JAGDGRÜNDE. Michael Mikolajczak

JAGDGRÜNDE - Michael Mikolajczak


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langsam davon. Die Bäume des Parks ragten über ihr in den Himmel. Schwarz, dunkel, bedrohlich.

      – 20 –

      Sie dachte an ihn, an die Dinge, die sie an ihm mochte. Iacub war aufmerksam, höflich, gebildet. Er konnte zuhören, versuchte zu helfen, wenn er konnte. Er war zärtlich. Er hatte Träume.

      Ihre Träume waren dieselben.

      »Feigling.«

      Der Gedanke war in ihrem Kopf und mit ihm die Erinnerung. Iacub hatte Angst vor Anne, Angst vor den Teenagern im Park. Macht und Gewalt schüchterten ihn ein. Er zog sich zurück, wenn er sich bedroht fühlte. Sie hätte ihn nicht drängen dürfen, dem Obdachlosen zu helfen. Sie hatte Iacub überfordert.

      Es tat ihr leid.

      Er war zärtlich. Er hatte Träume. Ihre Träume waren dieselben.

      Sie liebte ihn. Er war irgendwo da draußen. Irgendwo in der Nähe des Parks.

      – 21 –

      Lange Beine auf staksigen Pumps. Die Blätter der Bäume erzeugten ein Rauschen, einem Wispern gleich. Sie schenkte dem keine Bedeutung, war in Gedanken bei ihrer Freundin. Sie hatten zusammen geweint und getrunken. Zu lieben, hieß leiden, darin waren sie sich einig gewesen und hatten ihre Beziehung beendet.

      In einem Straßencafé hatten sie sich verabredet, hatten dort gegen die Hitze angetrunken und sich über ihre gescheiterten Hoffnungen ausgetauscht. Ein Mann hatte sie angesprochen, sie hatten ihn ignoriert und waren dafür als Lesben beschimpft worden. Gelacht hatten sie über ihn, es war das einzige Lachen in einer traurigen Nacht geblieben.

      Sie waren zu verschieden. Es war das Beste. Sie nahm sich vor, dies zu glauben. Etwas, das durch die Vernunft entschieden worden war, konnte nicht falsch sein.

      Sie wollte nach Hause, zu einem Ort, an dem sie hemmungslos weinen konnte. Sie hoffte auf Schlaf, auf wenige Stunden ohne Leid und Trauer.

      Nur eine schmale Straße trennte sie von ihrem Ziel. Wurzeln von lange schon gefällten Bäumen hatten den Asphalt aufgebrochen und gegeneinander verschoben. Eine der Straßenlaternen war ausgefallen. Der Schein der angrenzenden Lampen bildete weiß-gelbe Kreise auf dem aufgeworfenen Boden und zauberte bizarre Schatten. Unendlich weit voneinander schienen die Lampen entfernt, verbunden durch die Schwärze der Nacht.

      Eine Glühbirne kostete nicht die Welt. Sie fluchte auf den Bürgermeister der Stadt. Nicht einmal für den Austausch einer Glühbirne konnte er sorgen.

      Es war ihr zu einem nächtlichen Ritual geworden, im Lichtkegel stehen zu bleiben, sich umzusehen, sich Häuserfronten vorzustellen, in deren Fenster kein Licht mehr brannte und die die schmale Straße flankierten. Sie wusste um diese in Dunkelheit versunkenen Gebäude. Keine Tür gab es dort, die nicht durch mehrere Sicherheitsschlösser aus Stahl verstärkt war. Selbst in einem der ärmsten Viertel der Stadt war man vor Einbruch und Diebstahl nicht sicher. Es war absurd, die Armen stahlen von den Armen.

      Sie rannte dem Licht entgegen. Ihr blondes Haar wehte hinter ihr, versuchte Schritt zu halten.

      Wie Waffen hielt sie ihre Pumps in Händen.

      »Da sah ich den Himmel weit geöffnet. Da stand ein weißes Pferd. Auf ihm saß einer, der heißt der Treue und Wahrhaftige. Er urteilt und kämpft gerecht.«

      Die Dunkelheit war sein Verbündeter. Sie waren eins.

      Sie sah zu ihm und durch ihn hindurch, dann rannte sie los, näherte sich ihm mit großen Schritten und machte ihn glücklich.

      Sie erreichte das Licht und hielt darin inne. Die Begrenzung des Lichtkegels schien ihr ein unsichtbarer Schutzschild.

      Er hörte sie lachen, über sich selbst und ihre Angst. Es war ein hysterisches Lachen, ein Lachen, der gelösten Furcht.

      Wie töricht sie war.

      Er sah die silberfarbenen Platinen ihrer Pumps, ihre Knöchel, den schmalen Spann. Sie erregte ihn. Golden schimmerte ihr Haar. Er seufzte still. Er liebte sie. Bald würde sie ihm gehören. Er holte Luft und roch ihr Parfum.

      »Lasst die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht.«

      Vorsichtig bewegte er sich in der Dunkelheit, näherte sich ihr, sah ihre Brüste im Licht der Laterne.

      Sie war außer Atem.

      Sie wartete auf ihn.

      Er sah sie ihr Bein anwinkeln, sich mit den Fingern über die Fußsohlen streichen. Ihre Wade und ihre Arme waren sehnig und schlank. Sie schwitzte. Ein ausgekühlter Zigarettenstummel fiel vor ihrem schmalen Fuß zu Boden.

      Er stand hinter ihr, sah sich ihre Kehle öffnen und dem Blut ausweichen. Wie eine Fontäne würde es aus ihr sprudeln. Er würde sie stürzen sehen und ins Licht treten. Ihre Lippen würden sich bewegen, ihn stumm um Verzeihung bitten und er würde ihr vergeben.

      Er hielt sein Werkzeug fest umklammert, hob es auf Schulterhöhe, um ihr zu begegnen. Sie verschmähte ihn, verhöhnte ihn, verließ ihn.

      Sie lief davon, ohne ihn bemerkt zu haben.

      Er war zu überrascht, konnte ihr nicht folgen, sah sie ein Haus erreichen, eine Tür öffnen und schließen. Er spürte Enttäuschung, dann Wut. Warum endete die Jagd so oft auf diese Weise? Warum konnte er die Gedanken der Beute nicht erraten, nicht ihre Fluchtwege erkennen?

      Er folgte ihr zu der geschlossenen Tür, las einen Namen an der Klingel und flüsterte ihn.

      »Lara.«

      Er war ihrer Schönheit und dem Augenblick verfallen gewesen. Er hasste sich dafür. Warum war er so selbstsüchtig?

      Schritte. Leicht. Schnell. Eine Frau.

      Er floh aus dem Lichtschein, legte den Kopf in den Nacken und lauschte.

      Sie eilte auf ihn zu. War sie die Richtige?

      Warten.

      Eine Ballonmütze verdeckte ihr Haar.

      Unsicherheit.

      Eine Strähne hing in ihre Stirn.

      Gewissheit.

      Sie war sein.

      Er spürte sein Herz rasen.

      Als sie ihn sah, war es zu spät. Ihre Mütze fiel zu Boden, gab ihr halblanges blondes Haar frei.

      Der Rausch machte ihn glücklich.

      Sie versuchte zu schreien, gurgelte und schwieg. Ihr Blick suchte seine Augen und er lächelte für sie.

      Sie fiel, ihr blondes Haar bildete einen Kranz in ihrem Blut. Sie war zu ihm gekommen. Nur für ihn war sie hier.

      Er begleitete ihr Sterben.

      Ihr Name war Meret.

      Er ließ sie allein, ging in der Dunkelheit davon.

      Eine Kirchturmuhr schlug Mitternacht.

      Sie schlug, als Milla und Patrick aus dem Wagen stiegen.

      Sie schlug, als Helen schlaflos ihr Bett verließ.

      Sie schlug, als Iacub über einen auf dem Gehweg schlafenden Penner stieg.

      Sie schlug, als Arkady die U-Bahn am Park betrat.

      – 22 –

      Seine Finger waren kurz, die Nägel oval und ein wenig zu lang. Diese Finger hielten ein Foto. Die Frau darauf war tot. Nur wenige Minuten von hier lag sie in einer Kühlbox. Die junge, lächelnde Frau auf dem Bild war nicht mehr am Leben. Es fiel schwer, sich dies vorzustellen.

      »Jessica.«

      Leise sprach Arkady ihren Namen.

      Sein Bürostuhl drehte


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