Die Geschichten von Hans Bürgers Kindheit (Über 100 Kunstmärchen in einem Buch). Richard von Schaukal
von Baumbach und Montépin. Es gab eine Tante, die die zwei ersten sehr hochhielt, und ich, der ich, wie gesagt, schon sehr bald Büchern ein großes Interesse entgegenbrachte, horchte auf. Man versagte mir diese Schriftsteller so lange, bis es zu spät war. Als ich sie mit etwa fünfzehn Jahren in die Hand bekam, erschienen sie mir ledern und gräßlich langweilig. Ich habe mit ihnen, gottlob, nicht viel Zeit verloren. Aber die Engländer, die alten guten Engländer: Fielding, Swift, Dickens, Bulwer, Scott, die habe ich alle gelesen, alle, und mit welcher Wonne! Sie kamen ganz unansehnlich in meinen Bereich, man stritt sich nicht mit mir um sie, man überließ sie mir ohne viel Prüfens (was hatte man doch bei Ebers, diesem Öldruck, oder einem Fossil wie Spindler zu »prüfen«!), und ich erlebte sie – eine ungewöhnliche Lektüre für einen Knaben, der noch sehr Kind war, arglos fröhliches Kind –, wie ich einst die Indianergeschichten und früher noch die Märchen erlebt hatte. Sie haben mir viel mehr gegeben als damals die »Klassiker«, die man uns in der Schule zerzupfte und auf lange hinaus verekelte. Sie blieben ganz unberührt bei mir, sie waren still, drängten sich nicht vor, sie hatten eine gute, vornehme Art, mit gedämpfter Stimme zu reden, lautlose Gesten, und sie verlangten nicht jene unbedingte Hochachtung, die die andern so gebieterisch heischten ...
Am sechsten Jahrestag meiner Hochzeitsfeier
Daß du, liebe Großmutter, zu meiner Frau immer so gute Beziehungen unterhalten hast, vom ersten Augenblick an, da ihr euch kennenlerntet, hat mir stets ein freundliches Gefühl der Sicherheit gewährt. Und ich weiß, sie trauert dir nach wie eine »richtige« Enkelin. Es ist ja auch etwas ganz Sonderbares um die »Richtigkeit« von Beziehungen. Als ob »Verwandte« zueinander gehören müßten! Ich finde, Verwandte haben von vornherein gar keine Pflichten gegeneinander. Denn der Zufall solcher Bande ist doch zu augenfällig. Beziehungen schafft das Leben. Es mögen auch Verwandte darunter sein. Jedenfalls ist der Weg kürzer, den Leute zueinander zurücklegen, die nahe beieinander stehen innerhalb der »Familie«. Aber sonst ist auch nicht der geringste Anlaß da zu größerer Vertrautheit. Was hat der Bruder meines Vaters mit mir zu schaffen? Vielleicht kenne ich ihn gar nicht, der als junger Mensch lang, ehe mein Vater seine Gattin wählte, sich von jenem schied. Aber das Leben läßt mich so manchem begegnen, der mir verwandt dünkt. Und ich ahne Verwandte in der Ferne und in der Vergangenheit, Brüder in Geist und Herz, die niemals, niemals meine Hände ergreifen und den Verwandtenblick tauschen werden.
Zwei solcher Verwandten sind damals zusammengekommen, als du, liebe Großmutter, meine Frau, ein kleines schlankes Mädchen, zum erstenmal begrüßtest. Sie hat dir, in großer Verehrung vor deiner milden, gütigen Erscheinung, gleich in williger Vertrautheit Dienste erwiesen, und du hast ihr bescheiden gewehrt. Als wir unsre Hochzeit begingen, da war es meiner Braut größter Schmerz, daß du ihr nicht anwohnen mochtest. Aber ich verstand deine freundlich-entschiedene Weigerung. Seit Jahren und Jahren hattest du den Bezirk deiner nächsten Umgebung nicht verlassen, du wolltest nicht unter die vielen Fremden, die vielen »Verwandten«. Und meine Frau begriff dich, und so sind wir erst als junges Paar uns deinen Segen zu holen gekommen. Deinen ersten Enkel jedoch hast du besucht, Großmutter, wenige Tage nachdem der kleine Schreihals uns beglückt hatte. Noch sehe ich dein liebes weißes Gesicht mit den vielen Falten und Fältchen sich über den neuen Verwandten beugen, der deiner Seele so nahe stand, obwohl er erst so kurze Zeit sich des zweifelhaften Vergnügens des irdischen Lichtes erfreute. Es war ja mein Bub und deiner lieben Enkeltochter Bub: sollte er dir nicht verwandt gewesen sein, noch ehe er seinen Weg in die Welt gefunden hatte? Frühling war es, und der alte Baum im Hofe dunkelte in das Zimmer herein. Aber über ihm und im ganzen Raum lag die Sonne. Mein Bub sah dich mit seinen blauen, neugierigen Augen an. Keine Erinnerung ist ihm von diesem ersten Zusammentreffen geblieben, auch die Erinnerung an die späteren, leider nur spärlichen Zusammenkünfte mit dir mag ihm heute nur wie in blassem Nebel stehen, aber in den heiligen Tiefen seiner Seele ruht der Schatz dieser stummen Verwandtenbegrüßung, ruht wie leuchtendes Gold auf dem Grund eines verschwiegenen Sees, über den die Boote der Tagfahrer dahinziehen, nicht ahnend, daß da unten Gold liege und leuchte. –
Mein Bub ist groß geworden seitdem, Großmutter. Seine Locken, die du einst durch deine wunderguten sanften Finger hast gleiten lassen, sind ihm schon oft geschnitten worden, er steht schon auf festen Bubenbeinen, und seiner Fragen will er kein Ende haben, nach dem Ursprung aller Dinge, ihrer Zweckmäßigkeit und ihren »Verwandtschaften«. Heute hat er deiner Enkeltochter, meiner Frau, in der Frühe des Gedenktages Blumen überreicht und ihr Glück gewünscht mit der hellen Stimme, die noch keine Sorgen gedämpft haben. Er hat mit staunenden Augen gehört, daß dies unser Hochzeitstag sei, und die Sache nicht gerade begriffen. Aber da Rosenstöcke auf dem Tische standen und Papa Mama umarmte und ihr eine Gabe wies, hat er sich über die Festlichkeit beruhigt und gemeint, sie unterscheide sich in keiner Weise von einem Namenstage. Und da hat er recht. Für ihn sind diese Tage Tage der Geschenke, Tage der Blumen, Tage des frühen Aufstehens, süßer Erregung über ungewöhnliche Begebenheiten. Das Jahr zerfällt ihm in eine Reihe von Zeiträumen, die zwischen solchen Festen liegen. Und ein Fest ist ihm so liebenswürdig wie das andere, wenn er auch im Grunde seines begehrlichen Kinderherzens die Feste, an denen er selbst am meisten erhält, sicherlich den andern vorzieht, das heißt, wenn sie mit Fug da sind, nicht, wenn eben die andern da sind: Neid ist ja seiner Kinderseele fremd, Neid und alle die andern häßlichen Eigenschaften der »Großen« ... Sein Vater aber ist heut in Gedanken aufgewacht. Daß Jahre vergangen sind, Jahre voll Leid und Lust, hat er bedacht und still innige Wünsche um andre Jahre getan, die kommen möchten. Er kann sich nicht genug darüber wundern, was doch die Zeit sei. Und er geht an die Tagespflicht, die er sich aufgelegt hat, und an seinem Geiste ziehen in verwirrendem Gedränge Tausende von Stunden dieser seiner Ehe vorüber. Was ist Besitz im Leben, fragt er, was Gewinn? Ein zagendes Hoffen ist alle Gegenwart und ein schmerzlich süßes Erinnern. Und zwischendurch stampft der gleichmäßige Schritt der »Pflicht«. Ein sonderbares Menschenlos, die Pflicht! Oft hat sie so blutwenig mit dem Menschen zu schaffen, der ihr Joch trägt, heiter oder unwillig, ungeduldig und unbefangen, wie's eben kommt. Sicherheit! Was im Leben kann einem die geben? Ich bedenke Menschen, die sich sicher wähnen. Ich kann sie nicht beneiden, nicht anklagen. Ich staune sie an, wie seltsame Gewächse, deren Leben ich nicht verstehe. Sicherheit! Vor einem Jahre haben mich auf diesem Feiertagstisch deine lieben Schriftzüge begrüßt, Großmutter, und kaum sechs Wochen später hast du unter der Erde gelegen! ... Und die entsetzliche Angst zieht sich über mir zusammen, die Angst der Unsicherheit des Lebens, die Angst vor der unerbittlichen Zeit und ihren grausamen Wundern. Wer bist du, Zeit, unhörbare, die wir Sinnenknechte in der Uhr zu fangen meinen? Wer bist du? Du gehst und gehst, und unsre Sehnen erschlaffen, unsre Hände werden welk und unser Blick müde, und dann kommt das Ende. Ende? Ich sehe keinen Anfang. Vor Jahren habe ich meine Frau zum Weibe genommen. Sie hatte eine Kindheit gehabt, die mir fremd war, ich wußte nichts von ihrer Seele, nichts von den Stürmen und Gefahren, den Festen und der Sehnsucht dieser Seele, ich wußte kaum etwas von dem Orte, an dem sich ihr Leben abgesponnen hatte, in das ich plötzlich getreten bin. Und nun ist sie verknüpft mit einer, die fern von uns in einem tiefen kleinen Grabe ruht, und wenn mein Bub ihr heute Blumen reicht und seinen hellen Glückwunsch sagt in argloser Fröhlichkeit ob des ungewöhnlichen Tages, so sind unsre Gedanken, wenn unsre Augen über die Blumen und die Briefe gleiten, bei einer Toten, in deren Liebe sie einander ganz verstehen. Eine Verwandte ward von uns genommen, die in uns beiden lebt. Wo ist das »Ende«?
Das Theater
Großmutter, auch meine ersten Theatererinnerungen sind mit dir verknüpft. Ein Dampf wie aus Gold und Ambra steigt aus ihnen auf. Man möchte die Augen schließen und diese Seligkeit zurückträumen, die man als Kind vor dem geschlossenen Vorhange genoß, der sich leise bewegte und die Wunder einer erhöhten Lebendigkeit verbarg.
Das Theater ist doch recht eigentlich für die Kinder da. Was haben Erwachsene mit ihm zu tun? Reife, besonnene, stille Menschen der Seele? Ihnen ist es doch nur eine grobe Sache, ein wüster Lärm. In