Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский


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zum Mittagessen ins Eßzimmer getragen. ›Ich will mit euch zusammen Wanja erwarten‹, sagte sie; aber wer nicht kam, war unser Wanja. Es ist ja bald sechs Uhr! Wo hast du dich denn herumgetrieben? Ja; ihr seid ein leichtsinniges Volk! Das vergebliche Warten hat sie so aufgeregt, daß ich gar nicht mehr wußte, wie ich sie beruhigen sollte… zum Glück ist sie eingeschlafen, das liebe Herz. Und nun ist auch noch Nikolai Sergejewitsch in die Stadt gegangen (zum Tee wird er wieder zurück sein), und ich muß mich hier allein abquälen … Er bekommt eine Stelle, Iwan Petrowitsch; aber wenn ich bedenke, daß es in Perm ist, dann überläuft es mich ganz kalt …«

      »Und wo ist Natascha?«

      »Im Gärtchen, Wanjuscha, im Gärtchen! Geh zu ihr! … Mit der ist’s auch nicht ganz richtig … ich weiß nicht, was ich davon denken soll … Ach, Iwan Petrowitsch, es ist mir recht schwer ums Herz! Sie versichert, daß sie heiter und zufrieden sei; aber ich glaube es ihr nicht … Geh doch zu ihr, Wanja, und sag mir dann heimlich, was sie hat! … Hörst du wohl?«

      Aber ich hörte nicht mehr auf Anna Andrejewna, sondern lief in den Garten. Dieser Garten gehörte zum Haus; er war ungefähr fünfundzwanzig Schritte lang und ebenso breit und ganz voll Grün. Es standen darin drei hohe, alte, breitwipflige Bäume, einige junge Birken, ein paar Fliedersträucher und Geißblattsträucher; ein Winkel war mit Himbeergebüsch bestanden; auch zwei Erdbeerbeete waren da, und zwei schmale, gewundene Steige zogen sich in der Länge und in der Quere durch das Gärtchen hindurch. Der Alte war von diesem Gärtchen ganz entzückt und versicherte, es würden in ihm bald auch Pilze wachsen. Die Hauptsache war, daß Nelly dieses Gärtchen liebgewonnen hatte und oft im Lehnstuhl hinausgetragen wurde; Nelly aber war jetzt der Abgott des ganzen Hauses. Aber da war ja auch Natascha; sie kam mir freudig entgegen und reichte mir die Hand. Wie mager und blaß sie war! Auch sie hatte sich nur mit Mühe von einer Krankheit erholt.

      »Bist du nun ganz fertig, Wanja?« fragte sie mich.

      »Ganz und gar, ganz und gar! Nun bin ich für den ganzen Abend frei.«

      »Nun, Gott sei Dank! Hast du auch nicht zu eilig geschrieben, zum Schaden der Sache?«

      »Was ist zu machen? Übrigens schadet das nichts. Bei mir bildet sich infolge solcher angestrengten Arbeit ein besonderer Reizzustand der Nerven heraus; ich denke dann klarer und lebhafter und empfinde tiefer, und sogar mein Stil wird geschmeidiger, so daß gerade bei angespannter Arbeit etwas Besseres herauskommt. Es ist alles in Ordnung…«

      »Ach, Wanja, Wanja!«

      Ich hatte gemerkt, daß Natascha sich in der letzten Zeit außerordentlich für meine literarischen Erfolge und meinen Ruhm interessierte. Sie las alles, was ich im letzten Jahr hatte drucken lassen, noch einmal durch, erkundigte sich alle Augenblicke nach meinen weiteren Plänen, nahm eifrig Kenntnis von jeder Rezension, die über mich geschrieben wurde, ärgerte sich über einige derselben und wollte durchaus, daß ich in der Literatur eine hohe Stellung einnähme. Sie gab ihrem Wunsch so starken und energischen Ausdruck, daß ich über diese ihre Willensrichtung ganz verwundert war.

      »Du wirst dich ausschreiben, Wanja«, sagte sie zu mir; »dadurch, daß du dir so Gewalt antust, wirst du dich ausschreiben; und außerdem wirst du deiner Gesundheit schaden. Da sieh einmal S. an; der schreibt alle zwei Jahre eine Novelle; und N. hat in zehn Jahren nur einen einzigen Roman geschrieben. Aber wie sorgsam ausgearbeitet und gefeilt sind dafür auch ihre Produkte! Da ist nicht die geringste Nachlässigkeit zu finden.«

      »Ja, das mag sein; aber die befinden sich auch in gesicherter Lebensstellung und schreiben nicht für einen bestimmten Termin; ich dagegen bin ein Postklepper! Na, aber das ist alles dummes Zeug! Lassen wir es beiseite, Nataschenka! Nun, gibt es nichts Neues?«

      »O doch, vieles. Erstens ein Brief von ihm.«

      »Noch einer?«

      »Ja, noch einer.«

      Sie reichte mir einen Brief von Aljoscha. Es war schon der dritte nach der Trennung. Den ersten hatte er noch aus Moskau geschrieben, und zwar in einem Anfall von leidenschaftlicher Erregung. Er hatte ihr darin mitgeteilt, die Umstände hätten sich so gestaltet, daß es ihm schlechterdings unmöglich sei, von Moskau nach Petersburg zurückzukehren, wie das bei der Trennung in Aussicht genommen worden sei. In dem zweiten Brief hatte er sich beeilt, sie zu benachrichtigen, daß er nächstens bei uns eintreffen werde, um sich schleunigst mit Natascha trauen zu lassen; das sei beschlossene Sache, und keine Gewalt der Erde könne es hindern. Dabei aber ging aus dem ganzen Ton des Briefes hervor, daß er sich in Verzweiflung befand, daß fremde Einwirkungen ihn bereits vollständig überwunden hatten und daß er zu sich selbst kein Vertrauen mehr hatte. Er hatte darin unter anderem erwähnt, daß Katja seine Vorsehung sei; sie sei die einzige, die ihn tröste und aufrechterhalte. Mit großem Interesse entfaltete ich seinen jetzigen dritten Brief. Er füllte zwei Briefbogen, war in abgerissenen Sätzen, unordentlich, hastig und unleserlich geschrieben und von Tintenflecken und Tränen entstellt. Am Anfang dieses Briefes sagte Aljoscha sich von Natascha los und bat sie, ihn zu vergessen. Er bemühte sich, zu beweisen, daß ihre Verbindung unmöglich sei; fremde, feindliche Einflüsse seien stärker als er; und schließlich sei es so auch das beste, da sie alle beide, er sowohl wie Natascha, unglücklich werden würden, weil sie nicht zueinander paßten. Aber er blieb nicht konsequent, ließ auf einmal all seine Erwägungen und Beweise außer acht und gestand, ohne die erste Hälfte seines Briefes zu zerreißen und wegzuwerfen, unmittelbar dahinter, daß er sich Natascha gegenüber eines Verbrechens schuldig gemacht habe, daß er ein verlorener Mensch sei und nicht die Kraft besitze, dem Willen seines Vaters zu widerstehen, der jetzt auf das Land gekommen sei. Er schrieb, er sei nicht imstande, seine Qualen zu schildern; dann gestand er unter anderem, er fühle sich vollkommen dazu befähigt, Natascha glücklich zu machen; darauf begann er auf einmal zu beweisen, daß sie durchaus zueinander paßten, widerlegte heftig und ingrimmig die Gegengründe seines Vaters, entwarf voller Verzweiflung ein Bild des glückseligen Lebens, das ihm und Natascha bevorstände, wenn sie sich heirateten, verfluchte sich wegen seiner Schwachmütigkeit und – sagte ihr für immer Lebewohl! Der Brief war augenscheinlich unter Qualen geschrieben; bei seiner Abfassung hatte er offenbar nicht aus, nicht ein gewußt; mir kamen beim Durchlesen die Tränen in die Augen. Natascha reichte mir noch einen anderen Brief von Katja. Dieser Brief war in ein und demselben Kuvert mit dem von Aljoscha gekommen, war aber besonders gesiegelt gewesen. Katja teilte ihr ziemlich kurz, in wenigen Zeilen, mit, daß Aljoscha in der Tat sehr traurig sei, viel weine und sich geradezu der Verzweiflung hingebe, ja sogar ein wenig krank sei; aber sie sei bei ihm, und er werde noch glücklich werden. Unter anderem bat Katja, Natascha möge nicht denken, daß Aljoscha sich so bald trösten könne und daß seine Traurigkeit nicht ernst sei. ›Er wird Sie niemals vergessen‹, fügte Katja hinzu; ›und er kann Sie auch schlechterdings niemals vergessen, weil er ein so gutes Herz hat; er liebt Sie grenzenlos und wird Sie immer lieben, und wenn er jemals aufhören sollte, Sie zu lieben, jemals aufhören sollte, bei der Erinnerung an Sie Schmerz zu empfinden, so würde ich selbst dafür sofort aufhören, ihn zu lieben …‹

      Ich gab Natascha die beiden Briefe zurück: wir wechselten einen Blick miteinander; aber keiner von uns sagte ein Wort. So war es auch bei den ersten beiden Briefen gewesen, und überhaupt vermieden wir es jetzt wie auf Verabredung, über die Vergangenheit zu reden. Sie litt unsäglich; das sah ich; aber selbst mir gegenüber mochte sie sich nicht aussprechen. Nach der Rückkehr ins Elternhaus hatte sie drei Wochen lang an einem Nervenfieber krank gelegen und sich erst jetzt einigermaßen erholt. Wir redeten sogar wenig über die nahe bevorstehende Veränderung unseres Lebens, obgleich sie wußte, daß ihr Vater eine Stelle bekommen sollte und wir uns bald voneinander trennen mußten. Trotzdem war sie gegen mich so zärtlich und aufmerksam, interessierte sich in dieser ganzen Zeit so für alles, was mich betraf, und hörte mit so beharrlicher, gespannter Aufmerksamkeit alles an, was ich ihr auf ihr Verlangen von mir erzählte, daß mir das zuerst sogar peinlich war: ich hatte die Empfindung, als wolle sie mich für die Vergangenheit entschädigen. Aber diese peinliche Empfindung verschwand schnell: Ich erkannte, daß in ihr ein ganz anderes Gefühl lebendig war, daß sie mich einfach liebte, grenzenlos liebte, ohne mich nicht leben konnte und aus innerem Drang an allem, was mich betraf, Anteil nahm; und ich glaube, nie hat eine Schwester einen Bruder so warm geliebt, wie mich Natascha liebte. Ich wußte sehr wohl, daß der Gedanke an unsere bevorstehende Trennung sie


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