Die Geschichten von Hans Bürgers Kindheit (Über 100 Kunstmärchen in einem Buch). Richard von Schaukal

Die Geschichten von Hans Bürgers Kindheit (Über 100 Kunstmärchen in einem Buch) - Richard von Schaukal


Скачать книгу
sonst abspielten, ich hatte also eine ungewohnte Stellung, und das war Reiz genug. Und dann kniete ich auf der Lehne und »wühlte« ... Was war denn also da zu sehen, zu durchblättern – denn zum Lesen kam es ja nicht, mir genügte das Blättern, das Herausnehmen, das Hineinstellen, das ausgleichende Streichen über die hervorstehenden Rücken, ab und zu freilich las ich auch ein Stückchen, da und dort, bald in Zschokkes gesammelten Novellen, bald in der eigentlich recht unheimlichen Bibel mit den häßlichen Wasserflecken und den mancherlei häßlichen Worten, die ich mit sicherem Tastsinn für das Verbotene immer wieder herausfand, bald in »Lessings Meisterwerken«, bald im »Reineke Fuchs« mit den schönen Stahlstichen nach Kaulbach, bald in Uhlands Balladen, gleichfalls mit klaren großen Bildern geschmückt, bald – und dies gewiß am liebsten – in den »Drei Musketieren« samt unzähligen Fortsetzungen von Alexander Dumas ... Ist das alles? Ich denke nach, und mir fällt nichts mehr ein ... Ja, natürlich hab ich das Wichtigste vergessen, das Wichtigste in der »Bibliothek«, Zschokkes »Stunden der Andacht«, diese stattliche Reihe hoher strenger Bücher, die mir schon damals unsäglich langweilig und stumm schienen, obwohl ich auch sie immer wieder aufschlug, mit dem trotzigen Vorsatze, endlich einmal etwas darin zu entdecken, das meiner Mühe sich dankbar erwiese. Auch ein alter Klopstock scheint dagewesen zu sein, denn ich hab ihn unter meinen Büchern, und der kann doch nur von dir herrühren, Großmutter. Und da fällt mir noch etwas Liebes und Lustiges ein, es ist eine behagliche Erinnerung: Kotzebue war natürlich da, die »Sämtlichen dramatischen Werke« oder so ähnlich, eine ganze Menge dünner, leichter und behender Büchlein in gleichmäßig schlichten, hechtgrauen Einbänden mit vergilbtem Goldaufdruck auf den schmalen Rücken. Aber dieser Kotzebue kann auch bei der Großtante gewesen sein, nicht bei dir, Großmutter; verzeih also, wenn ich ihn dir, etwas zaghaft zwar, aber immerhin mit einer gewissen Vorliebe jetzt vielleicht irrtümlicherweise aufnötige. Wo der hingeraten ist, kann ich mich nicht entsinnen. Daß ich einmal fast ein ganzes Stück gelesen habe, kommt mir dunkel vor. Und der Eindruck dieser langen Reihe schmächtiger Bände ist sehr wohltuend in mir geblieben, hat etwas von schalem Resedaduft an sich und gemahnt mich sonderbar an ein Lieblingsgeräusch meiner Jugend, das Putzen und Glänzen messingener Türklinken ... Das Traulichste an deiner Bibliothek, Großmutter, war sicherlich ihr Standort: dieses gemütliche An-der-Wand-Hängen des zweigestuften Bordes, über dem Sofa. Die Bücher gehörten ganz entschieden zur Wohnung, gehörten zu der ein wenig nüchternen Tapete – oder war die Wand gemalt? –, violettgrau und weiß, gehörten zu dem warmen Sonnenschein vom Fenster her –: ich kann mich nicht erinnern, daß es jemals bei dir geregnet hätte, Großmutter. Auf diesem Sofa saßest du, und da hing auch die herrliche Schlummerrolle, eine dicke, wollige, warme Sache in recht bunten Farben und sicherlich auch versehen mit Quasten, wenigstens hab ich die verschwommene Erinnerung von Quasten als von etwas unsäglich gut Gelauntem, Fröhlichem. Und da war der Tisch, an dem ich so oft gesessen hatte auf den Knien einer damals noch unverheirateten Tante – es sind meine ersten Erinnerungen –, der Tisch, auf dem die Suppe stand, die ich unter den sehr anregenden Erzählungen dieser Tante löffelweise in den Mund bekam. »Jetzt kommt das Kind; mach auf« – ich schluckte – »jetzt kommt der Löwe ...« – ich schluckte ... Unglaublich breite Fensterbretter gab's bei dir, Großmutter; man konnte geradezu darauf liegen, sich ausstrecken, einen ganzen Erdteil bewohnen, in die abgeschiedensten Gegenden sich flüchten. Auf einem dieser Fensterbretter hab ich nach und nach alles gelesen, was mir in die Hand fiel: Münchhausen und Schwab, Brentano und Hoffmann und vorher die zahllosen »Indianerbüchel« und noch früher die kleinen »Theaterbüchel« aus dem Verlage Gustav Kühn in Neu-Ruppin: ein seltsam grüner und vertrauter Reim, der unbedingt dazu gehörte ...

      An den Wänden hingen Bilder, die ich alle sehr gut kannte. Da waren Ölgemälde, Frucht- und Blumenstücke von der Hand jener Tante, Kreide- und Kohlezeichnungen meiner Mutter, bemalte Daguerreotypen und außer der Madonna auf Milchglas noch ein unheimlich geschwärztes Bild mit viel Gold; ich weiß nicht, ob es Jesus Christus vorstellte oder irgendeine andre Gestalt aus der immer mit dem Gewölk von Schauern verhängten biblischen Geschichte ...

      Denk ich an dieses Zimmer, das auf den Hof ging, wo sich der Brunnen befand und die ganz mit Wein bekleidete hohe, hohe Mauer ragte, seh ich Sonne. Sonne flutet durch meine Erinnerungen, spiegelt sich in den Scheiben, huscht über die Parketten und dringt in alle Winkel und Ecken. Das ganze Haus liegt in Sonne! Aber es ist nicht etwa eine hochstehende und beileibe nicht eine grelle und heiße Sonne, es ist Sonne, die durchs Fenster kommt, Sonne, die hier zu Hause ist, Sonne, die sich sehr artig benimmt, still und ohne irgend etwas vom Himmel an sich zu haben, Zimmersonne, Großmuttersonne ... Merkwürdig, daß keine Katze sich in ihr sonnte. In meiner Kindheit gab es doch Katzen. Ich sehe sie hoch oben auf dem schmalen Gange, der längs der Hofmauer zum Dachboden der Hausmeisterwohnung führte, hin und her schießen, ich sehe sie über den Hof huschen – aber zu dir kommt keine Katze, liebe Großmutter ... Und da fällt mir ein, daß du niemals ein Tier besessen hast, nicht einmal einen Vogel im Käfig, obwohl sie dir durchaus nicht unangenehm gewesen sind. Aber du hieltest sie immer in sauberer Entfernung. Ich sehe dich die Mundwinkel mit ein ganz klein wenig Ekel rümpfen, wenn dir Tiere etwas näher kamen. Erst an meinen Dackel hast du dich gewöhnt, aber zu Besuch ist er wohl äußerst selten zu dir gekommen. Es geschahen diese Zusammenkünfte außer Hause. Du warst da ein bißchen inkognito, jedenfalls nicht die Großmutter der Bibliothek, die Großmutter Zschokkes, Dumas, Kotzebues ...

      Bücher

       Inhaltsverzeichnis

      Als ich ein Bub war, schien es mir – ich war schon damals ein großer Bücherfreund –, als gäbe es Bücher für »alte« Leute und andre. Diese Klasse war ziemlich umfangreich. Dahin gehörten wohl die Bücher, die man in den Schaufenstern der Buchladen zu sehen bekam, Bücher, die man als Geschenk empfing, ferner die Bücher bei anderm jungen Volk. Die Bücher der »alten« Leute aber waren sozusagen veraltet, das heißt man hatte eigentlich keine andre Beziehung zu ihnen als die einer mit einem leisen Mißbehagen vor Moder und Wasserflecken verbundenen Hochachtung. Daß man ein lebendiges Verhältnis zu ihnen gewinnen könnte, schien ausgeschlossen. Goethe, Schiller, Platen oder gar Kleist standen in einer Reihe mit den ganz alten, etwa Klopstock – ein ungemein spaßiger Name! – und Kotzebue oder Nestroy. Lag es daran, daß diese Werke zumeist in älteren Ausgaben, jedenfalls in nicht ganz tadellos erhaltenen Exemplaren, vorhanden waren; daß man sich die Autoren, mit gepudertem Haar und rasiertem Antlitz, in der Westenkrause oder im breit umgeschlagenen Halstuch, nur als tote und verschollene Menschen denken mochte? Genug, es war eine andere Welt, eine Welt, die hinter Spinnweben und Staub lag, eine vergilbte Welt, die zu den schweren Großvaterstühlen »alter« Einrichtungen, zu den Glockenspieluhren und den Faltenhäubchen der alten Damen paßte, nicht zu den »Jungen« ... Wann sich dieses Verhältnis gewandelt hat, ist mir nicht erinnerlich. Die Schule, diese Mörderin der heimlichen Gefühle, der zärtlichen Verehrung, des staunenden Schweigens, dürfte in der üblichen rohen Weise hier Hand angelegt haben. Man kam an die alten Herren heran, sie wurden einem bekannt, wenn auch noch lange nicht vertraut, jedenfalls nicht jünger. Das kam erst viel, viel später, ganz gewiß nach der Schulzeit, als man langsam wieder bei sich selbst einkehrte und in die verträumten Winkel der Seele gelangte, in denen das harte Licht der Lehrjahre sich nicht aufzuhalten pflegt. Es muß ein großes Wunder der Seele sein, wenn im jungen Menschen etwa Goethe jung wird, wenn er heruntersteigt aus dem mattgoldenen Rahmen, der ihn bisher jenseits schnörkeliger Möbel festgehalten hatte in einer Höhe der Fremde und Kühle. Und spät erst kamen Tage, da lebte man mit Heinse, mit Platen, mit Swift, mit Fielding, als wären es Menschen, die man zum vertrautesten Umgang erwählt hätte. Nur ein paar Schriftstellern blieb die Distanz erhalten, die sie in Großmutters Nähe, weitab rückte von jungen Händen, jungen Gefühlen: Kotzebue und das ganze alte Theater, ein paar verschollene Romane, überhaupt, was aus der Zeit für die Zeit war und in der Zeit blieb und dort verstaubte. Denn es gibt ganz offenbar verstaubte Autoren, und nicht immer machen es die Jahre aus. Es gibt ja Menschen, die, wie man sagt, alt auf die Welt kommen. So kann ich mir heute noch nicht denken, daß Wieland jemals jung gewesen sein möchte ... Nicht minder merkwürdig ist es, wenn zu den alten Leuten die »jungen« Autoren kommen. Ich habe bei dir, Großmutter, Tolstoi und Gorki, Jakobsen und Flaubert gesehen. Mein Gott, weder


Скачать книгу