DAS URTEIL. Daphne Niko
verwickelt. Das ist nichts für Frauen und Kinder.«
Sie drückte seine Schultern. »Hört mir zu, Ahimaaz. Wir haben keine Zeit, einen Rettungsplan zu ersinnen. Ihr müsst allein nach Jerusalem reiten. Das ist unsere einzige Hoffnung.«
»Ich kann Euch nicht zurücklassen … mein Kind zurücklassen.«
»Unsere Verpflichtung ist weit wichtiger als wir. Alles, woran wir glauben, alles, was zu erschaffen unser Volk seit der Zeit unserer Vorfahren gekämpft hat, ist in Gefahr. Mein Vater erbaute Jerusalem und den prächtigen Tempel des Herrn durch göttliche Gnade. Die Heilige Stadt und das Heiligtum darin symbolisieren Gottes Gunst für die Hebräer. Niemals dürfen wir sie im Stich lassen. Wir dürfen Jerusalem nicht aufgeben oder den Ungläubigen erlauben, den Tempel zu entweihen … selbst wenn das bedeutet, unser Blut auf der Erde zu vergießen.«
Seine schwielige Hand berührte ihr Gesicht. »Meine kluge und mutige Frau. Selbst wenn ich im Kampf sterbe, so sterbe ich als glücklicher Mann, denn ich kannte die Güte Basemats.«
Sie beugte sich vor und legte ihre Stirn an seine. In dieser Position verharrte sie lange Zeit und lauschte dem Geräusch seines Atems. Sie war sich deutlich bewusst, dass dies ihre letzte Begegnung sein könnte.
Sie richtete sich auf. »Um eine Sache bitte ich Euch.«
»Was immer es ist.«
»Überlasst mir Euer Chepesch.«
Sie hörte, wie das Sichelschwert über das Metallgewebe seiner Taillenschärpe kratzte. Er legte das kleine Chepesch neben ihren Knien auf den Boden.
Sie drückte seine Hände. »Geht jetzt.«
Ohne ein weiteres Wort löste Ahimaaz einen Zeltpfahl und schlüpfte zur unbewachten Rückseite hinaus.
Basemat legte sich eine Hand auf den Mund. Sie verspürte ein schwaches Stechen in der Brust. Trotz all ihres Muts und ihrer Überzeugung war sie noch immer ein Eheweib, eine Mutter, eine Frau. Sie wollte diese Entscheidungen nicht treffen müssen, aber die Umstände ließen ihr keine Wahl. Es machte sie krank, sich vorzustellen, dass Ahimaaz möglicherweise in seinen Tod ritt, dass Ana allein im Zelt eines Offiziers war, dass sie zwischen Gefangenschaft und Hinrichtung wählen musste.
Sie hob das Chepesch auf. Trotz seiner geringen Größe war es ein bedeutendes Werkzeug, eines, das Schaden verursachen konnte. Sie ließ einen Finger über seine Schneide gleiten und ertrug das Brennen, als ihre Haut aufgeschnitten wurde. Sie saugte an der Wunde und schmeckte die metallische Schärfe ihres eigenen Blutes.
Erschöpfung drückte ihre Lider zu. Sie schob ihr Kleid nach oben und steckte das Chepesch in die Falten ihres Lendentuchs. Dann sank sie auf den Teppich nieder und zog Knie und Ellbogen nah an ihren Körper. Eingerollt wie ein ungeborenes Baby dachte sie an ihre Mutter.
Nikali Taschere wurde dem Pharao Psusennes II. von einer seiner Gemahlinnen geboren und Salomon zur Ehe gegeben, um gute Beziehungen zwischen den beiden Nationen zu gewährleisten. Tatsächlich hatte Ägypten nie die Hand gegen Israel erhoben, solange Nikali in Jerusalem gewesen war. Zu Psusennes' Lebzeiten hatten die beiden Länder miteinander Handel getrieben und sich gegenseitig in Form von Arbeitskräften unterstützt. Nach seinem Tod hatte sein Nachfolger, Scheschonq, andere Wünsche und politische Ziele verfolgt. Während Psusennes mit Ägyptens Grenzen zufrieden gewesen war, beabsichtigte Scheschonq, ein Nachkomme von Stammeskriegern, sie auszudehnen – um jeden Preis.
Aber was wollte er von Nikali? Ging es schlicht darum, sämtliche Mitglieder des ägyptischen Königshauses nach Tanis zurückzuholen? War es ein Versprechen an den sterbenden Pharao gewesen, ein Versprechen an den Mann, der ihn als seinen Nachfolger ausgebildet hatte? Mit Sicherheit wollte Scheschonq Nikali nicht für sich selbst; sie hatte die Glanzzeit ihrer Verführungskünste längst überschritten.
Wäre ihre Mutter jünger gewesen, hätte Basemat diese Möglichkeit in Betracht gezogen. Niemand in ganz Israel hatte der jungen Nikali geähnelt; ihre elegante Ausstrahlung war eine Mischung aus ihrer Anmut, ihrer ägyptischen Abstammung und ihres unzähmbaren Temperaments. Wenn sie an der Seite ihres Gatten an Festmahlen teilnahm, wandten die Menschen ihre Augen ab, so groß war ihre Schönheit. Es hieß, sie könne Männer in ihren Bann ziehen.
Und tatsächlich hatte sie diesen Effekt auf Salomon gehabt. Sie war nur eine seiner vielen Ehefrauen, aber bei Weitem seine liebste gewesen. Basemat hatte die Macht gesehen, die sie über ihn besaß. Nachdem Salomon verkündet hatte, dass ihre älteste Tochter heiraten würde, war Nikali wütend hinausgestürmt. Sie hatte sich in ihren eigenen Palast zurückgezogen und war trotz Salomons Bitten nicht wieder herausgekommen.
In jener Nacht, in der Salomon zu Nikalis Tür kam und sie anflehte, ihn hineinzulassen, beobachtete Basemat die Szene heimlich. Seine Ehefrau, in eine durchsichtige Robe gehüllt, erschien im Eingang. Sie stand hinter einem scharlachroten Gewebe, das verhinderte, dass sich die Tür vollständig öffnen ließ. Sie sagte zu ihm: »Betretet mein Gemach, ohne dass der Scharlachschleier zerreißt. In meiner Heimat bittet ein Gatte seine Gemahlin auf diese Weise um Vergebung.«
Salomon schien verwirrt.
»Auf die Knie«, hatte sie gesagt und auf den Steinboden gezeigt.
Basemat war überzeugt gewesen, dass er es nicht tun würde, denn er war der gesalbte König Israels. Gewiss würde ihm sein Stolz einen solchen Akt verbieten. Doch er begehrte seine Frau so sehr, dass er sich wie ein Tier auf Hände und Knie hinabließ und in ihr Zimmer kroch.
Bei der Erinnerung an die abscheuliche Forderung und die deutliche Botschaft, die ihr innewohnte, verzog Basemat das Gesicht. Salomons Geist war so sehr geschwächt gewesen, dass er zum Untergebenen einer Frau geworden war, dass er um fleischliche Gelüste bettelte. Nikali hatte ihn ohne Rücksicht auf seine Seele manipuliert. Und er hatte ihr die Erlaubnis dazu erteilt.
An ihrer Mutter war vieles, das sie nicht verzeihen wollte, aber ihr eigener Bund mit dem Herrn erlaubte es nicht, ein Elternteil gering zu schätzen, ganz gleich, wie fragwürdig dessen Handlungen sein mochten. Wofür ihre Mutter auch stand, sie akzeptierte es. Ihre Treue aber galt jederzeit und bedingungslos ihrem Vater.
Es war ihr schwergefallen, seinem Verfall zuzusehen. Er war schleichend gekommen, aber Basemat konnte die Anzeichen sehen, auch wenn er selbst es nicht vermochte. Die Begebenheit mit dem scharlachroten Schleier war nur einer der Fälle gewesen, in denen er den Übeltäter hätte tadeln und sich von ihm abwenden sollen, um die Unversehrtheit seines Geistes zu bewahren. Stattdessen hatte er der Verlockung des Fleisches nachgegeben.
Das war nicht das einzige Ereignis dieser Art. In seinem Bestreben, friedliche Beziehungen mit den umliegenden Nationen zu führen, hatte er sich eine ganze Reihe fremdländischer Ehefrauen genommen und sie alle mit Begeisterung geliebt. Seiner Frau Naamah, der Ammoniterin, erlaubte er, ihren Gott Moloch auf einem Hügel außerhalb der Mauern Jerusalems zu verehren. Als der Akt von den heiligen Männern des Königreichs für gottlos erklärt worden war, sagte Salomon, dass Naamah die Mutter seines Erben Rehabeam war und daher berechtigt sei, anzubeten, wen sie wollte. Er bestand darauf, dass seine Aufgeschlossenheit seine Seele nicht verdarb, selbst als die Priester ihn warnten, dass er schon aufgrund seiner Verbindung schuldig sei.
Salomon aber glaubte, er stünde über all diesen Dingen. Nie würde Basemat den Tag vergessen, an dem sie eine Auseinandersetzung zwischen ihrem Vater und seinem Hohepriester Zadok mitangehört hatte. Der heilige Mann hatte dem König von einer Vision erzählt, die er in der Nacht zuvor gehabt hatte.
»Ich sah die Feinde vor den Toren Jerusalems, mein Gebieter. Dort stand ein junger Mann, der den Stein der Altane mithilfe eines Steinhammers und eines Pflocks vom alten Stiftszelt abtrug. Sein Gesicht war bedeckt, sodass ich es nicht sehen konnte. Aber er trug die Kleidung Eures Volkes. Ich fürchte, jemand aus Euren eigenen Reihen verschwört sich gegen Euch.«
Salomon schnaubte. »Das ist Unsinn. Meine Männer sind mir treu ergeben. Ich gab ihnen alles, was sie sich nur wünschten … gerechten Lohn, Ansehen, Ehre. Manchen gab ich sogar eine meine Töchter zur Frau. Warum sollte sich einer von ihnen gegen mich wenden?«
Zadok