Memoiren einer Sozialistin Kampfjahre. Braun Lily

Memoiren einer Sozialistin Kampfjahre - Braun Lily


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In den Gassen lärmten ein paar Kinder: Mädchen mit seidenen Schleifen im Haar und zerschlissenen Röckchen über den bloßen Beinen, Knaben, die gierig um ein paar Kreuzer rauften. Vor den Wirtshäusern auf dem schmalen Trottoir saßen in schäbiger Eleganz junge Leute, die lange Virginiazigarre zwischen den schwarzen Zähnen. Die Sonne schien, aber ihre Strahlen trafen auf keinen Lebenssamen, den sie hätten wecken können; die kahlen Mauern, die baumlosen Straßen warfen nur sengende Glut zurück. Fürsten erbauten diese Stadt, und Bettler haben sie daraus vertrieben.

      Wir aber suchten den Frühling. Ein Postwagen mit vier Pferden davor entführte uns aus Trient. Je weiter wir uns von der Stadt entfernten, die wie ein steinerner Sarkophag in der Tiefe schlief, desto lachender wurde die Natur. Auf den Wiesen blühten Lilien und Glockenblumen, um die elendesten Hütten leuchteten in rosiger Pracht die Mandelbäume. In Caldonazzo, einem stillen Nest am Ende des Sees, der den klaren Himmel auf die Erde zu zaubern schien, blieben wir. Unter der Laube im Obstgarten der Trattoria, die von gelben Rosen überwuchert war, wurde uns gedeckt. Vino santo funkelte goldfarbig in den Gläsern, ein kleines Mädchen mit großen runden Augen, wie geschliffene Kohlen, setzte noch eine blaue Vase mit weißen Lilien mitten auf den Tisch. Dann war es ganz, ganz still um uns, ein heiliges Abendschweigen, das wir mit keinem lauten Wort zu stören wagten. Unsere Hände schlangen sich ineinander, fester zog mich sein Arm an seine Brust, und sehnsüchtiger wurden unsere Küsse.

      Schlüsselklirrend ging der Wirt durch den Garten. Wir standen auf. Vor der Tür meines Zimmers blieben wir stehen, stumm, mit herabhängenden Armen, unsere Augen versanken ineinander, und die ganze verzehrende Qual unserer Liebe lag in unserem Blick. »Gute Nacht!« — er berührte mit den heißen Lippen nur meine Fingerspitzen.

      Ich schlief nicht. Durch das offene Fenster strich die laue Luft und trug die süßen Gerüche der Wiesen auf ihren Flügeln. Ich preßte die Zähne zusammen, um nicht den zu rufen, nach dem mein Herz verbrannte, ich drückte die spitzen Nägel meiner Finger mir ins Fleisch, um mit dem Schmerz die Qual zu betäuben, die mein Blut durch die Adern peitschte.

      Draußen im Garten knirschte der Kies, — das Weinlaub am Fenster bewegte sich, — schlich nicht ein Schatten leise vorüber? — O, warum kommst du nicht, — sind meine Arme nicht weich, lockt nicht mein Busen wie Perlmutter glänzend in der Stille der hellen Mondnacht? Was geht mich die Welt an?! Die sanften Höhen dieses blühenden Tales umschließen die meine! Und die Menschen? Da doch niemand ist, als ich und du! Und die Vergangenheit? Sie gehört uns nicht mehr! Und die Zukunft? Nichts ist unser als dieser Frühlingsnacht zauberische Gegenwart! — —

      Aus kurzem, schwerem Morgenschlaf erwachte ich müde und einsam. Wir trafen uns in der Rosenlaube, und die Spuren nächtlicher Kämpfe lagen auch auf seinen Zügen.

      Der Telegraphenbote riß uns aus der Versunkenheit unserer trüben Stimmung. Eine Depesche von Heinrichs Rechtsanwalt: »Frau Brandt verlangt Schlüssel Ihrer Wohnung, kehrt nach Berlin zurück. Stimmung nach Mitteilung ihres Anwalts wesentlich verändert.« Das Telegramm war uns von Bozen nachgesandt worden und trug das Datum von vorgestern. »Ich muß nach Berlin — sofort —. Sie kann alles zerstören,« knirschte Heinrich, »und du — du Arme?!« »Zunächst begleite ich dich, — alles weitere besprechen wir unterwegs.«

      In sausender Fahrt ging es bergab. Die Peitsche des Kutschers pfiff über die schweißtriefenden Pferde. Wir mußten den Schnellzug erreichen. Unterwegs bekam ich einen Herzkrampf. Als ich wieder zu mir kam, ratterte der Wagen über das Pflaster Trients, und Heinrichs angstentstelltes Gesicht beugte sich über mich. »Wirst du weiter können?« Ich nickte. Man hob mich in den Zug. Ich erholte mich soweit, um ruhig denken zu können. Dicht bei Brixen lag unter großen Nußbäumen ein kleines Dorf, Vahrn genannt; dort wollte ich bleiben, bis —. »Bis alles gut ist, mein armer Liebling,« flüsterte er; »wenn ich nur sicher wäre, daß du deiner Angst, deiner Aufregung Herr wirst, — für mich ist der Kampf ein Kinderspiel —« Der Triumph des Sieges blitzte schon aus seinen Augen. In Brixen blieben uns noch ein paar Stunden bis zum Abschied. Auf der Post fand sich ein Brief an mich von der Mutter mit einer Beilage in verstellter Schrift: »Diesen anonymen Wisch bekam ich soeben. Ich habe ihn, Gott Lob, vor Hans verstecken können. Da aber Wiederholungen, womöglich direkt an ihn gerichtete, wahrscheinlich sind, und ich von deinem Anstandsgefühl doch noch so viel erwarte, daß der Inhalt dieses Schriftstückes eine Verleumdung ist und Dr. Brandt nicht mit dir reist, so ersuche ich dich, zu veranlassen, daß er uns seine Anwesenheit in Berlin auf irgendeine Weise dokumentiert ...«

      »Bereits morgen wird das geschehen,« sagte Heinrich, »du stehst, wie notwendig es ist, daß wir das Opfer dieser Trennung bringen. Es wird die letzte sein!«

      Mit einem leisen Vorwurf sah ich ihn an: »Fast scheint's, als freutest du dich, daß du fort mußt!«

      »Ich freue mich der Hindernisse, die sich uns in den Weg legen. Mir wäre bange geworden vor der Größe meines Glückes, wenn sein Besitz keine Opfer kosten würde.« Ich schämte mich meiner Trauer, und wir nahmen Abschied voneinander, fast als wäre es ein Willkommen.

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