Die Geschichten von Hans Bürgers Kindheit (Über 100 Kunstmärchen in einem Buch). Richard von Schaukal

Die Geschichten von Hans Bürgers Kindheit (Über 100 Kunstmärchen in einem Buch) - Richard von Schaukal


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Winters, alle Not der Enge. Der Sommer ist beruhigte Fülle, sich dehnende männliche Kraft, üppige tiefe Farbe, Glanz, der von innen kommt, Reife, die rastend nach neuer Tat umblickt, stark tönende Stille. Aber der Frühling ist Heimweh, Verlangen, Flügelentbreiten, wirre Lust an Liedern der Straße, bangende Fröhlichkeit, verhaltenes Lächeln, leise Angst. Was kann dir im Sommer geschehen? Du bist reif, deine Scheuer steht gehäuft. Es mag ein Blitz zucken aus sich verdichtenden Gewölken. Mag er niederzucken. Er findet dich bereit. Aber der Frühling ist ein Anfang, der Frühling ist Hoffen, Erwarten und Erinnern. Der Frühling nimmt dein Herz und hält es wie einen bebenden Vogel in der Hand. Noch sind die Farben nicht zum Erglühen gebracht: sie können erblassen. Noch sind die Klänge nicht voll: sie können mißtönend zerbrechen. Und alles harrt noch deiner, Mensch. Du bist erwartet und erwartest selbst. Du erwartest dich. Du kennst dich noch nicht. Du fühlst dich nur im verzehrenden Treiben und Steigen deiner Säfte, in der schwülen Unruhe deiner Nächte, der jähen Hast deiner Tage. Irgendwo in dieser Helle steht ein Schatten. Irgendwo in dieser Unruhe ist Stille. Irgendwo in diesem Werden wartet der Tod ... Ich bin an alten Gärten vorübergewandert. Sie träumten von vergangenen Tagen. Aber aus ihren Träumen wuchsen die jungen Triebe. Und es war, als ob diese alten Gärten nichts wüßten von ihren jungen Trieben, von dem knospenden Leben ihrer Hecken und Zäune. Sie sahen gleichsam mit geschlossenen Augen in sich selbst hinein und hielten schweigende Zwiesprache mit der Vergangenheit. Du Brunnen, dem sie die Röhre putzen, aus der dein Wasser wieder den ganzen Sommer entlang fließen soll, was sinnst du? Sinnst du über das Geheimnis des Lebens, das Menschen nehmen können und versperren hinter Mauern und hinter Gesetzen, das sie aber nicht geben können, das durch sie, aus ihnen kommt, wie das Wasser aus dir kommt, immer dasselbe, immer das alte, das von Anfang war ...?

      Ich habe in alte Häuser hineingeschaut, die zum Lüften der inneren Räume offen standen. Was erzählten diese verbleichten Wände? Erwarteten sie den Frühling? Nein, sie sprachen von den glücklichen Vergangenheiten der Menschen und hielten Erinnerungen fest, die man nicht lüften kann. Die Kinder aber pflückten schon auf den Wiesen die jungen Blumen. Sie waren ja nur dazu da, daß Kinder kämen und sie zum Welken pflückten ...

      Frühling, ich liebe dich wie einen Mörder mit schönen Gliedern, wie einen Mörder, der mit einer wundervoll edeln Gebärde mordet. Ich liebe dich mit der Sehnsucht, mit der der Gefangene die wilden Schwäne liebt, die über seiner Zelle dahinziehen. Ich liebe dich mit der Liebe einer Braut, die vor dem Unbegreiflichen bangt, daß sie einem fremden Manne gehören soll, den ein Unbegreifliches in ihr liebt und vorzieht den Eltern, dem Hause, in dem sie bisher gewohnt hat, den Hunden, die sich bisher an ihre Knie geschmiegt haben. Frühling, du rufst immer zur Tat, aber dein Blick straft deine Worte Lügen. Dein Blick ist traurig wie der Blick eines Abschiednehmenden. Und doch sagen die Dichter, du seist die Ankunft, die fröhliche Ankunft. Ich glaube, die Dichter, die dich also preisen, verkennen dich. Die Dichter, die dich kennen und liebend fürchten, sagen, du seist ein Scheiden, ein Scheiden von Erinnerungen und ein Heimweh nach dem Sommer ...

      Großmutter, du bist im Sommer gestorben. Als alle Farben prangten, hast du dich zum Sterben hingelegt. Und die Nachtigall vor deinem Fenster hat gesungen, daß ihr die Kehle zu springen drohte, denn es war deine große, starke Seele, die ins All schied und also auch in die Nachtigall ...

      Ich bin im Frühling geboren. Man sagt, das sei eine gute Verheißung. Ich aber glaube, daß es ewige Sehnsucht bedeutet, Sehnsucht nach dem Sommer, der Herbst werden muß.

      Vom Friedhof

       Inhaltsverzeichnis

      Es sind doch kaum ein paar Tage her, und mir scheinen Monate dazwischenzuliegen, daß ich an den Tagen der Karwoche im Elternhause den Frieden suchte, der mich, den Friedliebenden, meidet. Ich hatte gedacht, die stille Woche einmal wieder ganz auf den Pfaden der Kindheit zu verleben, hingegeben an holde Erinnerungen, die jeder Schritt schenken müßte, und ich erfuhr zerbröckelndes Stückwerk und empfand eine große Trauer. Geht diese Trauer aus mir hervor, oder geht sie immer nur gerade in mich hinein aus den Dingen? Ich sehe und werde traurig, ich höre und werde traurig; meine Sinne sind traurig. Und nicht das Traurige, das, was die Leute traurig heißen und wovon sie sich abwenden, um sich, wie sie es nennen, die Stimmung nicht verderben zu lassen, nicht dieses sogenannte Traurige ist es, nein, das Gewöhnliche, das Unscheinbare, ja das Heitere macht mich traurig. Ich habe mir schon als kleiner Knabe niemals gewünscht, auch nur um einen Tag älter zu sein. Und heute verleb ich jeden in Angst, er könnte Ereignisse bringen, die das Ende bedeuten. Nicht für mich. Ich habe keine Furcht. Ja, ich habe ein todesstarkes Vertrauen auf einen Stern über mir. Aber um mich herum fürcht ich beständig das Ende. Es ist, als ginge ich immer im Schatten des Todes und sähe ihn sich über meine Wege legen, sähe ihn über mich hinauswachsen, fühlte ihn die Luft kälter machen und die Farben entweder blasser zum Welken oder üppiger zum Welken. Und obwohl ich mich selbst auf eine Weile noch für gefeit halte gegen ihn, hab ich das Gefühl, dem Tode stets zu geben: er zehrt von mir. Seine Schrecken begleiten mich: seine fürchterlichen Schrecken: die, die einen in der Nacht aufjagen, die, die einem mitten am Tage durch eine gräßliche Vorstellung das Blut in die Augen treiben, und die andern, die stillen, die im Blätterfallen sind und im bleichen Licht eines scheidenden Sommersonntags, dem Verklingen eines Liedes, dem Verblassen einer Begebenheit. Der Tod geht hinter mir und räumt auf. Es ist, als ob er über alle Erlebnisse wischte und sie in Bilder verwandelte, die seltsam fern und unwirklich hinter mir stehenbleiben.

      Ich habe lang ausgestreckt in der Badewanne gelegen im behaglich warmen, nach Wachsleinwand duftenden Badezimmerchen meiner Mutter, lang ausgestreckt, ohne mich zu rühren. Mein Auge hing an dem stillen Lichte der kleinen elektrischen Birne über mir. Ich rauchte eine Zigarette. Ich wollte das Ausruhen bei Mama genießen ... Man klopfte und meldete, daß der Wagen schon vorgefahren sei, der bestellt war, uns zu dir zu bringen, Großmutter, auf den Friedhof. Denn so oft wir in der Heimat sind, besuchen wir dich draußen auf dem Friedhof und bringen dir Blumen und stehen lange nachdenklich vor der eisernen Einfriedung, innerhalb deren die kleinen Hügel sich erheben, deiner und der des alten Großonkels und dann noch einer, in dem viele Gebeine sind, die deines Mannes und deiner Eltern und deiner Geschwister ... Ich ließ mir Zeit und dachte darüber nach, wie das doch so merkwürdig wäre: ich hier im Badezimmer unter dem stillen Lichte der elektrischen Birne über mir, im warmen, behaglichen, gepflegten Badezimmer Mamas, und draußen der Wagen, der uns zu dir führen sollte. Und ich liege da und lasse mir Zeit ... Es ist ja auch wirklich Zeit. Wir kommen noch immer zurecht hinaus, und eigentlich handelt es sich nur darum, daß wir rechtzeitig wieder zum Essen zurück sind. Und mir war, als würdest du selbst mit deiner weichen, süßen, lieben Stimme, in der alles war: Großmütterliches und Heimatliches, die Wärme eines gut geheizten Zimmers und ein von dir aus dem Besten, was du hattest, zum Naschen für uns zusammengestellter Imbiß, als würdest du selbst mit dieser immer ein wenig klagenden Stimme sagen oder gesagt haben, wenn du wüßtest, ich läge da im Bad und draußen wartete der Wagen, der mich zu dir auf den Friedhof bringen sollte: »Aber laßt ihn doch! Laßt ihn doch ruhig weiter baden! Er fühlt sich so wohl. Und ich habe ja Zeit! Ich habe ja Zeit!« ...

      Dann sind wir also hinausgefahren. Und es war ein rechter Aprilsonnenschein unter währendem Winde, und manchmal gab's einen hellen Regenschauer. Durch die gepflegten Alleen der Gräber sind wir gegangen; voraus, einen Blumenstrauß und seinen kleinen Stock, das Ostergeschenk, tragend, mein Bub, im kurzen blauen Matrosenmantel mit dem breit übergeschlagenen Kragen, die Kappe auf den ohrtief beschnittenen glänzenden Locken. Da war ja wieder dein Grab, wie wir's alle kennen, immer in demselben Frieden. Und da waren drüben die gelb gestrichene Mauer und die hohen Zypressen und jenseits das grüne Feld. Man hat die kleine Pforte geöffnet, die zu dir führt – oh, was für eine kleine, was für eine niedrige Pforte führt zu dir, und tief gebückt muß man sie öffnen und gebückt seine Besuche machen bei dir! –, man hat dir wieder Blumen auf die Brust gelegt, auf den Hügel, meine ich, und mir war, als sähe ich dich mit den gefalteten weißen, weichen Händen, die ich im Sarge so voll heißer Inbrunst des Dankes geküßt habe, damals; mir war, als sähe ich dieses wunderbare Lächeln um deinen ruhig geschlossenen Mund, dieses Lächeln, das zu deinen ebenso ruhig geschlossenen Augen hinauf sich verbreitet hatte


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