Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
schamrot werde, wenn nicht etwa gar ich, sondern auch nur in meiner Gegenwart andre davon reden. Sie haben sich natürlich beeilt, sich durch Schaustellung Ihrer Kenntnisse empfehlend einzuführen; das ist sehr verzeihlich, und ich verüble Ihnen das nicht. Mir persönlich lag jetzt nur daran, zu erfahren, wes Geistes Kind Sie sind; denn sehen Sie, an die gute Sache haben sich in letzter Zeit so viele schlaue Streber von mancherlei Art herangedrängt und haben alles, was sie in die Finger bekamen, in ihrem Interesse so entstellt, daß sie entschieden die ganze Sache versudelt haben. Aber nun genug davon!«
»Verehrter Herr«, begann Lushin und verdrehte überaus würdevoll den Oberkörper, »wollen Sie etwa so unverblümt sagen, daß auch ich …«
»Aber ich bitte Sie! … Wie könnte ich denn! … Nun, genug davon!« damit schnitt Rasumichin die Erörterung kurz ab und wandte sich dann unvermittelt an Sossimow, um das frühere Gespräch fortzusetzen.
Pjotr Petrowitsch war klug genug, der Erklärung Rasumichins sofort Glauben zu schenken. Indes nahm er sich vor, in zwei Minuten wegzugehen.
»Ich hoffe«, sagte er zu Raskolnikow, »daß unsere Bekanntschaft, die wir jetzt eingeleitet haben, sich infolge der Ihnen bekannten Verhältnisse nach Ihrer Genesung noch weiter festigen wird … Vor allen Dingen wünsche ich Ihnen gute Besserung …«
Raskolnikow drehte nicht einmal den Kopf zu ihm hin. Pjotr Petrowitsch machte Anstalten, sich von seinem Stuhle zu erheben.
»Jedenfalls ist der Mord von einem Pfandschuldner begangen!« erklärte Sossimow mit großer Bestimmtheit.
»Unbedingt!« pflichtete ihm Rasumichin bei. »Porfirij spricht seine Gedanken zwar nicht aus, aber er verhört doch die Pfandschuldner.«
»Er verhört die Pfandschuldner?« fragte Raskolnikow laut.
»Ja. Was hast du denn?«
»Nichts.«
»Wie findet er denn die heraus?« fragte Sossimow.
»Einige hat ihm Koch genannt; von ein paar andern Schuldnern standen die Namen auf den Umschlägen der Pfänder notiert; einige meldeten sich auch von selbst, als sie hörten …«
»Na, aber eine geschickte und erfahrene Kanaille muß doch dieser Mörder gewesen sein! So eine Kühnheit! So eine Entschlossenheit!«
»Das ist es ja eben, daß diese Ansicht völlig fehlgeht!« unterbrach ihn Rasumichin. »Das bringt euch alle von der richtigen Fährte ab. Ich aber sage; er war ungeschickt und unerfahren, und dies war sicherlich sein erstes Unternehmen. Bei der Voraussetzung, daß wir es mit Berechnung und einer geschickten Kanaille zu tun haben, ergibt sich eine innere Unwahrscheinlichkeit. Setzen wir aber einen unerfahrenen Mörder voraus, so ergibt sich, daß einzig und allein der Zufall ihm aus der Klemme geholfen hat, und was tut nicht alles der Zufall! Ich bitte dich, die möglichen Hindernisse hat er vielleicht gar nicht vorher überlegt! Und wie hat er die Tat ausgeführt? Er nimmt Dinge weg, die zehn oder zwanzig Rubel wert sind, stopft sich damit die Taschen voll, wühlt in dem Kasten des alten Weibes unter den Lumpen umher, und in der Kommode, im obersten Schubkasten, findet man nachher in einer Schatulle allein an barem Gelde gegen tausendfünfhundert Rubel, abgesehen von den Wertpapieren! Nicht einmal zu rauben hat er verstanden; das einzige, was er verstanden hat, war Morden. Das war sein erstes Unternehmen, sage ich dir, sein erstes Unternehmen; er hat dabei die ruhige Überlegung verloren! Und nicht durch schlaue Berechnung, sondern durch einen reinen Zufall ist er entkommen!«
»Sie sprechen da wohl von der neulichen Ermordung der alten Beamtenwitwe«, mischte sich, zu Sossimow gewendet, Pjotr Petrowitsch in das Gespräch, der schon mit dem Hute und den Handschuhen in der Hand dastand, aber vor dem Weggehen noch ein paar kluge Worte von sich zu geben wünschte.
Es lag ihm offenbar viel daran, einen vorteilhaften Eindruck zu hinterlassen, und die Eitelkeit trug dabei den Sieg über die Klugheit davon.
»Ja. Haben Sie auch davon gehört?«
»Gewiß, bei so naher Nachbarschaft …«
»Kennen Sie die Einzelheiten?«
»Das kann ich nicht behaupten. Aber mich interessiert dabei ein anderer Umstand, ich möchte sagen: eine sozialpolitische Frage. Ich will nicht davon reden, daß in der untersten Volksschicht die Verbrechen im Laufe der letzten fünf Jahre erheblich zugenommen haben; ich will nicht von den Raubüberfällen und Brandstiftungen reden, die jetzt allerwärts und unaufhörlich vorkommen; das Allermerkwürdigste ist vielmehr für mich, daß die Verbrechen auch in den höheren Schichten ebenso zunehmen, ich möchte sagen: in paralleler Kurve. An einer Stelle, hört man, hat ein früherer Student auf offener Landstraße die Post beraubt; an einer andern fabrizieren Leute, die nach ihrer sozialen Stellung zu den besseren Kreisen gehören, falsche Banknoten; dort, in Moskau, wird eine ganze Bande abgefaßt, welche falsche Staatsschuldscheine der letzten Prämienanleihe anfertigte, und einer der Hauptschuldigen war Dozent der Weltgeschichte; dort, im Ausland, wird einer unserer Gesandtschaftssekretäre aus einem rätselhaften pekuniären Anlasse von einem Kollegen ermordet … Und wenn jetzt diese alte Wucherin von einem Angehörigen der höheren Stände getötet wurde – denn einfache Leute versetzen doch keine Goldsachen –, wie läßt sich dann diese Demoralisation des gebildeten Teiles unserer Bevölkerung erklären?«
»Es haben eben viele Veränderungen in den ökonomischen Verhältnissen stattgefunden«, erwiderte Sossimow.
»Wie sich das erklären läßt?« fiel Rasumichin ein. »Das könnte man gerade durch die fest eingewurzelte Untüchtigkeit erklären.«
»Wie meinen Sie das?«
»Was antwortete denn in Moskau Ihr Dozent auf die Frage, warum er Staatsschuldscheine gefälscht habe? ›Alle bereichern sich auf die eine oder andre Art; daher wollte auch ich schnell reich werden.‹ Des Wortlautes entsinne ich mich nicht; aber der Sinn war: reich werden auf andrer Leute Kosten, recht schnell, ohne Arbeit! Wir haben uns gewöhnt, alles zum Leben Nötige einfach vorzufinden, mit fremder Hilfe zu gehen, ohne vorhergehende Mühe zu genießen. Na, und wenn dann ein kritischer Augenblick kommt, dann zeigt sich ein jeder in seinem wahren Charakter …«
»Ja, aber wo bleibt denn da die Moral? Und sozusagen die Prinzipien des Handelns?«
»Worüber erregen Sie sich denn so?« mischte sich, für alle unerwartet, Raskolnikow in das Gespräch. »Das entspricht doch vollständig Ihrer Theorie!«
»Inwiefern soll das meiner Theorie entsprechen?«
»Ziehen Sie aus den Grundsätzen, die Sie vorhin vortrugen, die sich daraus ergebenden Schlüsse, so kommen Sie zu dem Resultate, daß es gestattet ist, andre Menschen zu töten …«
»Aber ich bitte Sie!« rief Lushin.
»Nein, das ist denn doch nicht richtig!« warf auch Sossimow dazwischen.
Raskolnikow lag ganz blaß da; seine Oberlippe zuckte; er atmete mühsam.
»Es hat doch alles seine Grenzen«, fuhr Lushin hochmütig fort. »Eine nationalökonomische Idee ist noch keine Aufforderung zum Morde, und wenn man nur annimmt …«
»Ist es wahr, daß Sie«, unterbrach ihn Raskolnikow wieder mit vor Wut bebender Stimme, der man es anmerkte, wie sehr es ihn freute, den andern kränken zu können, »ist es wahr, daß Sie in eben der Stunde, da Sie von Ihrer Braut das Jawort erhielten, ihr gesagt haben, Sie freuten sich ganz besonders darüber, daß sie bettelarm sei, weil es seine großen Vorzüge habe, eine ganz arme Frau zu nehmen, um dann nachher über sie herrschen zu können … und ihr vorhalten zu können, welche Wohltat sie Ihnen zu verdanken habe?«
»Verehrter Herr«, rief Lushin zornig und gereizt; er hatte einen ganz roten Kopf bekommen und völlig die Fassung verloren. »Verehrter Herr, … wie können Sie den Sinn meiner Worte so entstellen! Nehmen Sie es nicht übel, aber ich muß Ihnen sagen, daß die Gerüchte, die zu Ihnen gedrungen sind, oder richtiger: die Ihnen zugetragen wurden, auch nicht eine Spur der Wahrheit enthalten. Aber ich … ich kann mir denken, wer … mit einem Worte … dieser Pfeil … mit einem Worte, Ihre Frau Mutter … Sie kam mir überhaupt, bei all ihren vortrefflichen Eigenschaften, etwas schwärmerisch und romantisch angehaucht vor … Aber ich habe doch nicht im entferntesten