Karin Bucha Paket 1 – Liebesroman. Karin Bucha
jäh in die Wirklichkeit gerissen wird.
Sie trägt ein Tablett vor sich her. »Wir werden heute gememsam bei dir frühstücken, Viola«, sagt sie. Sie weist dabei mit dem Daumen hinter sich. »Jetzt ist es tatsachlich passiert.«
» Was denn?« erkundigt Viola sich mehr aus Höflichkeit als aus Interesse. Ihre Gedanken sind noch bei Kempens Abreise.
»Der gnädige Frau ist hiergeblieben.«
»Richtig!« Jetzt erst kommt Viola zum Bewußtsein, daß sie die schlanke vornehme Dame, die ihr einen heillosen Schrecken eingejagt hat, nicht mit einsteigen sah. »Ist das sehr schlimm?« erkundigt sie sich gleichgültig tuend.
»Mehr als schlimm, Viola.« Brigitt läßt sich neben den Tisch auf einen Sessel sinken. »Übrigens soll ich dir noch vom Herrn ausrichten, du möchtest der gnädigen Frau möglichst aus dem Wege gehen «
»Warum denn?« fragt Viola in aller Unschuld. »Ich habe doch nichts verbrochen.«
»Weiß ich, weiß ich«, beschwichtigt Brigitt sie. »Aber wenn sie dich mit ihren kühlen Augen unverwandt ansieht, dann kommst du dir schon wie ein Verbrecher vor, ohne etwas verbrochen zu haben.«
Viola wirft den Kopf trotzig und stolz in den Nacken. »Dann werde ich sie ebenso kühl anblitzen«, entgegnet Viola kampfbereit.
»Nein, das wirst du eben nicht«, widerspricht Brigitt mit Nachdruck. »Du mußt jeden Zusammenstoß mit ihr vermeiden.«
»Gut«, sagt Viola gleichmütig. »Dann werde ich ihr eben aus dem Wege gehen.« Daß sie schon beim ersten Anblick heillos erschrocken war, verschweigt sie. Als ängstlich will sie Brigitt gegenüber nicht gelten.
»Du könntest mir ein paar Besorgungen im Dorf machen, Viola. Willst du?« richtet Brigitt das Wort an die lustlos auf ihrem
Toast herumkauende Viola. »Allerdings würde ich dir empfehlen, diesmal nicht zu reiten.«
»Sehr gern, Brigitt. Schreibe mir alles auf. Ich laufe gleich los«, erklärt Viola sich ohne Zögern bereit.
Sie hilft Brigitt das Geschirr zusammenstellen und begleitet sie in den Raum, den Brigitt sich neben der Küche eingerichtet hat und in dem sie auch ihre Bücher führt.
»Setz dich«, fordert sie Viola auf. »Nur noch ein paar Kleinigkeiten aufschreiben.«
Viola setzt sich nicht, sie stützt die Hände auf die Fensterbank und sieht in den Park hinaus, der von hier aus gut zu übersehen ist. Sie ist ganz versunken in den Anblick und kann sich immer wieder neu begeistern. Sie sieht auch den Weg, den sie gestern zusammen mit dem Hausherrn gegangen ist. Er ist ihr so nahe, daß sie meint, sein herbes Parfüm, das seiner Kleidung entströmt, zu riechen.
»So, das war es.« Brigitt schiebt Viola ihre Liste zu und ermahnt sie: »Beeile dich, Kind.«
»Kannst dich auf mich verlassen.« Das sagt Viola schon von der Tür her. Einen umfangreichen Korb am Arm, wandert sie durch den Park dem hinteren Ausgang zu, von wo aus sie schneller ins Dorf kommt. Sie ahnt nicht, daß Brigitt sie aus Feodoras Nähe haben will. Meistens bringt ihr der Eleve alles mit dem Wagen mit, wenn er die Post abholt.
Viola trägt ein reizendes Waschkleid und sieht kindhaft jung und reizend arm aus. Das Haar fällt ihr bis auf die Schultern. Hin und wieder streicht sie es aus der heißen Wange oder wirft es über die Schulter zurück.
Sie geht, unangefochten der hämischen Blicke, die ihrer grazilen Gestalt folgen. Sie merkt auch nichts von dem Getuschel, das ihrer Person gilt. Ausgerechnet ins Herrenhaus ist Viola gekommen, wo sich jedes Mädchen im Dorf die Finger danach leckt. Der Kleinen, diesem schwarzen Teufel, ist es gelungen.
Hm! Wer weiß, welchen Preis das Mädel dafür bezahlt hat. Keiner kommt auf den Gedanken, mit dieser Vermutung auch den Gutsherrn zu beleidigen.
Als sie sich der Hauptstraße nähert, entdeckt sie einenTeil der Dorfjugend, wie sie sich um etwas drängelt. Viola verhält den Schritt Der Ton einer Geige dringt zu ihr und sie lächelt vor sich hin. Der blinde Michel spielt. Sie hört ihn gern und lauscht meist andächtig seinen Melodien, und sie freut sich immer, wenn er ein paar Pfennige für sein Spiel bekommt. Sie mag ihn auch so gut leiden, diesen alten blinden Mann, der ganz für sich allein abseits vom Dorf lebt und ein kümmerliches Dasein fristet.
Aufgeregt hört sie beim Näherkommen die Jungens und Mädels tuscheln. Etwas abseits bleibt sie stehen. Deutlich hört sie die etwas heisere Stimme des blinden Michel.
»Ihr braucht nicht zu lachen. Ich weiß, daß ihr mir Hosenknöpfe in meinen Hut geworfen habt.«
Viola bahnt sich einen Weg bis zu Michel. Sie sieht sein trauriges Gesicht, bemerkt sein zwar sauberes, aber abgetragenes Hemd, die mehrfach geflickte Hose, die trotzdem noch Risse aufweist und das nackte Fleisch durchschimmern läßt. Erbarmen mit dem alten Mann befällt sie.
Zu allem Spott beginnt die Jugend noch ein Lied zu grölen, das sich auf den blonden Michel bezieht.
Mit blitzenden Augen stellt Viola sich vor den alten Mann. Die Jungens und Mädels sind so verwirrt, daß sie augenblicks verstummen.
»Schämt ihr euch nicht, mit einem alten blinden Mann Schindluder zu treiben? Hat wirklich keiner von euch einen Pfennig als Gabe für ihn? Wißt ihr überhaupt, wie das sein muß, niemals die Sonne mehr sehen zu können, keinen Himmel, keine Sterne, keine Blumen? Oh, was seid ihr für eine schreckliche herzlose Bande.«
Damit nimmt sie Michels Hut und wirft die Hosenknöpfe mitten unter die Jugend, die darüber wütend aufheult.
Sie nehmen eine drohende Haltung an. Aber etwas an Viola läßt sie zögern. Sie ist nicht mehr das schäbig angezogene, herumgestoßene Mädchen. Und wie die Augen voll Empörung blitzen.
Viola dreht sich Michel zu, greift in ihre Tasche und legt ihm den Rest ihres gehüteten Schatzes in den Hut.
»Da, Michel«, sagt sie mit veränderter, weicher Stimme. »Nimm das. Viel ist es nicht. Aber ich habe nicht mehr. Soll ich dich ein Stück führen. Ich glaube nicht, daß du länger Lust hast, von den albernen Kindern verspottet zu werden.«
»Bist du es, Viola?« fragt der Blinde erleichtert. »Ja, du bist gut. Komm, Kind, hilf mir auf die Beine. Ich möchte heimgehen.«
Behutsam unterstützt Viola den Blinden und führt ihn aus dem Kreis der böse blickenden Kinder heraus. Beide hören sie nicht die Schmährufe, die hinter ihnen herhallen.
»Musikus, dummer Musikus und Teufel, schwarzer Teufel.«
Durch Viola geht es wie ein Ruck. Der blinde Mann spürt es. Er hält Viola fest umklammert. »Laß sie, Kind. Sie sind nicht schlecht, nur sehr übermütig. Ich war schon öfter die Zielscheibe ihres Spottes.«
»Ich auch, Michel.« Viola zittert vor unterdrückter Wut. »Ich konnte sie alle durchprügeln.«
»Vorsicht, Viola«, mahnt der greise Mann. »Strafe sie mit Verachtung, das tut viel weher.«
Viola begleitet den alten Mann so lange, bis sie weiß, daß er seinen Weg allein findet. Sie hat nicht Jack Harry gesehen, der Zeuge dieser kleinen Szene geworden ist. Er ist auch im Hintergrund geblieben. Nicht die Dorfjugend hat ihn interessiert, wohl aber das Mädchen mit dem weichen Herzen.
Wieviel Gesichter hat wohl dieses Mäd-chen, das einmal wie ein Kind, dann wie ein junges stolzes Weib ist. Jetzt hat er sie weich, ja zärtlich gesehen. Er kann sie schlecht mit der wilden Viola vergleichen, die alles versucht hat, mit ›Satan‹ fertig zu werden.
Als sich die Kinder zerstreut haben, setzt er seinen Weg fort. Ihm ist zumute, als habe er etwas besonders Schönes erlebt, das er wie einen Schatz heimträgt.
Erst als sie ihre Einkäufe beendet hat, kommt ihr zum Bewußtsein, daß sie viel Zeit mit dem blinden Michel versäumt hat. Und Brigitt wartet.
Sie nimmt jetzt den Rückweg im Laufschritt. Ein wohlgezielter Wurf aus einem der Gärten, an denen Viola vorbei muß, trifft direkt ihre Füße. Sie stolpert und