Landpartie. Dietmar Grieser
Stille ein, Witwe Edith wachte bis zu ihrem eigenen Ableben im November 1990 über den schönen Besitz.
Waggerls Todesjahr 1973 fiel mit einem Datum zusammen, das für meine eigene berufliche Entwicklung von größter Tragweite war: Der S. Fischer Verlag in Frankfurt am Main brachte mein erstes eigenes Buch heraus: »Vom Schloß Gripsholm zum River Kwai«. Es folgten Titel wie »Schauplätze der Weltliteratur«, »Piroschka, Sorbas und Co.« und »Irdische Götter«. 1981 fand ich ein weiteres, ein neues Thema, das mich faszinierte: Wie wär’s, wenn ich versuchte, mit den Witwen der berühmten Dichter in Kontakt zu treten, sie an ihren Lebensorten aufzusuchen, zum Sprechen zu bringen und zu porträtieren? Nicht, daß sie, die Erbinnen und Nachlaßverwalterinnen ihrer Gefährten, immer auch deren berufenste Interpreten sein müßten. Aber ihr Erfahrungspotential aus einem in vielen Fällen langen Leben an der Seite des betreffenden Dichters – dies einzufangen und festzuhalten, könnte, so fand ich, eine lohnende Aufgabe sein. Unter welchen Freuden und Schmerzen die Arbeiten ihrer Männer entstanden waren, niemand vermöchte besser und authentischer davon Zeugnis abzulegen als sie: Es waren auch ihre Freuden und Schmerzen. »Musen leben länger« nannte ich mein Projekt. Postskripta zur Biographie der Literaten.
Die Arbeit lief gut an, ich traf mich mit Mary Tucholsky und Ilse Benn, Alessandra di Lampedusa empfing mich in ihrem Palast in Palermo, Alice Herdan-Zuckmayer in ihrem Chalet in Saas-Fee, Anna Ditzen-Fallada stand mir in ihrem DDR-Retiro im Mecklenburgischen Rede und Antwort, Erich Kästners Lebensgefährtin Luiselotte Enderle in der Kästner-Villa in München-Bogenhausen. Für die Österreich-Kapitel meines Buches stellten sich mir Maria von Doderer, Giselle Celan und Marietta Torberg zur Verfügung – da wäre, stellvertretend für die Sparte Heimatkunst, die seit acht Jahren verwitwete Edith Waggerl eine vortreffliche Ergänzung gewesen.
Ich fragte also brieflich bei ihr an, schlug ihr ein Treffen in Wagrain vor, wo sie und ihr Mann dreiundfünfzig Jahre miteinander unter einem Dach gelebt hatten. Ich machte mir allerdings wenig Hoffnung auf eine Zusage. Drei Gründe sprachen dagegen, daß mich Edith Waggerl zu einem Gespräch vorlassen würde. Da war zunächst einmal das Gerücht, das sich noch zu des Autors Lebzeiten in Österreich verbreitet hatte: Waggerl habe über viele Jahre eine enge Beziehung zu einer anderen Frau unterhalten, seine Ehe habe zuletzt nur noch auf dem Papier bestanden. Dann die ebenfalls nicht zum Verstummen zu bringenden Berichte über Waggerls Unfalltod: Sie, Gattin Edith, sei es gewesen, die an jenem Novembertag des Jahres 1973 das Unglücksauto gelenkt und somit mit großer Wahrscheinlichkeit das Ableben ihres Mannes verursacht habe. Und schließlich die Sache mit seiner politischen Vergangenheit …
Im Zuge der durch die sogenannte Waldheim-Debatte in Gang gesetzten Aufarbeitung des österreichischen NS-»Erbes« war ans Tageslicht gekommen, daß der am 10. Dezember 1897 in Bad Gastein Geborene stärker als zunächst angenommen ins Hitler-System verstrickt gewesen war. Zwischen 1912 und 1915 in Salzburg zum Lehrer ausgebildet, mit achtzehn zum Kriegsdienst einberufen, nach seiner Entlassung aus der Gefangenschaft zur Behandlung in die Lungenheilstätte Grafenhof (in der Jahrzehnte später auch Thomas Bernhard Patient war) eingeliefert, konnte Waggerl seinen Schuldienst nur eingeschränkt ausüben, mußte ihn 1922 sogar gänzlich einstellen und brachte sich und die ihm inzwischen angetraute Edith mit allerlei Gelegenheitsarbeiten durch – als Buchbinder, Versicherungsagent, Reklamezeichner, Werbetexter und Bauarbeiter.
Sein schriftstellerisches Debüt fiel in das Jahr 1928; dem Abdruck einer seiner Erzählungen in der Münchner Zeitschrift »Jugend« folgte 1930 die Veröffentlichung des ersten Buches im renommierten Insel-Verlag – es war der Roman »Brot«.
Neue Hoffnung für sein literarisches Fortkommen schöpfte der inzwischen Einundvierzigjährige aus der Zuwendung zum von Deutschland nach Österreich überschwappenden Nationalsozialismus: Er begrüßte den »Anschluß«, trat der Partei bei, ließ sich zum »Landesobmann der Schriftsteller im NS-Gau Salzburg« nominieren und übte nach Kriegsbeginn für die Dauer von acht Monaten sogar das Amt des Bürgermeisters aus. Was man Waggerl später ebenfalls vorhielt, war sein Naheverhältnis zu dem Schriftstellerkollegen Karl Springenschmid, der für die Salzburger Bücherverbrennung vom 30. April 1938 verantwortlich gewesen war.
Es brauchte allerdings lange Zeit, bis Karl Heinrich Waggerls Verstrickungen ins NS-Regime zum Gegenstand öffentlicher Diskussionen wurden. 1945 aus dem Kriegsdienst zurückkehrend, den er zuletzt als Kommandeur einer Dolmetscherkompanie absolviert hatte, ging Waggerl nunmehr ganz in seinem Metier als Buchautor, Funk- und Filmmitarbeiter und Rezitator auf; auch Auszeichnungen wie der Trakl-Preis und der Österreichische Staatspreis trugen zur Festigung seines Erfolges bei, der ihn weit über seinen Tod im Jahr 1973 hinaus zu einem der populärsten und bestverdienenden Schriftsteller des Landes machte. Nicht nur die Fülle seiner neuen beziehungsweise frisch aufgelegten alten Bücher, sondern auch seine umfangreiche Vortragstätigkeit, die es ihm leicht machte, sogar Massenveranstaltungssäle wie die Wiener Stadthalle bis auf den letzten Platz zu füllen, waren der Schutzschirm, der Waggerls braune Vergangenheit bis weit über die unmittelbare Nachkriegszeit hinaus zudeckte.
1986, dreizehn Jahre nach Waggerls Tod, brach die Waldheim-Krise aus: Der ehemalige UNO-Generalsekretär war zum Bundespräsidenten der Republik Österreich gewählt worden. Einem Flächenbrand gleich wurden nun auch andere NS-Belastete in die lautstark geführte Diskussion um Österreichs Anteil am Hitler-Terror einbezogen, darunter Waggerl.
Auch für Witwe Edith, die seine Erbin und Nachlaßverwalterin war, brach damit eine neue Zeit an – und keine leichte. Es war also abzusehen, daß ich mit meinem Wunsch, von der inzwischen Hochbetagten in Wagrain empfangen zu werden, mit ihr ins Gespräch zu kommen und sie in meinem Buch »Musen leben länger« zu porträtieren, wenig Glück haben würde. Und so war es denn auch: Edith antwortete mir auf meinen Brief – freundlich ablehnend. Betrogene Ehefrau, mutmaßliche Verkehrsunfallverursacherin und Nachlaßverwalterin eines politisch Verfemten – keine günstigen Voraussetzungen für ein Künstlerwitweninterview, wie ich es im Sinn gehabt hatte. Den Plan einer zweiten Reise nach Wagrain (wo das 1776 erbaute Waggerl-Haus 1975 in den Besitz der Gemeinde übergegangen war und heute, die dunklen Seiten der Dichterbiographie durchaus nicht ausblendend, als Waggerl-Museum geführt wird) konnte ich mir aus dem Kopf schlagen. Für mein Projekt »Musen leben länger« mußte ich mich jedenfalls nach einer anderen Kandidatin umsehen.
Ein dunkler Punkt
Zell am See kann nichts dafür, daß ich es so konsequent meide, als wäre die Perle des Pinzgaus in Wahrheit ein verruchter Ort, abscheulich, ungastlich, ein Hort des Bösen. Nur ein einziges Mal bin ich dort gewesen, und auch das nur für wenige Stunden: Es war eine Einladung zu einer Schullesung am örtlichen Gymnasium, und da es sich um eine dichtgedrängte Vortragsreise handelte, bei der ein Termin auf den anderen folgte, fuhr ich noch am selben Tag weiter zur nächsten Station. Die Möglichkeit, der berühmten Pfeilerbasilika einen Besuch abzustatten, im Zeller See ein Bad zu nehmen oder gar mit der Seilschwebebahn auf die Schmittenhöhe zu fahren, ließ ich ungenützt – nichts wie weg!
Auch in späteren Jahren hielt ich mich von Zell am See fern: Der von Sommerfrischlern wie Wintersportlern gleichermaßen gepriesene Ort zwischen Salzburg und Innsbruck übte auf mich keinerlei Reiz aus, und auch im fortgeschrittenen Alter, wo sich manche noch so festsitzenden Abneigungen zu lockern oder aufzulösen pflegen, hielt ich an meinem Vorurteil fest.
Erna Dworschak, die mit mir befreundete Seniorchefin des seinerzeit führenden Wiener Energiekonzerns »Kraft und Wärme«, lud mich Jahr für Jahr zu einem Besuch an ihrem Witwensitz ein; die Dworschaks hatten in Zell am See ein prachtvolles Anwesen, das mit allen erdenklichen Freizeitattraktionen lockte. Doch ich lehnte regelmäßig ab; immer wieder flüchtete ich mich in neue Ausreden, es war schon eine einzige Peinlichkeit, und als die alte Dame schließlich eines Tages starb, war ich bei aller Trauer um die Hochverehrte froh, fortan von dem Druck befreit zu sein, mein Versprechen einlösen und ihr in ihrem geliebten Sommerquartier meine Aufwartung machen zu müssen.
Den Gründen für meine manifeste, für jeden Kenner von Land und Leuten unverständliche Zell-Phobie nachzuforschen, wäre eine lohnende Aufgabe für einen Tiefenpsychologen – ich will versuchen, das Phänomen