Die Geschichten von Hans Bürgers Kindheit (Über 100 Kunstmärchen in einem Buch). Richard von Schaukal

Die Geschichten von Hans Bürgers Kindheit (Über 100 Kunstmärchen in einem Buch) - Richard von Schaukal


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noch den »Figaro«, den »Kikeriki«, den ganzen Gerstäcker und den Brockhaus – den alten, alten Brockhaus – enthielt. Und wo man immer eine alte Tante oder eine noch ältere Großtante antraf, die »Gartenlaube« lag vor ihr aufgeschlagen, und dazu wurde stets gelassen gestrickt. Stricken und – am besten mit Augengläsern – die Geschichten der Marlitt lesen, das gehörte zusammen, so wie zu gewissen sehr appetitlichen Märchen Brot und Salz gehört hatten, was natürlich nur von den Kindern gilt. Und zur Marlitt gehörte es auch, daß man, wenn man die Geschichte, die sich durch einen Band schlang, genossen hatte, allmählich dann darin noch das andere lesen durfte, was Fortsetzungen hatte (unter dreien, vieren war's fad), zum Beispiel die Geschichte von Friedrich von der Trenck, die wegen der Prinzeß Amalie schon etwas bedenklicher war und – merkwürdig! – haften geblieben ist.

      Es war das eine gute, warme Zeit, da die Marlitt die Familien zu fesseln verstand, nicht darum gut und warm, sondern überhaupt. Um Gottes willen, was haben wir denn dafür bekommen! Erst Ebers und Dahn, dann Sudermann und Tovote, und heute – ich weiß nicht, was heute Tanten – wenn es noch welche gibt – lesen; ich muß meine Kinder und Neffen fragen.

      Sonderbarer aber als das alles dünkt einem Nachdenklichen von heute, daß durch dieselbe »Gartenlaube« als Wochenneuigkeit stets Bismarck gewandelt ist, und in seinem Riesenschatten wird auch die harmlose Strickstrumpftante Marlitt geradezu historisch, aber nur, wenn die Dämmerung der Erinnerung einfällt, die einen melancholisch macht und gutmütig ...

       XXI

       Sonntag. Der »Kapuziner« hat drei Uhr geläutet. Der Kapuziner ist eine hölzerne Schweizer Uhr. Sie stellt, knorplig und kraus aus Klötzchen gefügt, eine Waldkapelle vor, eine Klause, darin ein Waldbruder hinter einem sich alle drei Stunden mit Schnurren öffnenden Türchen emsig pumpend den Glockenstrang zieht. Ein kleines Glöckchen bimmelt dann oben im Dachreitertürmchen leise, aber stark klingt zugleich ein Läutewerk im widerhallenden Gehäuse. Wir haben den Kapuziner als kleine Kinder vom Großonkel Christian einmal zu Weihnachten bekommen. Seit einigen Jahren steht er auf einem Wandbrett in meiner kleinen Kinder hellem Zimmer. Und er läutet mir oft in der Nacht, zumal gegen Morgen, meine Kindheit aus dem Traum des Lebens ... Der Onkel Christian liegt auch schon lang unter der Erde. Der weltfröhliche freundliche Freund meiner Jugend hat seine letzten Jahre recht einsam verbracht. Von seinem zu Tode gefütterten bösen Papagei war ihm eine schmale Leiter geblieben, darauf das Tier in plumper Behendigkeit von seinem Ständer zum Fußboden niederstieg, um zu seinen Füßen zu humpeln und an seinen Beinen, sich an den Hosen haltend, auf seine Knie zu klimmen, damit er ihm den Kopf kraute. Auf dieser Papageienleiter hat dann immer aufgeschlagen ein Buch gelegen; denn der Alte hat, aus einem langen Rohr Zigaretten rauchend, bis in sein siebenundachtzigstes Jahr Gerstäcker, Montesquieu und Dumas, Flygare-Carlén und Radcliffe gelesen ...

       XXII

       Ich habe den Winter nicht gern, denn ich mag die Kälte nicht. Als ich jünger war, hab ich das noch nicht so klar empfunden. Wahrscheinlich hängt es mit dem Altern zusammen. Der Jugend, die viel Wärme in sich hat, kann die Kälte nichts anhaben, ja sie sucht sie wie zum Kampf auf. Als ich ein Jüngling war, hat mich der Frühling traurig gemacht. Die Jugend verträgt sich wohl besser mit dem Ungleichartigen. Ihr dünkt der Herbst herrlich, denn sie fürchtet nichts hinter ihm. Ich kann auch jetzt nicht eben den Frühling froh finden, und laute Lust will mir schon gar nicht zu seiner blassen, sanften Art passen. Aber ich liebe ihn zärtlich, den wachsenden, wie ein Kind, mit Rührung, und ich sehne mich nach ihm, sobald er nur von ferne leise sich ankündigt. Der Himmel ist mir jetzt, vom Fenster aus, von schwankenden Zweigen verhängt, die alle noch kahl sind, und viele Stämme stehen weithin in den ansteigenden Gärten. Alles wartet, als könnte über Nacht etwas Wunderbares kommen. Und wenn es dann da ist, das ewig Wiederkehrende, wird es so wenig bedankt. Man betet ja auch bloß, um zu bitten, und nimmt hin, was gegeben wird, ohne sich ausdrücklich zu bedanken. Man dankt überhaupt meist beschämt, verspätet. Die Natur freilich lobt Gott mit ihrem Dasein, jeder knospende Zweig in seiner stillen, unbewußten Herrlichkeit preist ihn. Und Kinder.

       XXIII

       In der Wallfahrtskirche Maria Schutz am Semmering fließt hinterm Altar das kühle Wasser der wundertätigen Quelle ununterbrochen aus der Röhre mit leisem Plätschern durch das marmorne Becken und weiter seinen weltlichen Weg. Vorher und nachher ist es dem Ahnungslosen ein Alltagswasser wie andere. So sind ja auch im Menschen kaum kurze Strecken zu nennende Weilen seiner ununterbrochenen Wanderschaft, die voll Wirkungsfähigkeit sind und wirken, wenn der kommt, der nicht warten kann. Aber wann kommt der Gläubige? Wie viele gehen dahin, ohne ihr Wesen jemals ganz gesammelt dem würdigen Empfänger haben schenken zu dürfen! Und wenn der Mensch sich nicht wenigstens einmal hat ganz hergeben können, hat er nur zum Schein gelebt. Die großen Künstler und die großen Helden und die Heiligen sind die wenigen wahrhaftig Lebendigen. Und die Mütter.

       XXIV

       Manchmal erwach ich wie aus mir selbst heraus. Ich hatte im Traum nicht so sehr in meiner Vergangenheit gelebt wie mit Vergangenem, fast lauter Toten. Und noch ist kaum das letzte Wort ausgeredet – tonlos, wie einen alle Traumgespräche anmuten –, so hat das Wachsein begonnen, ohne Übergang. Dann erheb ich mich, schwankend noch von nicht abgeräumten, unwillig nur abgleitendem Schlaf, und gehe an mein Geschäft. Kann es etwas Trübseligeres geben, als vom Schlaf, vom Traum sich zu trennen, um in den Tag zu traben, diesen sinnlosen Tag der Großen? Ein Kind erwacht von selbst und wird spielen. Der Erwachsene, der sogenannte Tätige, macht sich erwachen und hastet davon ins Tun, in die Tretmühle, spannt sich ein und zieht wieder an irgendeinem Seil, das eine seiner Machenschaften bewegt ...

       Einer der peinlichsten Eindrücke bleibt mir ein Mann, der mit einem Hunde zusammen an einem Karren zieht, nicht etwa wegen des Mannes, den ich nicht mehr bemitleide, nicht weniger verachte als mich, sondern wegen des Tieres, das da mit muß, bewältigt, gezwungen, um seine Würde gebracht, die Dasein heißt, hinlebendes, untätiges Dasein ...

       XXV

       Was kann man seinen Kindern von der eigenen Kindheit sagen? Man kann sagen: ich bin auch so klein gewesen wie du, und meine Mama, deine liebe Großmama, nennt mich heute noch ihren Hans. Und dann erzählt man Geschichten, wie sie die Kinder, die so gern Tatsachen vernehmen, am liebsten haben: daß man einmal etwas zerbrochen hatte und vor der Strafe bange war oder daß man einen Hund besessen hat, der Bimbo hieß und ganz schwarz war und die Nacht durch weinte und wimmerte, so daß ihn der Papa, euer Großpapa, der schon tot ist, am andern Tag unerbittlich fortschaffen und der Tante, die ihn zu Weihnachten geschenkt hatte, zurückgeben ließ ... Aber die Empfindung, die man von der eigenen Kindheit heute hat, und die Gefühle, die ihr, wie man heute meint, eigentümlich gewesen sind, die traumhafte Erinnerung und das ahnende Erleben, die kann man seinen Kindern ebensowenig vermitteln, wie man selbst teil hat an ihren innersten Gefühlen, die hinter den manchmal hell glänzenden und manchmal tief sinnenden Augen in ihnen verschlossen sind und unerforscht bleiben.

      Der alte Garten

       Inhaltsverzeichnis

      Da ist der alte Hof – durch eine nicht eben breite Einfahrt, die den Kindern eine unermeßliche Ausdehnung bedeutete, gelangt man hinein –, der alte Hof mit der buntbemalten Brunnenwand und der weinlaubbekleideten Hausmeisterwohnung neben der Waschküche, aus der immer der warme beizende Seifendampf quoll. Ein paar Stufen führen zum Garten hinab. Er ist von mannshohen Mauern umgeben und scheint außerhalb der Welt zu liegen. Zwei Teppichrasenstücke, eirund im rechten Winkel zueinander gelegen, erfüllen ihn fast. Um sie schlingt sich, in verbogenem Achter in sich selbst zurücklaufend, der mit reinlichem roten Sande bestreute Weg. Katzengold blinkt vertraut. Inmitten des einen Runds steht eine alte tönerne Vase auf gleichfalls tönerner Säule. Efeu gleitet aus der Urne und schmiegt sich um den schlanken Schaft. Hoch aus dem Weinlaub des anstoßenden Fabrikgebäudes – das war noch eine Fabrik aus der guten alten Zeit, ein beschauliches Werk, dessen einförmiges Riemengesumme zur Ruhe des kleinen Gartens wunderbar stimmte; sie hat sich auch der neuen Zeit


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