Gesammelte Werke. Aristoteles
47.Der Mut, ανδρεία, wörtlich Mannhaftigkeit, ist streng genommen nicht jener Starkmut, den man als eine der vier Grund- oder Kardinaltugenden bezeichnet, sondern in engerer Bedeutung die Seelenstärke gegenüber drohender Todesgefahr. Wir können den Begriff aber auch nicht mit Tapferkeit wiedergeben, weil dieses speziell den Mut in Kampf und Krieg bedeutet. Die Mäßigkeit, σωφροσύνη, besagt nicht Selbstbezwingung und Maßhaltung gegenüber jeder Begierde und Lust, sondern nur gegenüber jener, die auf dem Gefühl und Geschmack beruht. Vgl. unten III, 13 und VII, 6. Vgl. auch V. Buch Anm. 107. – Aristoteles unterscheidet beim Mute Furchtlosigkeit und Zuversicht als Abwesenheit der Angst und Vorhandensein des Sinnes zu wagen und zu trotzen.
48.Später, nämlich IV, 1. Für die Folge verweisen wir unsere Leser für solche Stellen der Ethik, die in dieser selbst angezogen werden, auf den Appendix in der griechischen Textausgabe von Susemihl-Apelt 278 ff. Siehe die Einleitung.
49.Ein Typus von Ironie ist Sokrates, der sich unwissend stellte, um andere durch Fragen zum Bewußtsein ihrer Unwissenheit zu bringen. Das Wort hat meistens die weitere Bedeutung geistreichen Spottes.
50.ευτραπελία, Artigkeit, eigentlich Wohlgeartetheit oder ihr entsprechendes Verhalten. Das griechische Wort hängt mit τρόπος zusammen, wie Artigkeit mit Art, das gleichbedeutend mit τρόπος ist. Vielleicht ist ευτραπελία mehr mit Rücksicht auf die Bedeutung Wende und Wenden, die τρόπος und τρέπειν hat, gebildet und bedeutet so eigentlich Gewandtheit. Vergl. übrigens das über ευτράπελοι οι̃ον εύτροποι Gesagte. IV, 14, Absatz 2.
51.Freundlichkeit, φιλία. Das griechische Wort hat mindestens vier Bedeutungen 1) Liebe im Gegensatz zu μισος, Haß, 2) Freundschaft, 3) das Verhältnis der gegenseitigen Liebe oder Interessengemeinschaft oder Zusammengehörigkeit, wie es besteht a) zwischen Verwandten, Gatte und Gattin, Eltern und Kindern, Bruder und Schwester u. s. w., b) Genossenschaftsmitgliedern oder Partnern an einem gemeinsamen Unternehmen, c) Angehörigen einer Volksabteilung, Klasse oder Zunft; endlich 4) Freundlichkeit oder auch der Freundschaft entsprechendes Benehmen und Entgegenkommen.
52.Die Worte stehen Odyssee 12, 219 f. und werden von Odysseus im Sinne, nicht der Kalypso, sondern der Zirze an den Steuermann gerichtet als Mahnung, bei der Durchfahrt durch die Meerenge sich mehr von der Charybdis als von der Szylla fern zu halten.
53.Die Worte stehen Ilias 3, 158 ff. und lauten:
»Gleicht sie an Schönheit doch der unsterblichen Göttinnen einer.
Aber so schön sie auch ist, so mag sie doch lieber nach Hause
Segeln, daß nur kein Unheil uns und die Unsern betreffe.«
54.Hier ist keiner von den fünf äußeren Sinnen, sondern die sogenannte sinnliche Urteilskraft gemeint. Man vergleiche das VI, 8 Absatz 2 über die Klugheit Gesagte; ebenso VI, 9 letzter Absatz nebst der Anm. 168.
55.In der nun verlorenen Tragödie des Euripides erschlug Alkmäon seine Mutter, um dem Fluche seines Vaters zu entgehen, der ihm beim Aufbruche zum thebanischen Kriege jenen Auftrag unter Androhung seines Fluches gegeben hatte. – Daß man eher sterben als gewisse Handlungen begehen soll, ist entweder wegen der jenseitigen Vergeltung gesagt oder deswegen, weil die Pflichttreue ein höheres Gut ist als das Leben. »Das Leben ist der Güter höchstes nicht, jedoch der Übel größtes ist die Schuld«.
56.Dieser Absatz faßt das Vorige zusammen. Wir bemerken hier nachträglich, daß der Zusatz in der Definition von erzwungen: wo der Handelnde nichts dazu tut, bedeutet, daß der Wille des von außen leidend Beeinflußten dem Geschehenden nicht zustimmen darf. Denn wie wir im folgenden Absatz hören, ist ein Einfluß von außen, seitens des Objektes, bei allem, was man begehrt und erstrebt, vorhanden.
57.Man urteile hiernach und nach der ganzen Darlegung in den folgenden Kapiteln, ob Aristoteles, wie man wohl behauptet, die Willensfreiheit läugnet! Wenn überhaupt menschliche Worte imstande sind, einen Sinn bestimmt und unzweideutig auszudrücken, dann muß man sagen, daß Aristoteles die Freiheit des menschlichen Willens ausgesprochen hat.
58.»Äschylus, vor den Areopag geladen unter der Anklage, in mehreren seiner Stücke das Geheimnis der Eleusinischen Mysterien verraten zu haben, verteidigte sich mit der Einrede, daß er niemals in die Mysterien eingeweiht gewesen sei (Clemens Alexandr. Strom. II, 387)«; nach Lasson.
59.»In der Tragödie des Euripides »Kresphontes« stellt Merope dem eigenen Sohne nach dem Leben, den sie nicht kennt«; nach Lasson.
60.Mit Willenswahl, lateinisch electio, übersetzen wir προαίρεσις. Es bedeutet eigentlich, wie Aristoteles am Ende des Kapitels bemerkt: einem vor anderem den Vorzug geben. Oft ist es mit Vorsatz wiederzugeben. Der Vorsatz scheint aber vorauszusetzen, daß die Ausführung noch etwas aussteht, oder auch, daß sie schwer oder langwierig ist. Am Scheidewege wähle ich z. B. den Weg rechts, mache aber keinen Vorsatz ihn einzuschlagen. Oder ich mache den Vorsatz, mich in der Geduld zu üben, erwähle das aber nicht, weil es nicht ohne weiteres bei mir steht.
61.βουλεύεσΦαι, überlegen. Andere geben es mit beratschlagen;. lateinisch consiliari oder consultare.
62.Die erste Ursache, die zuletzt gefunden wird, ist das erste in der Ordnung der Ausführung, womit man beginnt, um darauf die weiteren Handlungen folgen zu lassen, deren letzte das Werk vollendet.
63.Dieser Absatz soll zeigen, daß es beim Überlegen eine Grenze und ein Ende gibt: 1) von Seiten des Handelnden; die Überlegung hört auf und das Handeln fängt an, sobald man weiß, was zu tun ist; 2) von Seiten des Ziels; die Überlegung hört auf, sobald die Mittel zum Ziele gefunden sind; denn das Ziel selbst ist kein Gegenstand der Überlegung; 3) von Seiten der Mittel; daß sie die gesuchten Mittel sind, sagt uns die Wahrnehmung. Der letzte Satz: man käme sonst an kein Ende, soll indirekt, per impossibile, dartun, daß alle Überlegung an diesen drei Momenten ihr Ziel hat. Vgl. Buch I, Kap. 7, Anm. 24.
64.Man vergleiche auch zu diesem Kap. die Anm. 58 im 1. Kapitel!
65.Man weiß nicht, von wem dieser Ausspruch ist. – Die Ausführungen in diesem Kapitel sind gegen Platos Satz gerichtet, daß alle Verfehlung unfreiwillig oder auch durch mangelndes Wissen verschuldet ist; man sehe z. B. Gesetze, IX, 860 D und Protagoras 357 ff. In der großen Ethik I, 9. 1187a7 wird auch ausdrücklich gegen den vorgeblichen Satz des platonischen Sokrates, es sei nicht in unserer Gewalt, tugendhaft oder schlecht zu sein, Stellung genommen, wie auch in unserer Ethik VII, 3