bald im Lindenweg Nummer 23 antreffen.“ Dirk van Kombasts Stimme klang wie die eines neunjährigen Chorknaben. „Wenn Sie jetzt die unwahrscheinliche Güte besäßen, mich freundlichst und sanft auf der Erde abzusetzen. Es war ein wunderbares Flugerlebnis, wirklich, ganz ausgezeichnet, aber auch der schönste Flug ist einmal irgendwann zu Ende. Sie sind sicher ganz erschöpft und wollen vielleicht eine Kleinigkeit essen … äh, nein, ich meinte natürlich, sich ausruhen nach dem langen Flug, die Arme ausschütteln und …“
Weiter kam Dirk van Kombast nicht. Urio Transgoliato flog mit einem Satz über das Dach des Reihenhauses und legte über dem kleinen Hintergarten des Vampirjägers eine Vollbremsung hin. Dann blieb der Vampir kopfüber in der Luft stehen.
Dirk van Kombast nicht. Durch die Vollbremsung wurde er nach vorne geschleudert, hielt sich eine Sekunde am Mantelkragen des Vampirs fest, dann eine Sekunde an einem kräftigen Nasenhaar, dann …
… fiel er …
… im Steilflug …
… direkt …
… nach …
… unten.
„Keiner treibt ungeschoren Spielchen mit URIO TRANSGOLIATO! Krötz jobju suchoi murja!“, hörte Dirk van Kombast noch im Fallen.
KNACK.
WOMMS.
RUMMS.
Für ein paar Sekunden wurde es so finster, wie es in keiner Nacht sein kann. Dann flimmerte etwas vor Dirk van Kombasts Augen. Erst meinte der Vampirjäger, Sterne zu sehen. Dann erkannte er, dass es Äpfel waren. Reife, verfaulte, verbeulte Äpfel. Überall um ihn herum. Sah so der Himmel aus?
Auf einmal knackte etwas. Im ersten Moment dachte der Vampirjäger, es wären seine Knochen. Dann erkannte er, dass er auf einem Ast saß. Da war es allerdings schon zu spät. Dirk van Kombast krachte nach unten. Samt Ast und ein paar verfaulten Äpfeln.
Er schrie zehn Sekunden lang. Vor Angst. Und vor Schmerz. Erst spürte er ihn am Ellbogen, dann am Rücken und schließlich im Bein.
Er schrie noch mal zehn Sekunden.
Auf einmal bemerkte er, dass am Zaun zum Nachbargarten jemand stand. Es war weder ein Gartenzwerg noch ein Riesenvampir. Es war Frau Zicklein. Sie trug ein rotes, knielanges Nachthemd und hatte die rosafarbene Schlafmaske, auf der in Schnörkelschrift Sleeping Beauty stand, in die Haare geschoben.
Wenn