Marathon Woman. Kathrine Switzer
ich zu Arnie: »Du weißt schon, dass dieser Jock vorgefahren ist und jetzt möglicherweise dafür sorgt, dass uns einer dieser bulligen irischen Polizisten festnimmt, wenn gerade niemand hinsieht?« Ich hatte bisher keinen dieser Iren zu Gesicht bekommen, neben denen sogar Tom klein wirkte. »Wenn das geschehen sollte, werde ich mich wehren, okay? Und noch etwas.« Ich drehte mich und sah Arnie in die Augen. »Arnie, ich weiß nicht, wo genau du jetzt stehst. Aber egal, was passiert, ich muss dieses Rennen beenden. Selbst wenn dir das nicht gelingen sollte, ich muss es schaffen, notfalls auf allen vieren. Wenn ich nicht ins Ziel komme, werden sie behaupten, dass Frauen dazu nicht in der Lage sind, sie werden sagen, dass ich es nur aus Publicity-Gründen getan hätte. Du kannst machen, was du willst, aber ich werde bis zum Ziel laufen.«
»Gut, dann sollten wir jetzt langsamer werden. Denk nicht an die Zeit, nur an das Ziel!« Arnie war nun ganz der Army-Sergeant. »Okay. Alle mal herhören!«, sagte er zu allen in Hörweite. »Lauft langsamer, entspannt euch. Wir haben noch einen langen Weg vor uns. Lockern. Lockert euch!« Wir wurden langsamer und ließen die Arme hängen, schüttelten die Hände aus. Meine linke Hand war eiskalt. Schade, dass ich den Handschuh nicht mehr hatte. Viele Körperstellen brauchen während eines langen Laufs nicht bedeckt zu sein, man friert trotzdem nicht, aber wenn die Hände kalt sind, geht es einem schlecht. Ich versuchte, den Ärmel meines Sweatshirts über die Hand zu ziehen, aber er war nicht lang genug.
Wir passten uns gerade dem von Arnie vorgegebenen Schritt an und entspannten uns allmählich, als Tom, immer noch vor Wut schäumend, plötzlich herausplatzte und mich anschrie: »Du bringst mich in alle möglichen Schwierigkeiten!«
Das kam völlig unvermittelt.
»Wieso denn, Tom?«
»Ich habe einen Funktionär geschlagen, jetzt werden sie mich aus der AAU ausschließen. Ich werde es nie in die Olympiamannschaft schaffen, und das ist deine Schuld.«
Big Tom (Nr. 390) kocht vor Wut, John (dunkles Hemd) ist ebenfalls erregt, Arnie (hinter John) sagt, wir sollten uns beruhigen, und ich denke, dass ich den Lauf unbedingt beenden MUSS. Es war sehr kalt; viele Läufer tragen lange Hosen, Mützen und Handschuhe.
Das machte mich traurig und wütend zugleich. »Ich habe den Funktionär nicht angegriffen, das hast du gemacht, Tom«, sagte ich ruhig. Es war mir peinlich, mich mit ihm vor John und Arnie und den anderen Läufern zu streiten. Ich fand es außerordentlich grob von Tom, mit mir, seiner Freundin, in aller Öffentlichkeit einen Streit anzufangen. Alle waren peinlich berührt.
»Toll. Ja, vielen Dank für diesen Mist. Ich hätte nie nach Boston mitkommen sollen«, schrie er.
»Ich habe dir gesagt, dass du nicht mitkommen sollst! Es war deine Idee.« Jetzt flüsterte ich, damit mich nicht alle um uns herum hörten. Mir wurde wieder schlecht, mir war, als taumelte ich von einem Albtraum in den nächsten.
»Hört sofort auf, ihr beiden!«, sagte Arnie.
Tom riss sich die Startnummern ab, zerfetzte sie, warf sie auf das Pflaster und brüllte: »Ich werde es nie in die Olympiamannschaft schaffen, und das ist nur deine Schuld!« Dann senkte er die Stimme und zischte: »Außerdem lauft ihr mir zu langsam«, und damit lief er los und verschwand zwischen den Läufern vor uns.
Ich konnte mich nicht beherrschen. Ich schämte mich und fing zu weinen an. Wieder einmal hatte Tom mich davon überzeugt, dass ich nur ein Mädchen war, eine Joggerin, und einem Naturtalent wie ihm den Lebenstraum von Olympia versaut hatte. Ich hatte gedacht, ich sei seine Freundin, die er ernst nahm, und ich schätzte, damit war jetzt auch Schluss. Bisher war das Rennen ein Lauf durch die Hölle gewesen, und wir hatten noch zwanzig Meilen vor uns.
»Lass ihn doch. Lass ihn doch einfach. Denk nicht mehr dran. Schüttle es ab!«, schimpfte Arnie. Gehorsam ließ ich die Arme fallen, so wie ich es tausendfach im Training getan hatte und schüttelte die Hände aus. Mit gesenktem Kopf blickte ich zu Boden. Ich wollte nicht, dass jemand mich ansah, und nur so konnte ich meine Wunden in der Öffentlichkeit lecken. Ich spürte, dass ich an einem Tiefpunkt angekommen war. Das ging uns allen dreien so, ich fühlte direkt, wie die Müdigkeit uns hinunterzog. Selbst ich wusste, dass der Adrenalinschub vorbei war. Gott, was würde ich darum geben, einfach ein wenig zu schlafen, dachte ich. Mir war inzwischen alles egal, auch Tom, ich wollte nur noch ankommen. Mir war auch egal, wie groß und wie anhaltend der Schmerz sein würde und ob ich ihn aushalten könnte, ob ich ins Gefängnis käme oder sterben müsste. Ich würde ankommen, egal wie. Wir schwiegen lange.
Ein paar Meilen später nahmen wir nach und nach wieder etwas wahr, wie beim Erwachen aus einer Narkose. Die Energie kam zurück; wir waren durch ein Tief gelaufen und hatten uns dabei erholt, jetzt wurden wir wieder stärker. Ein erstaunliches Gefühl. Nun hörten wir manchmal schwachen Beifall, das war wirklich sehr angenehm, und wir winkten zurück. Es gab kaum Zuschauer, denn das Wetter war so schlecht, dass niemand auf die Letzten des Läuferrudels wartete. Ich spürte, dass meine durchweichte Trainingshose mich behinderte, also zog ich sie am Straßenrand aus und warf sie weg. Ein etwa achtjähriger Junge stürzte sich auf die Hose, hob sie hoch, schwenkte sie über seinem Kopf und schrie vor Freude über sein Souvenir. Wir drei sahen uns an und in unseren Gesichtern stand: »Könnt ihr euch vorstellen, was seine Mutter sagt, wenn er die mit nach Hause bringt?«
Wir sahen jetzt viele Orangenschalen auf der Straße, ein sehr seltsamer Anblick. Als ich Arnie danach fragte, sagte er, »Oh, die waren für die Spitzenläufer.«
»Heißt das, die besten Läufer bekommen Orangenscheiben?!« Ich war erstaunt über dieses Privileg. »Warum haben sie nicht für alle Läufer Orangen?«
»Die sind nur für die Schnellsten, für die richtigen Wettkämpfer.«
»Du hast also, als du in den Fünfzigern Rennen gelaufen bist, auch Orangenscheiben bekommen?«
»Ja, und Schwämme und Wasser.«
»Das müssten alle Teilnehmer bekommen. Sollte ich je einen Lauf organisieren, werde ich dafür sorgen.«
»Naja, am Ziel bekommt jeder Eintopf mit Rindfleisch«, sagte Arnie.
John und ich lachten. »Warum, Arnie«, sagte ich, »weiß ich, dass wir keinen Eintopf bekommen werden?«
Er grinste verlegen. »Er ist sowieso nicht gut, weil er aus der Dose ist.«
»Igitt! Ich hasse Doseneintopf!«, sagte John.
»Wer will denn Eintopf nach einem Marathon?«, fragte ich. »Wer kommt denn auf solche Ideen?«
»Es hat was mit Tradition zu tun«, sagte Arnie, »aber du hast recht, an heißen Tagen bekommen viele davon Bauchschmerzen.«
Es gab so manches an diesem großartigen Rennen, was mir einfach schrullig vorkam.
Nach ungefähr zehn Meilen, in Natick Center, ging es uns wieder gut, wir rissen sogar Witze und erzählten uns Geschichten. Am Straßenrand parkte ein Lastwagen mit einer großen Aufschrift an der Seite: SNAP-ON TOOLS. Mir fiel dazu ein schmutziger und ausgesprochen kindischer Witz ein, den ich irrsinnig komisch fand, und John und ich mussten so lachen, dass wir Seitenstiche bekamen. Arnie verstand ihn nicht, was wir noch komischer fanden. Aus der Zuschauermenge auf dem Seitenstreifen rannte ein jüngerer Mann auf uns zu und rief: »Arnie, Arnie!« Er joggte in Lederschuhen und Regenmantel mit uns mit. Er hieß Jimmy Matthews und war vor wenigen Jahren Arnies Schüler gewesen, als er noch in Syracuse am Lemoyne College studiert hatte. Jimmy wohnte jetzt in der Nähe von Wayland, und er himmelte Arnie an, so als würde Jesus Christus persönlich die Main Street von Natick entlangjoggen. Trotzdem schalt er Arnie, weil er ihm nicht Bescheid gesagt hatte, dass wir nach Boston kämen, und dann schlug Jimmy vor, uns am Ziel abzuholen und uns zu unserem Auto zurückzufahren. Das war in jeder Hinsicht ein großzügiges Angebot, das wir bereitwillig annahmen, schon allein deswegen, weil Arnie offenbar keinen Plan hatte, wie wir nach Hopkinton zurückkommen würden. Dann rannte Jimmy vor, drehte sich um und machte einen Schnappschuss.