Die wichtigsten Novellen, Romane & Erzählungen von Wilhelm Raabe. Wilhelm Raabe
Es war übrigens auch ein merkwürdiges Haus – merkwürdig war der Türklopfer, merkwürdig waren die gräßlichen Fratzengesichter, in welche die Dachrinnen ausliefen, merkwürdig war die Wetterfahne auf der Giebelspitze, welche einen Sankt Georg vorstellte, wie er ohne Gnade und Barmherzigkeit mit seinen heiligen Füßen auf dem Drachen herumtrampelte.
Mehr als einmal mußte der arme, ermüdete Paul den merkwürdigen, höhnischen Türklopfer in Bewegung setzen, ehe im Innern des alten Gebäudes sich jemand regte.
Endlich erschien ein altes Weib und schlug beim Anblick des kranken Italieners die Hände über dem Kopfe zusammen.
»Ihr wieder, Meister? O Jesus, Maria und Joseph, wie sehet Ihr aus! O was gibt es, was gibt es? Möget Ihr doch bessere Botschaft bringen, als Euer Gesicht verkündet. Tretet ein!«
Ohne auf die schwatzende Alte weiter zu achten, stürmte der Arzt, dem das erreichte Ziel alle früheren Kräfte wiedergab, an ihr vorüber und eilte mit schnellen Schritten eine dunkle Treppe hinauf, klopfte an eine altersschwarze, ebenfalls mit Schnitzereien verzierte, hohe Tür und trat in ein weitläufiges Gemach, in welches die Abendsonne eben ihre letzten Strahlen sandte.
Ein Greis erhob sich schnell aus einem Armsessel mit hoher, steifer Lehne, hielt die Hand über die zweifelnden Augen und rief erschreckt:
»Simone Spada, du? Du?«
Mit zitternden Händen stieß er den Sessel zurück und trat auf den jungen Arzt zu.
»Ja, ich, ich! Ich bin’s!« rief dieser. »O rüstet Euch, wappnet Euch gegen den Schrecken, den ich Euch bringe, Messer Benedetto!«
Der Alte griff hinter sich, als suche er nach einer Stütze; er hielt sich am Rande des Tisches: »Fausta?!«
Simone Spada nickte, sank in einen Sessel und schlug die Hände vor dem bleichen, hagern Gesicht zusammen. Mühsam faßte sich der Meister Meyenberger zu der Frage:
»Ich bin gewappnet. Sprecht, was ist’s mit ihr? Was ist geschehen?«
»Entflohen ist sie! Sie ist frei!«
»So schütze uns Gott!« murmelte dumpf der Alte. Die Bilder längst vermoderter Patrizier und Patrizierinnen aus dem Hause der Meyenberger lächelten grimmig herab von den Wänden auf den letzten des Geschlechtes, der nicht wie sie alle des »Nachbars Kind« gefreiet hatte und nun dafür büßte. Das Skelett hinter dem Sessel des greisen Arztes schien die schönste Minute seines Daseins zu genießen.
»Erzähle!« sagte der Doktor Meyenberger nach einer langen Pause. »Ich bin bereit und kann nun alles hören. Hast du sie gesehen, Simone? Wo hast du sie getroffen? Erzähle und verschweige mir nichts; es ist Gottes Wille, daß ich den Kelch der Schmerzen bis auf die Hefen leeren soll.«
Und der junge Arzt erzählte: wie ihn auf seiner Heimreise nach Italien das Gerücht von den Wundern, die sich am heiligen Born zu Pyrmont begeben sollten, bewogen habe, dorthin von seinem Wege abzuschweifen – was da vorgefallen sei und wie und wo er die Fausta La Tedesca verlassen habe.
Der Greis gab Zeichen der immer mehr sich steigernden Unruhe, Angst, Ratlosigkeit von sich; er schlug die Hände zusammen, er griff einmal sogar nach einem Seziermesser auf dem Tische wie nach einer Schutzwaffe, bis gegen Ende der Erzählung Simones eine vollständige Veränderung über sein ganzes Wesen kam. Ruhig lauschend saß er da, das Haupt war ihm zur Brust hinabgesunken, nur die tiefen Atemzüge verkündeten noch die Spannung, mit welcher er dem Berichte seines jungen Freundes folgte.
Als dieser zu Ende gekommen war, saßen die beiden Männer abermals lange Zeit im brütenden Schweigen einander gegenüber.
»Und was soll nun geschehen? Was sollen wir jetzt gegen sie tun?« fragte endlich Simone Spada.
Der Alte erhob das Haupt und schaute mit einem unbeschreiblichen Ausdruck in den Augen auf.
»Nichts!« sagte er. »Es ist alles geschehen, was wir tun konnten, was in menschlicher Macht lag; oder – oder – sollte ich ihr den Dolch in das Herz stoßen?!«
Simone Spada machte eine abwehrende Bewegung des Schreckens.
»Das wäre das letzte!« fuhr der Alte fort. »Nein, nein, es ist nichts mehr zu tun. Wie dich das Grauen übermannt hat, mein armer Sohn! Nun sollst du dich ruhen und dann – dann dein Roß wieder besteigen und heimziehen in dein Vaterland. Du bist mein lieber, guter Sohn, Simone, und meinen Segen, den ich schon neulich dir gegeben habe, will ich von neuem auf dein Haupt legen. Das Schicksal hat dich wie mich schwer und hart geprüft; fasse dich, mein armes Kind! In deinem Vaterlande lebe still, tue Gutes, lindere die Not der Armen und heile die Wunden der Kranken! Sieh, ich bin alt, und mein Leben wird wohl nur noch von kurzer Dauer sein; ich bin alt und müde, und meine Augen werden dunkel. O ich fühl’s, ich fühl’s, töricht haben wir in Gottes Willen eingreifen wollen – wir arme schwache Menschlein. – Jenen Herrn zu Pyrmont hast du gewarnt vor – vor ihr; was willst du ferner noch tun? Ach Simone Spada, wir wollen das andere dem großen Gott überlassen! … Dir möge er Ruhe und Glück und eine stille Heimat für deinen künftigen Lebensweg geben; mir aber möge er bald einen stillen und sanften Tod senden. Ruhe dich aus, und dann wollen wir wieder scheiden. – Armes Kind, wie deine Pulse klopfen!«
»O Meister, Meister!« schluchzte der junge Arzt.
»Jaja, Simone, mein liebes Kind, gehe heim und denke daran, daß ›droben waltet der große Zeus, der alles sieht und lenkt‹. Wir können nichts mehr tun, Simone Spada, – nichts, nichts!«
Und gewaltig brach nun doch der Schmerz und die Verzweiflung bei dem alten Manne hervor, er hob die Hände zum Himmel empor und rang sie fast wund:
»Wehe mir, wehe! Wie Dante Alighieri habe ich die Hölle durchwandert, die tote Franzeska und den Verführer habe ich schweben sehen durch die purpurne Finsternis; alle Schrecknisse und Qualen habe ich ausgekostet, und noch immer ist es nicht genug. – Wehe mir, wehe! Vergebens alles, alles vergebens!«
»O so lasset mich bei Euch bleiben, als Euer treuer Sohn!« rief Simone, die Hände des alten Freundes und Lehrers fassend, »Das Unglück hat mich zu Euerm Sohn gemacht, o lasset mich bleiben bei Euch, daß wir zusammen sitzen mögen und klagen über die Herrliche – die Schreckliche – die Verlorene!«
Mühsam hatte sich der Greis ein wenig gefaßt.
»Nein, nein, nein«, sprach er; »du bist jung, Simone, und zu lange, allzu lange habe ich dich in meine unglückseligen Bahnen hineingezogen. Gehe heim, mein Kind, gehe heim in dein schönes Vaterland; arbeite, vergiß und werde wieder glücklich!«
»Der Himmel ist so dunkel über mir wie über Euch, Meister«, murmelte Simone Spada. »Nie wird es mir wieder tagen. O lasset mich bei Euch bleiben!«
Der Alte faßte die Hand des Jüngern Mannes und führte ihn sanft an das Fenster und zeigte ihm eine Spinne, welche daselbst eben ihr Netz spann.
»Schau, Simone, vor einer Viertelstunde habe ich ihr das kleine Haus unversehens zerstört, schau, wie unermüdlich sie alle die abgerissenen Fäden, an denen ihr Dasein hängt, wieder anknüpft; folge der Spinne, mein Kind, und knüpfe die zerbrochenen Fäden deines Daseins auch wieder an, suche dir warme, treue Freundesherzen in der Heimat, an denen du sie befestigen kannst. Die Liebe hast du verloren, nun greife mit deiner jungen Hand nach einer andern Krone, greife nach dem Ruhm! Törichtes Kind, was willst du hier bei uns? Als Zauberer und Schwarzkünstler dich zum Scheiterhaufen schleppen lassen? Gehe heim, gehe heim, Simone Spada! Gehe nach Bologna; arbeite und gewinne dir Ruhm und Ehre und lerne zu vergessen!«
»Aber Ihr bleibt allein, so schrecklich allein mit dem Gedanken an – sie.«
»Nicht allein, Knabe. Es wird freilich selten ein menschlicher Fuß dieses Gemach betreten, aber darum werde ich nicht allein sein. Für den Kampf gegen die bösen Gedanken habe ich meine Wissenschaft, meine Bücher, dort jene alten Schädel und Gebeine; meine treue Feder habe ich. Und den Kampf gegen das Geschick, – den, o Simone, gebe ich nicht auf, weil ich Angst habe, sondern weil ich müde, müde bis zum Tode bin.«
Der junge Arzt erhob sich von seinem Sessel,