Die Geschichten von Hans Bürgers Kindheit (Über 100 Kunstmärchen in einem Buch). Richard von Schaukal
Frau erzählen, die dir so lieblich ähnelt, weil sie auch ein so unendlich großes treues Herz besitzt, wie du eines besessen hast in deinen Erdentagen.
Diese alte Frau verkündet eine neue Zeit der Seele. Sie sagt, sie sehe ihre steigende Morgenröte. Und sie ruft alle Menschen zum Frühgebet herbei an ihre Seite. Die Menschen aber kommen eilfertig und verlangen ihre Schriftzüge auf Ansichtskarten und Photographien. Sie verkündet den strahlenden Tag der freien Seele, die adelig ist und in der Verbannung lebt, eine gescholtene Magd, und die Menschen verwechseln den holden Wahnsinn ihrer Wachträume mit dem salböltriefenden Geschwätz der neuen unechten Dichter, die wie eine Heuschreckenwolke vor den Gestirnen der Dichtung stehen. Sie verkündet die Auferstehung der von zähen Satzungen geknechteten Liebe, und die Leute schließen ja doch ihre Ehen auch weiterhin auf Grund von Steuerangaben.
Großmutter, du hättest den kühnen Worten mit deinem alten Kopfe nicht immer zu folgen vermocht, aber du hättest die Kindern und Tieren huldreichen müden Augen verstanden. Du hättest die unermüdliche Rechte gedrückt mit deiner unermüdlichen Rechten – daß jene Bücher schreibt und du deinen Enkeln Strümpfe stricktest, hat nichts Wesentliches zu besagen –, und ihr hättet euch begegnet auf den von Gottes Liebe überstrahlten Gefilden der Armen im Geiste. Denn diese Frau, eine Reiche im Geiste, ist doch eigentlich eine Gefährtin der seligen Armen, denen nach Christi Verheißung das Himmelreich bereitet ist. Sie irrt, wenn sie sich an die gläsernen Intelligenzen wendet und in der Sprache der gottfremden Büchermenschen ihre Lehren verkündet. Sie irrt, denn die ihr folgen, sind nicht Jünger, sondern Publikum. Endlos drängt sich die Schar ihr nach. Sie schreitet voran, mild und glücklich, führen zu dürfen. Aber sie wendet sich einst und erschrickt, denn die ihr gefolgt sind, haben fremde Mienen, in denen das dummsüße Lächeln der Neugierde erschlafft ist. Und die Frau irrt, wenn sie in dieser häßlichen, verlorenen Zeit kostbare Samenkörner streut eines besseren Diesseits. Eine drängende Menge von geistigen Abenteurern zertritt sie. Du hättest ihnen den kleinen gepflegten, altmodischen Garten deines Kinderglaubens als Heimstätte dargeboten, und die edeln Blumen, die der fruchtbaren Erde entsprossen wären, hätten sich schwesterlich den Stiefmütterchen und Georginen deines liebevoll gehegten Erbgutes gesellt.
Wo sind sie denn, die »Menschen der Seele«, an deren Pforten die Wünsche dieser überzeugungssicheren Frau klopfen? Einsam und unerkannt wandeln sie in der öden Fremde dieser lauten Tage. Manche schämen sich ihrer Abkunft und verleugnen die Herrin. Andre fürchten den Zorn der Nützlichkeitsapostel und färben feige ihr Antlitz. Viele aber haben die Sprache der andern wie eine Maske angenommen und sprechen mit ihrer sanften Gebieterin nur in der Stille der Nacht. Es dämmert kein Jahrhundert der Seele herauf, edle Frau. Was du für die Morgenröte des kommenden Tages hältst, ist der letzte glühende Schein des Unterganges. Bald kommt die Dämmerung, grau und feucht, bald leuchten nur noch die künstlichen Lichter der Neuzeit und betäuben den stillen Schein der ewigen Sterne.
Damals aber, als du jung warst, Großmutter, lebte die Seele noch unter uns. Frei trug sie ihr schönes Haupt, ihren göttlichen Blick über den hügeligen Marktplatz unter dem Schatten des Rathausturmes, wo der Herkulesbrunnen rauschte im gehüteten Efeu, damals, als man noch Herz besaß für seine Heimstätten, Herz für die Kinder, Herz für Pferde und Hunde, als man noch unter blühenden Kirschenbäumen zu wandeln den Träumersinn hatte, den angestammten Hausrat ehrte, in blanken Glaskasten und mächtigen Schränken, als noch zärtliche Künstler mit feinen Fingern die Miniaturbildnisse der Familienglieder auf Email malten und die Fenster der guten Stuben mit rankendem Wein umwachsen waren, als weiße Vorhänge der Sonne, leicht wallend im Luftwehen vom Garten her, Einlaß gewährten, als die Kinder den Eltern noch »Sie« sagten, damals, da Ehrfurcht und Sitte, Innigkeit und Anmut noch arglos im Freien gediehen, von weißen Blumen schimmernde Wiesen bescheidener Schönheit!
Die Witwe
Großmutter, du hast bei mir gesessen, wenn ich zu Prüfungen lernte. Ich hatte mir's angewöhnt, einen Zuhörer zu haben. Dann ging die Arbeit flotter vonstatten. Laut lernen mußt ich, denn beim stummen Lesen flogen mir immer die Gedanken fort. Und wenn ich, was ich las, gleichsam lehrte, merkte ich mir die Sachen besser. Du aber warst die geduldigste, gutmütigste Hörerin, die es geben konnte. Mama traf's lange nicht so gut, und die Schwester war trotz löblichem Ehrgeize, mir auch so unentbehrlich zu werden, unbrauchbar für mich, da ich ihre Anwesenheit »nicht ernst nahm«. Dich nahm ich ganz ernst, ja ich behielt dir Abschnitte auf, besonders im deutschen Recht, von denen ich mir einbildete, sie »interessierten« dich ganz besonders. Und während des Lernens gab's doch auch manchmal Gespräche, ernste und heitere, wie's eben kam, meist wohl ernste, auch recht traurige, denn du warst furchtbar schwermütig geworden in den letzten Jahren. Es lag auf dir wie eine Last, und dein früher so aufrechter Gang war auch müd und vornübergebeugt geworden. Wir wollten's nicht glauben, daß du alt wärst, obwohl du's, seit ich denken kann, uns versichertest. Großmutter, ich glaube, schon mit dreißig Jahren hast du dich alt gefühlt. Oder gar noch früher. Denn deine Jugend ist kurz gewesen. Du hast als Achtzehnjährige geheiratet, in drei Jahren gebarst du deinem geliebten Manne drei Kinder. Dann legte er sich hin und starb dir. Und seit der Zeit war die Fröhlichkeit von dir gewichen. Du hast die Witwentracht nicht mehr abgelegt. Deine Traurigkeit haderte wohl manchmal mit Gott und geißelte dich dann zur Strafe für deine Unbotmäßigkeit. Denn Gott war dir vertraut als der Herr und Meister deines Lebens. An ihn wandtest du dich mit deinen bitteren Sorgen, deinen stummen Klagen. Deine Kinder aber hieltest du an, sich ihm zu weihen mit ihren Gedanken und in allem seine Weisungen zu befolgen. Dein verstorbener Mann jedoch, mein unbekannter Großvater, war der Mittler. Und aus dem Mittler war allmählich ein Gegenstand des sehnsüchtigsten, aufreibendsten Dienstes geworden. An seinem Sterbetage, der in den Herbst fiel, nahmst du die Kinder in deine dunkle Kammer, und knieend warbt ihr bei dem Allmächtigen um seiner Seele ewigen Frieden. Dein Flehen ward zu einer verzehrenden Festlichkeit des Schmerzes. Und deine kleinen Kinder wußten nicht, was du von ihnen begehrtest. Da war eines, das jüngste, ein schwarzhaariges, grauäugiges Mädchen, das bebte vor der düsteren Jahresstunde, zitterte in Angst vor diesem Unsichtbaren, der über dem Vater die harte Hand gebreitet hielt. Wer war dieser schreckliche Gott, der so um Barmherzigkeit angefleht werden mußte? ... Ins finstere Gemach strahlte ein ferner Stern. An seinen Anblick klammerte sich die Kleine ... Das ist der Vater, rief's in ihr. Und wie zu einem milden Auge, das Trost und Frieden niedersandte, blühte weicher, duftender neben den murmelnden Bitten der Geschwister, den gepreßten Seufzern, dem tiefen Stöhnen der Mutter ihr kindlich vertrauendes Gebet empor.
So warst du, Großmutter, in der Zeit der Frauenreife. Schlicht schloß das gescheitelte Haar sich an dein ernstes Antlitz, die sorgenden Schläfen. Und schwer entrang sich damals schon der bangen Brust der Atem des Schlafes. Über dich ist niemals der Frieden gekommen, den du segnend ausstrahltest. Dein Herz war immer viel zu schwer.
Der Stadthügel
Wenn man vom Franzensberg niedersteigt auf steilem Weg an drei Tümpeln vorbei, in denen Frösche eintönig quaken, blickt man über eine niedrige Einfassungsmauer aus Ziegeln hinaus ins flache Land, wo abends die Lichtzeichen grün und rot aufleuchten und einsame Schlote rauchen. Unten am Hange kauern düstere Hütten. Man sieht über Dächer, sieht eiserne Hängeberge an den Hofwänden, wo Wäsche schlapp niederbaumelt und Katzen schleichen. Dann kommen wieder ein paar magere Bäume, dann die Straße, die zu dem Vororte führt, und weiter hinten beginnt das Gelände der Bahndämme. Dort ist die große Ferne. Dort wohnt eine graue Sehnsucht. Es ist ein unsäglich müder Anblick, müde wie Wehmut, der Tränen verwehrt sind ... Das alles ist nur so, wenn man hinuntersteigt. Geht man hinauf, kräftigen Schrittes, nicht dieses stockenden, der Halt sucht und gegen das Rutschen sich stemmt, dann steigt hinter Gebüsch der Himmel auf, und man nähert sich dem Gebiet der Kinder. Sie spielen in der sorglosen Obhut von Mädchen in ländlichen Kopftüchern, unter die sich, die »Virginier« im Munde, Soldaten mischen. Über dem Getriebe, das wie ein Mückenschwarm summt, erhebt sich