Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский


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ihren Gedanken an allerlei Gegenstände an, die ihnen unterwegs in die Augen fallen‹, dachte er flüchtig; aber dieser Gedanke huschte ihm nur momentan, wie ein Blitz, durch den Kopf; er selbst verscheuchte ihn wieder so schnell wie möglich … Aber nun war er schon nahe; da war das Haus; da war der Torweg. Irgendwo tönte von einer Uhr ein einzelner Schlag. ›Wie? Ist es wirklich schon halb acht? Das ist nicht möglich; die Uhr geht gewiß vor.‹

      Zu seinem Glücke ging im Torweg auch diesmal wieder alles nach Wunsch. Wie gerufen, fuhr gerade in diesem Augenblicke dicht vor ihm eine gewaltige Fuhre Heu in den Torweg hinein, die ihn die ganze Zeit über, während er durch den Torweg hindurchging, verdeckte, und sowie der Wagen aus dem Torweg in den Hof einfuhr, schlüpfte er in einem Nu nach rechts. Er hörte, wie auf der andern Seite des Wagens ein paar Stimmen schrien und zankten; aber niemand hatte ihn bemerkt, und niemand kam ihm entgegen. Viele Fenster, die auf diesen riesigen, quadratischen Hof hinausgingen, standen in diesem Augenblick offen; aber er hob den Kopf nicht in die Höhe; er fand in sich nicht die Kraft dazu. Die Treppe, die zu der Wohnung der Alten hinaufführte, befand sich ganz in der Nähe, gleich rechts vom Torweg. Schon war er an der Treppe …

      Er holte Atem, drückte die Hand gegen das stark klopfende Herz, tastete dabei zugleich nach dem Beile und schob es noch einmal zurecht; dann begann er vorsichtig und leise, alle Augenblicke horchend, die Treppe hinaufzusteigen. Aber auch die Treppe war um diese Zeit völlig leer; alle Türen waren geschlossen; er begegnete keinem Menschen. Im ersten Stock allerdings stand die Tür zu einer leerstehenden Wohnung weit offen, und drinnen waren Maler bei der Arbeit; aber auch diese sahen nicht nach ihm hin. Er blieb einen Augenblick stehen, überlegte und ging dann weiter. ›Gewiß, besser wäre es, wenn die nicht hier wären; aber … es liegen ja noch zwei Stockwerke über ihnen.‹

      Aber nun war er im dritten Stock; da war die Tür der Alten, und da gegenüber noch eine andre Wohnung; diese stand leer. Im zweiten Stock war die Wohnung, die gerade unter der Wohnung der Alten lag, allem Anschein nach gleichfalls unbewohnt: die Visitenkarte, die mit Reißstiften an die Tür genagelt gewesen war, war abgenommen – also waren die Leute ausgezogen! … Er konnte kaum Atem holen. Einen Augenblick ging ihm der Gedanke durch den Kopf: ›0b ich nicht lieber wieder fortgehe?‹ Aber er gab sich keine Antwort und horchte nach der Wohnung der Alten hin: es herrschte dort Totenstille. Dann horchte er noch einmal nach der Treppe hinunter, lange und aufmerksam … Hierauf sah er sich zum letzten Male um, nahm seinen Mut zusammen, rückte seinen Anzug zurecht und fühlte noch einmal nach dem Beil in der Schlinge. ›Ob ich auch nicht allzu blaß aussehe?‹ dachte er. ›Bin ich auch nicht in übermäßiger Erregung? Sie ist mißtrauisch. Ob ich lieber noch einen Augenblick warte, bis das Herz in Ordnung kommt?‹

      Aber das Herz kam nicht in Ordnung. Im Gegenteil, es schlug, wie ihm zum Tort, nur immer heftiger. Er konnte es nicht ertragen, noch länger zu warten, streckte langsam die Hand nach der Klingel aus und schellte. Nach einer halben Minute schellte er noch einmal, etwas stärker.

      Nichts rührte sich. So einfach weiter zu klingeln hatte keinen Zweck und paßte ihm nicht in seinen Plan. Er sagte sich, daß die Alte sich selbstverständlich in der Wohnung befinde, aber allein zu Hause und darum besonders argwöhnisch sei. Er kannte schon teilweise ihre Gewohnheiten und legte darum noch einmal sein Ohr dicht an die Tür. Ob nun seine Sinne so scharf waren (was sich allerdings schwer annehmen läßt), oder ob es wirklich nicht schwer zu hören war, genug, er vernahm ein vorsichtiges Herumtasten einer Hand an der Türklinke und das Rascheln eines Kleides an der Tür. Es stand jemand heimlich dicht am Türschloß und horchte, ganz ebenso wie er hier von außen, so seinerseits versteckt von innen, und hatte anscheinend gleichfalls das Ohr an die Tür gedrückt …

      Er machte absichtlich ein paar Bewegungen und brummte ziemlich laut etwas vor sich hin, um nicht den Anschein zu erwecken, als ob er sich verstecken wolle; dann schellte er zum dritten Male, aber sacht, maßvoll und ohne jedes Zeichen von Ungeduld. Sooft er sich in späterer Zeit hieran erinnerte, und zwar in voller Klarheit und Deutlichkeit (denn dieser Augenblick hatte sich seinem Gedächtnisse für das ganze Leben eingeprägt), so war es ihm stets unbegreiflich, wo er nur so viel Schlauheit hergenommen hatte, um so mehr, da sein Verstand sich in einzelnen Augenblicken geradezu verdunkelte und er seinen Körper fast gar nicht fühlte … Einen Augenblick darauf hörte er, wie der Riegel gelöst wurde.

      VII

      Die Tür wurde wie das vorige Mal nur bis zu einem schmalen Spalt geöffnet, und wieder hefteten sich zwei scharfe, mißtrauische Augen aus der Dunkelheit auf ihn. In diesem Momente verlor Raskolnikow die ruhige Überlegung und beging einen großen Fehler.

      Da er befürchtete, die Alte könnte sich ängstigen, weil sie beide allein wären, und da er nicht zu hoffen wagte, sein Äußeres werde sie von seiner Harmlosigkeit überzeugen, so griff er nach der Tür und zog sie an sich heran, damit die Alte sich nicht etwa beifallen ließe, sie wieder zuzumachen. Als sie dies wahrnahm, riß sie zwar die Tür nicht wieder zu sich heran, ließ aber auch nicht den Türgriff los, so daß Raskolnikow sie beinahe mit der Tür auf die Treppe herauszog. Da er aber sah, daß sie quer vor der Tür stand und ihm den Eintritt versperrte, trat er gerade auf sie zu. Die Alte sprang erschrocken zurück und wollte etwas sagen; aber sie konnte kein Wort hervorbringen und blickte ihn nur mit weit geöffneten Augen an.

      »Guten Tag, Aljona Iwanowna«; begann er in möglichst ungezwungenem Tone; aber die Stimme gehorchte ihm nicht, sondern bebte und versagte. »Ich bringe Ihnen hier … einen Wertgegenstand … Aber kommen Sie doch lieber dorthin … ans Licht.«

      Er ließ sie stehen und ging geradezu, ohne dazu aufgefordert zu sein, ins Zimmer. Die Alte eilte ihm nach; jetzt hatte sie endlich die Sprache wiedergefunden.

      »Herr Gott, was wollen Sie denn? Wer sind Sie? Was wünschen Sie?«

      »Aber ich bitte Sie, Aljona Iwanowna, Sie kennen mich doch von früher, … Raskolnikow … Hier bringe ich Ihnen das Pfandstück, von dem ich neulich schon gesprochen habe …«

      Er hielt ihr das Pfandstück hin. Die Alte sah einen Augenblick nach dem Pfandstück, starrte dann aber sogleich wieder dem zudringlichen Besucher in die Augen. Sie betrachtete ihn aufmerksam, ergrimmt und mißtrauisch. So verging etwa eine Minute; er glaubte sogar in ihren Augen etwas wie Spott zu erkennen, als ob sie alles schon erraten hätte. Er fühlte, daß er die ruhige Überlegung verlor und beinahe Furcht bekam, solche Furcht, daß es ihm schien, wenn sie ihn so, ohne ein Wort zu sagen, noch eine halbe Minute lang ansähe, so würde er davonlaufen.

      »Warum sehen Sie mich denn so an, als ob Sie mich nicht wiedererkennten?« sagte er auf einmal gleichfalls ärgerlich. »Wenn Sie wollen, dann nehmen Sie es; wenn nicht, dann gehe ich zu jemand anders; viel Zeit habe ich nicht.«

      Er hatte so etwas eigentlich gar nicht sagen wollen; aber es fuhr ihm so von selbst heraus.

      Die Alte gewann ihre Fassung wieder, und der entschiedene Ton des Besuchers beruhigte sie offenbar.

      »Aber Väterchen, wie können Sie nur gleich so … Was ist es denn?« fragte sie mit einem Blick auf das Pfandstück.

      »Ein silbernes Zigarettenetui; ich habe ja schon das vorige Mal davon gesprochen.«

      Sie streckte die Hand danach aus.

      »Aber woher sind Sie denn nur so blaß? Ihnen zittern ja auch die Hände so! Sie haben wohl gebadet, Väterchen?«

      »Ich habe Fieber«, antwortete er kurz. »Da kann man schon blaß werden, … wenn man nichts zu essen hat«, fügte er murmelnd hinzu. Die Kraft verließ ihn wieder. Aber seine Antwort hatte den Eindruck der Wahrheit gemacht; die Alte nahm das Pfandstück.

      »Was ist das für ein Ding?« fragte sie, indem sie Raskolnikow noch einmal scharf anblickte und das Pfandstück in der Hand wog.

      »Ein Wertstück, … ein Zigarettenetui … aus Silber. Sehen Sie es sich nur an.«

      »Na, Silber wird es wohl kaum sein … Aber haben Sie das fest verschnürt!«

      Während sie sich damit abmühte, den Bindfaden aufzuknüpfen, und sich nach dem Fenster zum Lichte wendete (alle Fenster waren in ihrer Wohnung trotz der Schwüle geschlossen), ließ sie ihn einige Sekunden ganz außer acht und drehte ihm den Rücken zu. Er knöpfte


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