Dr. Daniel Staffel 2 – Arztroman. Marie Francoise
Untersuchungen über sich ergehen lassen. Doch das war ja nicht das Schlimmste. Die Ungewißheit, der sie unterlag, machte ihr weit mehr zu schaffen.
Der Stationsarzt Dr. Gerrit Scheibler war zwar sehr rücksichtsvoll, und Cornelia konnte ihn gut leiden, aber wie alle anderen in der Klinik hüllte sich auch Dr. Scheibler in absolutes Schweigen, was die Untersuchungsergebnisse betraf.
Heute stand – wie jeden Morgen – die große Visite an, und Cornelia hatte sich fest vorgenommen, keinesfalls lockerzulassen, bis man ihr endlich sagte, was mit ihr los war. Doch als Professor Thiersch mit forschem Schritt ins Zimmer trat, sank ihr Mut wieder.
Mit gerunzelter Stirn besah sich der Professor die Eintragungen in der Krankenakte, dann wandte er sich Dr. Scheibler zu, sprach kurz mit ihm, wobei er überwiegend lateinische Ausdrücke gebrauchte, und drehte sich schließlich wieder zu Cornelia um.
»Heute steht die Darmspiegelung an«, erklärte er in seiner barschen Art. »Dr. Scheibler wird sie durchführen, aber ich werde ebenfalls zugegen sein.«
Cornelia schluckte. Diese Aussicht war nicht gerade verlockend, zumal sie vor dieser Untersuchung ohnehin schon große Angst gehabt hatte. Nun sollte ihre Furcht vor Professor Thiersch also noch dazukommen.
»Bis morgen früh sind die Untersuchungsergebnisse komplett«, fuhr Professor Thiersch fort und riß Cornelia aus ihren Gedanken. »Dann werden wir über die weitere Vorgehensweise entscheiden.«
»Heißt das… ich habe Krebs?« brachte Cornelia ihre größte Angst zum Ausdruck.
»Das heißt gar nichts!« wies der Professor sie scharf zurecht. »Gleichgültig, was es ist – Ihre Beschwerden müssen schließlich behandelt werden, oder nicht?«
»Doch, natürlich«, gab Cornelia kleinlaut zu.
»Na also«, knurrte Professor Thiersch, zögerte einen Moment und trat dann näher zu ihr. In einer für ihn ganz untypischen, sanften Art berührte er sekundenlang Cornelias Arm, während er mit gedämpfter Stimme hinzufügte: »Machen Sie sich keine zu großen Sorgen, Frau Schalk. Bis jetzt sieht es gar nicht so schlecht aus.« Als täten ihm diese fürsorglichen Worte schon wieder leid, fuhr er in barschem Ton fort: »In einer Stunde werden Sie zur Darmspiegelung geholt.«
»Er hat schon eine ganz besondere Art, mit Patienten umzugehen«, meinte Cornelias Bettnachbarin Bettina Klein, als der Professor mit seinem Ärztestab das Zimmer wieder verlassen hatte.
Cornelia nickte. »Das kann man wohl sagen.« Sie zögerte ein wenig, bevor sie gestand: »Ich habe ein bißchen Angst vor ihm.«
»Da sind Sie nicht allein«, meinte Bettina. »Ich glaube, es gibt niemanden, der vor Professor Thiersch keine Angst hat – seine Ärzte und Schwestern eingeschlossen.«
Cornelia seufzte. »Und nun ist er auch noch bei dieser verdammten Darmspiegelung dabei. Ich habe sowieso schon solche Angst davor.«
»Bekommen Sie so etwas zum ersten Mal?« fragte Bettina.
»Ja«, antwortete Cornelia leise. »Und keiner sagt mir, ob es weh tut oder nicht. Dr. Scheibler spricht immer von unangenehmen Untersuchungen, aber was heißt schon unangenehm? Im Grunde sind Schmerzen ja auch nichts anderes als unangenehm.«
Bettina mußte lächeln. »Da haben Sie recht.« Dann wurde sie wieder ernst. »Wird bei Ihnen nur der Enddarm angeschaut?«
Mit großen Augen starrte Cornelia ihre Bettnachbarin an. »Sie scheinen sich ja gut auszukennen.«
Bescheiden zuckte Bettina die Schultern. »Ich habe schon etliche solche Untersuchungen hinter mir. Professor Thiersch hat vermutlich schon meinen ganzen Körper von innen gesehen.«
Cornelia schauderte. Die Frage nach Bettinas Krankheit lag ihr zwar auf der Zunge, doch sie wagte es nicht, sie zu stellen. Und so zwang sie sich, sich an den Fachausdruck zu erinnern, den Dr. Scheibler ein paarmal gebraucht hatte.
»Bei mir soll eine Ko… Kol…, jetzt weiß ich es nicht mehr«, erklärte sie niedergeschlagen.
Doch Bettina kannte sich auch hier bestens aus. »Eine Koloskopie.« Sie nickte. »Dabei wird der gesamte Dickdarm angeschaut, es ist tatsächlich eine recht unangenehme Untersuchung. Wenn Sie sich einigermaßen entspannen, dann ist es halb so schlimm. Es drückt ein bißchen im Bauch, wenn der Schlauch vorgeschoben wird, aber…«
Bettina Klein kam nicht mehr dazu, das Thema zu vertiefen, denn in diesem Moment wurde Cornelia schon abgeholt.
»So, Frau Schalk, das ist vorerst die letzte Station«, meinte Dr. Scheibler lächelnd, als er sie im Untersuchungsraum in Empfang nahm. »Haben Sie keine Angst, so schlimm ist die Koloskopie nicht.«
Mit großen Augen sah Cornelia ihn an. »Glauben Sie… daß es… Darmkrebs ist?«
»Um Himmels willen, nein!« wehrte Dr. Scheibler sofort ab. »Eine Darmspiegelung wird nicht nur gemacht, wenn Verdacht auf Darmkrebs besteht. Aber Sie haben bei der ersten Untersuchung durch Professor Thiersch über Druckschmerzen in der linken Unterbauchhälfte geklagt, und dafür müssen wir die Ursache finden.«
»Ich… ich habe Angst«, gestand Cornelia leise.
»Vor der Darmspiegelung?«
Cornelia schüttelte den Kopf. »Vor dem Ergebnis.«
*
Bereits am Montag früh unternahm Dr. Metzler einen weiteren Versuch. In seinem und Dr. Daniels Namen beantragte er eine Gemeinderatssitzung, bei der der Bau einer Klinik in Steinhausen erörtert werden sollte.
Bürgermeister Schütz war unschlüssig, ob er einem solchen Antrag überhaupt stattgeben sollte, doch er wußte, daß die beiden Ärzte nicht lockerlassen würden. Und so wurde die Sitzung für den nächsten Morgen anberaumt. Alles, was in Steinhausen Rang und Namen hatte, war anwesend – zu Dr. Daniels und Dr. Metzlers Leidwesen auch Martin Bergmann, der ehemalige Chef der CHEMCO. Er war es auch, der gleich das Wort ergriff.
»Herr Bürgermeister, wie können Sie sich von einem Kerl wie Wolfgang Metzler eine außerordentliche Gemeinderatssitzung aufzwingen lassen?« polterte er los.
»Ich lasse mir nichts aufzwingen!« entgegnete Bürgermeister Schütz ärgerlich. »Die Sitzung ist nötig, weil es ein Problem zu erörtern gibt.« Er wandte sich Dr. Metzler zu. »Bitte, tragen Sie Ihr Anliegen vor.«
Dr. Metzler stand auf und bedachte Martin Bergmann mit einem feindseligen Blick, bevor er zu sprechen begann.
»Vor zehn Tagen gab es in der CHEMCO einen folgenschweren Unfall. Aus bis jetzt noch ungeklärter Ursache explodierte in einem Labor ein Glaskolben. Der Chemiker Gerold Brück kam dabei mit stark brennbarer Säure in Berührung, die sich nahezu im selben Moment entzündete. Dank des vorbildlichen Verhaltens von Herrn Brücks Assistentin konnten die Flammen am Körper des Verunglückten sofort gelöscht werden. Trotzdem trug Herr Brück so schwere Verbrennungen davon, daß ich eine sofortige Einweisung ins Krankenhaus anordnete. Ich leistete Erste Hilfe, soweit es die beschränkten Mittel eines Werksarztes zulassen, während Rainer… ich meine Herr Bergmann junior, einen Notarzt alarmierte, wobei ausdrücklich auf die bestehende Schockgefahr hingewiesen wurde. Unglücklicherweise stürzte genau zu diesem Zeitpunkt auf der Bundesstraße ein Lastwagen um und blockierte beide Fahrspuren. Der Krankenhauswagen mußte einen Umweg fahren und kam nach einer halben Stunde bei der CHEMCO an.« Dr. Metzler schwieg einen Moment und betonte dann noch einmal: »Der Krankenwagen brauchte trotz Blaulicht und Martinshorn eine halbe Stunde vom Kreiskrankenhaus bis hierher – eine Strecke, die man mit einem normalen Wagen in fünfzehn Minuten zurücklegen kann. Als Notarzt und Krankenwagen bei der CHEMCO eintrafen, war Gerold Brück bereits tot – verstorben an den Folgen des Schocks.«
Ein gedämpftes Stöhnen ging durch den Raum. Bis jetzt hatte jeder nur gehört, daß es einen tödlichen Unfall im Chemiewerk gegeben hatte, aber über die genaueren Umstände hatte niemand Bescheid gewußt.
»Gäbe es in Steinhausen eine qualifizierte Klinik, dann wäre Herr Brück noch am Leben, und seine kleine Tochter müßte nicht als Vollwaise