G. K. Chesterton: Krimis, Aufsätze, Romane und mehr. Гилберт Кит Честертон
der Gewalt dieses großen Feindes der Menschheit, dessen ganzes Gehirn eine einzige Folterkammer war. So oft Syme auf den Platz hinabsah, sah er den trostbietenden Blauen da unten: eine Säule des Gemeinsinns und -wohls. Und so oft er sich nach der Frühstückstafel umdrehte, sah er, wie der Häuptling ihn mit seinen riesigen, unausstehlichen Augen in aller Ruhe visitierte.
Und bei all den widerstreitendsten Gedanken fielen ihm zwei Dinge nie und nimmer ein. Erstlich – es wollte ihm nimmer beifallen, daß der Präsident und seine Räte ihn auslöschen konnten, wenn er sich länger noch so abseits verhielt. Wohl wars ein öffentlicher Platz – wohl schien solches Projekt unausführbar. Aber Sonntag war nicht so leicht der Mann, der nicht irgendwie und irgendwo eine unerbittliche Schlinge gelegt oder eine tödliche Falle aufgestellt hätte. Durch ein geheimes Gift entweder oder einen plötzlichen Straßenunfall, durch Hypnotismus oder höllisch Feuer konnte ihn Sonntag gewißlich zu einem sichern Tod verurteilen. Wenn der Präsident was argwohnte, war Syme ein toter Mann und wurde entweder hier gleich in seinem Stuhl kalt gemacht oder lange nachher als wie durch eine selbstverschuldete Krankheit. Wenn er nun eilends die Polizei herbeirief, jedermann verhaftete, alles erzählte und die ganze Energie Englands gegen sie aufbot, dann mochte er entkommen – anders auf keinen Fall. Das war ein Balkon voller Herren, die auf einen lichten geschäftigen Platz hinaussahen; und doch war er seines Lebens nicht sicherer unter ihnen als mitten in einem Boot voll bewaffneter Piraten auf weiter verlassener See …
Und da war ein zweites Ding, das ihm nicht einfiel. Nämlich: es wollte ihm nie und nimmer beifallen, daß er dem Feind geistig unterlegen sein konnte. Viele Moderne, an blinde Verehrung des Intellekts und der Kraft gewöhnt, wären in ihrer Ergebenheit unter diesem niederschmetternden Eindruck einer großen Persönlichkeit erzittert. Sie hätten Sonntag, mag sein, den Übermenschen genannt. Falls solch Wesen überhaupt zu begreifen ist, dann sah er ja in der Tat nach einem solchen aus – mit seiner erderschütternden Erhebung, wie er gleich einer steinernen Statue einherschritt. Die hätten ihn, mag sein, einen Übermenschen genannt – um seiner Riesenpläne willen, die zu öffentlich waren, als daß man sie geheim überwacht hätte, und um seines Riesengesichts willen, das zu offenbar, als daß man es verstanden hätte. Aber das war eine Art moderner Niedrigkeit, in die Syme eben aus einer extremen Kränklichkeit nicht verfallen konnte. Wie irgendeiner war er feig genug, große Kraft zu fürchten. Aber er war nicht ganz feig genug, sie zu bewundern …
So wie sie sprachen, die Herren, so aßen sie auch. Und sogar darin waren sie typisch. Dr. Bull und der Marquis, die aßen gelegentlich und wie sies gewöhnt waren, von den besten Dingen der Tafel – kalten Fasan oder Straßburger Pastete. Der Sekretär aber, der war Vegetarianer und setzte sich bei einer rohen Tomate und drei Quart lauwarmen Wassers ernstlich über den projektierten Mord auseinander. Der steinalte Professor sabberte derart, daß dir das Ekelhafte seiner zweiten Kinderzeit bis zum Erbrechen klar wurde. Und selbst darin bewährte Präsident Sonntag seine kuriose Vorherrschaft über die Massen. Er aß … für zwanzig. Er aß unglaublich. Mit einem gräßlich nimmermüden Appetit. Fraß, fraß, fraß, fraß. Aber immer wieder, so nach einem Dutzend Kuchen oder einem halben Liter Kaffee starrte er aus seinem schiefgeneigten Riesenkopf von einer Seite her … Syme an.
»Ich habe mich oft schon gefragt«, sprach der Marquis und nahm eine große Marmeladenschnitte, »ob es nicht besser wäre, wenn ich es mit einem Messer täte. Die besten Dinge sind mit einem Messer vollbracht worden. Und das müßte ein ganz neues Gefühl sein, einem französischen Präsidenten so etwas wie ein Messer hineinzurennen und das drinnen ein paarmal umzudrehen.
»Sie sind im Irrtum«, sprach der Sekretär und zog seine schwarzen Brauen zusammen, »das Messer, das drückt altmodisch genug nur einen persönlichen Streit mit einem persönlichen Tyrannen aus. Dynamit aber – das ist nicht bloß unser bestes Instrument: es ist auch unser bestes Symbol. Es ist ein so vollkommenes Symbol unserer selbst wie Weihrauch für die Gebete der Christenheit. Es ist expansiv; es zerstört nur, weil es sich ausbreitet. Genau so wie der Gedanke zerstört, weil er sich ausbreitet. Eines Menschen Gehirn ist eine Bombe«, rief er aus, sein seltsam verhaltenes Wesen plötzlich aufgebend und seinen eigenen Schädel mit wütenden Püffen traktierend, »mein Gehirn fühlt wie eine Bombe, Tag und Nacht! Es muß sich ausbreiten – und wenn das Universum dabei in Stücke geht!«
»Ich möchte nicht, daß das Universum nun eben jetzt in Stücke ginge«, dehnte der Marquis seine Worte. »Ich will noch eine große Menge tierischer – bestialischer Dinge tun, bevor ich sterbe. Ich dachte den gestrigen Tag im Bett noch darüber nach.«
»Nein. Wenn das letzte Ende eines Dings nichts ist«, sagte Dr. Bull mit seinem sphinx-gleichen Lächeln, »so scheint es mir kaum wert, daß man es tut.«
Der steinalte Professor starrte mit tollen Augen zum Mauerverputz hinauf und sprach:
»Ein jeder Mensch weiß in seinem Herzen, daß nichts wert ist, daß man es tut.«
Da war ein Schweigen. Und dann, sagte der Sekretär:
»Wir sind etwas vom eigentlichen Thema abgekommen. Die Frage ist einzig die, wie Mittwoch den Coup ausführen will. Ich denke, wir sollten alle wie bisher für die Bombe sein. Was die Vorbereitungen dazu angeht, möchte ich vorschlagen, daß er morgen früh zu allererst – –«
Da losch die erleuchtete Rede ein ungeheuerer Schatten aus: – Präsident Sonntag war aufgestanden, den Himmel verfinsternd.
»Bevor wir das verhandeln«, sagte er still und gemächlich, »wollen wir uns in ein Extrazimmer verfügen. Ich habe etwas sehr – sehr Wichtiges zu sagen.«
Syme war vor allen ändern in der Höhe. Nun war der Augenblick gekommen. Die Pistole auf ihn gespannt. Auf dem Pflaster unten hörte er den Blauen müßig stapfen und stampfen, denn der Morgen, obwohl sonnig, war kalt…
Fing mit einemmal mit einer heiteren Weise eine Drehorgel auf der Straße zu singen an. Und Syme stand stramm – als wär das ein Signal vor der Schlacht. Er kam sich vor: angefüllt mit einem übernatürlichen Mut, der von nirgendwo kam. Jene klingelnde Musik schien erfüllt von der Lebenskraft und Roheit und sinnlosen Tapferkeit der Armen, die in all jenen schmutzigen Straßen sich all anklammerten an die Güte und die Nächstenliebe der Christenheit. Sein Jungenstreich, ein Polizeimann zu sein, war aus seinem Gedächtnis ausgewischt; er war gar nicht mehr der Vertreter jenes Gentlemenkorps von lauter verdrehten Konstablern, er dachte gar nicht mehr an den alten Verrückten in der Dunkelkammer – – er fühlte sich nur noch als der Ambassadeur all jener armen Werkeltagsleute auf den Straßen, die Tag für Tag zu den Klängen der Drehorgel in den Kampf marschierten. Und dieser edle Stolz, ein Mensch zu sein, erhöhte ihn königlich, erhob ihn in unendliche Höhen –- unsagbar hoch über all die monströsen Männer da um ihn herum. Für einen Augenblick einmal geruhte er vom Sternengipfel seines schlichten Menschseins und nichts als Menschseins herabzuschauen auf ihre krampfhaft zuckenden, kriechenden, zappelnden, krabbelnden Exzentrizitäten. Er fühlte sich ihnen gegenüber so unbewußt und elementar überlegen wie ein tapferer Mann gegenüber reißenden Tieren oder ein Weiser wütigen Narren. Er wußte es wohl: er war weder von der geistigen, noch Von der Körperkraft des Präsidenten Sonntag; aber in diesen Augenblicken sollte es ihn so wenig bekümmern wie etwa die Tatsache, daß er nicht die Muskeln eines Tigers oder ein Horn auf seiner Nase so wie ein Rhinozeros hatte. Er bestand quasi nur noch aus einer allerletzten Gewißheit, daß der Präsident unrecht hatte und die Drehorgel recht. In seiner Seele sang jene unwiderlegbare alles niedersiegende Wahrheit aus dem Rolandlied – »Païens ont tort et Chrétiens ont droit«, die im alten nasalen Französisch das Getöse und Klirren von Eisen hatte. Diese Befreiung seines Geistes von der Last aller Schwachheit löste den unerschütterlichen Entschluß aus ihm aus, den Tod zu umarmen. Wenn die Armeen hinter der Drehorgel standhaft in ihrem uralten Versprechen waren, so wollte auch er es sein. Es beseelte ihn mit ungemeinem Stolz, sein Wort zu halten, weil er es Ungläubigen, Heiden und Schurken und Verbrechern hielt. Sein höchster Trumpf über diese Tollhäusler war, ihnen in ihr dunkelstes Dunkel zu folgen und für etwas den Tod zu leiden, das sie nie begreifen konnten. Sang nicht die Drehorgel den Takt zum Heroenmarsch als wie ein ganzes Orchester? Drummte es nicht tief unter all den Drommeten stolz-stolzen Lebens als wie die Trommel stolzesten Tods?
Die