Die Geschichten von Hans Bürgers Kindheit (Über 100 Kunstmärchen in einem Buch). Richard von Schaukal

Die Geschichten von Hans Bürgers Kindheit (Über 100 Kunstmärchen in einem Buch) - Richard von Schaukal


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einen Spiegel aufnimmt auf die Netzhaut, da verschob sich mir das ganze Bild dieser drei stillen Grabstellen und der massiven Laternen mit den blauen Gläsern in der bleiernen Fassung, in denen die gefangenen Flammen leise schwankten: ich war wieder einmal außerhalb der Welt, und der Tod stand hinter mir und löschte die Geschehnisse meines Lebens sanft aus, daß sie verhüllt hinter mir hielten, regungslos. Ich fragte aber den Tod mit der Frage, die keine Antwort, niemals eine Antwort erhält: »Wo ist sie?« Wieder einmal fragte ich den stummen Tod: »Wo ist sie?« Und mit eins kam ein Schauer über mich, der oft kommt, wenn ich ihn hinter mir stehen fühle und ihn so sicher weiß. Es kam die entsetzliche Angst über mich vor seiner lautlos schreitenden, unabwendbaren Macht und Herrlichkeit, und ich flehte um das Leben der Meinen. Nicht um mein Leben. Nie flehe ich um mein Leben. Es ist mir so, als wäre mein Leben gelagert auf den Leben derer, die mir teuer sind, als hätte mein Leben Form nur in diesen teuern Leben, als sei mein eignes Leben gar nichts Wirkliches, sondern nur eine Reihe solcher ausgelöschter oder blasser, trauriger Bilder hinter mir und das Leben dieser Teuren neben mir, um mich, an denen ich oder mein Herz oder mein Leben, das Ding, das ich »Ich« heiße, weil ich's gewohnt bin, hänge. Wie ist das doch so grausam und milde zugleich, o Tod! Man meint zu verzweifeln und kann dann nach kurzer Zeit wieder so ruhig sein. Man klammert sich an eine Erinnerung, daß einem das Herz langsam wie im Gleiten zerreißt, als hinge man an diesem Herzen und zerrisse es, Schichte für Schichte, Faden für Faden ..., und dann ist wieder Stille, und man liegt behaglich im Badezimmer oder probt neue Schuhe oder raucht eine gute Zigarre und trinkt ein Glas guten Weins und freut sich über ein neues schönes Buch oder eine weite grüne Wiese, darauf viele tausend weißer Frühlingsblumen stehen. Da ist der Tod – so scheint es – leise weggegangen. Aber nein. Das ist nur eine Täuschung: immer ist er da. Denn plötzlich ist das Proben von Schuhen oder das Rauchen einer Zigarre oder das Betrachten einer weiten grünen Wiese mit tausend weißen Frühlingsblumen darin so unsäglich traurig, etwas liegt auf dem Herzen wie ein zottiges schwarzes Tier und liegt so fest, daß das Herz leise stöhnt: und das bist du, Tod, dieses Tier und diese Bangigkeit, diese Sehnsucht ohne Ziel und diese Traurigkeit ohne Gegenstand, das bist du, Tod, unhörbarer, allgegenwärtiger, unentrinnbarer, schrecklicher, vertrauter, riesengroßer Tod ...

      Wir sind dann nach Hause gefahren und sind noch rechtzeitig zum Essen gekommen. Und mein Bub hat die Geschenke des Osterhasen gesucht hinter allen Möbeln, denn im Freien war es zu kalt, und überdies war auch wieder Regen gefallen. Die alte Uhr tickte – sie stammt von dir, Großmutter –, und nun bist du wieder allein draußen bei den vielen Gebeinen deiner Eltern und Geschwister, die alle aus ihren schweren bleiernen Särgen genommen und, weiß und schmal, gesammelt worden waren in ein ganz kleines Särglein, das, durch eine dicke Erdschichte getrennt, neben dir steht, neben deinem schweren bleiernen Sarg, der auch einmal wird aufgebrochen werden, verrostet und zerfressen, wie er dann ist, deine kleinen weißen Gebeine herzugeben, daß man sie sammle zu denen andrer Teuren, die du gerufen haben wirst, Tod, schrecklicher, unentrinnbarer ...

      Es sind erst ein paar Tage her, seit ich in der Heimat war, und es liegen Jahre dazwischen. Wenn ich wiederkehre und dich wieder besuche, Großmutter, dann steht der Sommer in Farben, und dein Grab prangt in den üppigsten Blumen, auf die der Schatten des Todes fällt, der unhörbar hinter mir hält. Dann ist der Himmel tiefblau, brennend blau, und die Rebhühner ducken sich in das hohe gelbe Korn, und die Windmühlen auf den Hügeln drehen ihre Flügel vor lauter Sommerübermut ... Du hast Zeit, Großmutter. Und ich habe Zeit zu diesem Besuch. Aber noch einmal, Tod, lautloser Begleiter, frage ich dich: »Wo ist sie?«

      Tanzstunde

       Inhaltsverzeichnis

      Heute ist mir plötzlich die Abendstunde seltsam lebendig gewesen, in der du mich, Großmutter, vor vielen, vielen Jahren zweimal in der Woche zur Tanzstunde begleitet hast. Ich war ein siebenjähriger, kleiner Kerl, sicherlich der Kleinste in der Gesellschaft. Warum du mich eigentlich dahin begleitet hast und warum ich überhaupt gerade in diese Tanzstunde, die ein alter Ballettmeister jeden Winter ankündigte, zu gehen hatte, ist mir heute nicht mehr recht erklärlich. Aber das ist ja ganz nebensächlich, wie überhaupt alles Erklärliche. Nur das Unerklärliche ist von Belang, selbst das Unerklärliche einer Tanzstunde ... Ich weiß, es war ein altes Haus, ein alter Hof war zu überschreiten, und der Saal, in dem wir tanzten, war auch sehr alt und feierlich durch seine ungewöhnliche Länge und die Kerzen an den Wänden. Da stand der alte Ballettmeister, der ein furchtbar unangenehmes Gesicht besaß, ein säuerliches, würdebewußtes Gesicht mit langen, langen Backenbartflechten, da stand er in seinem abgetragenen Frack und hielt das Bein, das gelenkige Bein in Positur, immer in Positur. Er hatte einen schlappen Bauch, über dem eine dicke Uhrkette baumelte, schneuzte sich in ein rotes Taschentuch und verfügte, glaub ich, über eine hohe, nicht sehr angenehme Stimme. Ich mochte ihn gar nicht leiden, ja ich fürchtete mich vor ihm, haßte ihn sogar. Denn ich war kein besonders guter Tänzer. Aber da war ein wunderschönes Fräulein, mit dem ich am allerliebsten tanzte, das heißt, ich tanzte nur mit diesem Fräulein gern, alle andern Fräulein beschäftigten midi gar nicht, und ich kann mich auch nicht erinnern, was für andere Fräulein mit mir noch außer diesem einen bei dem alten Ballettmeister tanzen lernten. Ich habe sie alle ganz und gar vergessen, nur die eine nicht. Diesem schönen Fräulein widmete ich mich bis zu einem Grade, daß ich von einer gewissen Zeit an begann, nur um ihretwillen die Tanzstunde zu besuchen, ja, daß ich sogar am Tanzen selbst Gefallen fand. Einmal aber bin ich mit ihr gestürzt, kam halb auf sie zu liegen, und dieses Geschehnis befestigte unsere Verbindung ... Großmutter, du saßest an der Schmalseite des langen Gemaches auf dem zerschlissenen Sofa der Ehrengäste, neben ihrer Mutter. Das ist alles, was ich weiß. Wie eine Silhouette ist es in eirundem Rahmen an einer kahlen grauen Wand. Und noch ein blasses Daguerreotyp taucht auf: die feierliche Nikolobescherung, zu der in großen Wäschekörben die Geschenke der Tänzer an die Damen herangeschleppt wurden – der Tanzmeister hielt etwas auf diese altherkömmliche Sitte –, eine Gelegenheit, bei der sich fand, daß nicht minder wie ich an sie jenes schöne Fräulein – oder war es ihre Mama? – an mich gedacht hatte ... Nun, etliche Jahre später hab ich wieder eine Tanzstunde besucht. Aber damals war bei mir die Epoche der ungemeinen Verachtung des weiblichen Geschlechtes im allgemeinen und der Tanzstundengenossinnen im besonderen in Blüte. Ob die Sache sehr fest bei mir saß, wage ich anzuzweifeln. Aber ich war wieder so ziemlich der jüngste in einer Schar robuster Jungen, die sich für das einschränkende Zierlichtun des Tanzwerks jeweils durch gröbliche Raufereien entschädigten, und ich mußte wohl oder übel mit den »Männern« halten, wenn mir auch das Raufen durchaus nicht zusagen mochte, ja ich eigentlich mitten inne stand und schon damals einen gespaltenen Menschen vorstellte: die Jungen nur »Männer«, kräftig, rauh, roh, bewaffnet mit schneidenden Anspielungen und derben Witzen, überlegen, hochmütig, insgesamt aber musikalisch, das heißt jeder in seiner Art irgendein Instrument behandelnd; ich weder bei den Mädchen besonders gelitten noch bei den Buben angesehen, weder jenen zugetan noch bei diesen gut aufgehoben, zwischen beiden Lagern pendelnd, verlegen-unschlüssig, stets aufs neue befangen, jedenfalls durchaus nicht befriedigt von diesen Tanzübungen, zu denen man mich, wie später zum Französischen, geradezu schleppen mußte ... Großmutter, warum ich dir solche Nichtigkeiten erzähle? Weil mir nicht diese zweite, wohl aber jene erste Tanzstunde heute wie ein Stück aus deinem eigenen Leben erscheint, etwas Altmodisches, zwischen gestreiften Tapeten und unter vergoldeten Spiegeln spielend und erfüllt von einer leisen Musik, die aus einem dünnen Klavier kommt in einer scheu gemiedenen Ecke. Es ist Poesie in dieser verstaubten Erinnerung, und ich bin so voreingenommen für Erinnerungen, die zu dir gehören, daß ich aus den unscheinbarsten Blumen kleine schmale Kränzlein winde, sie dir aufs Grab zu legen, in dem mit dir, liebste Großmutter, meine wunderschöne Kindheit schläft ...

      Großmutters Bibliothek

       Inhaltsverzeichnis

      Was waren das für geheimnisvolle Stunden, wenn ich in deiner Bibliothek wühlen durfte! Bibliothek: das klingt sehr großartig, und es war doch nur ein schmales Wandgehänge, worin auf zwei Borden die wenigen schlicht gebundenen Bücher standen,


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