Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
wo alle Leute auf der Straße blaßgrüne, kränkliche Gesichter haben, oder noch besser, wenn bei ruhiger Luft nasser Schnee ganz senkrecht herunterfällt, wissen Sie, und die Gaslaternen so durch die Flocken hindurchblinken.«
»Ich weiß nicht … Entschuldigen Sie …«, murmelte der Herr, betroffen über die Frage und über Raskolnikows sonderbares Aussehen, und ging nach der andern Seite der Straße hinüber.
Raskolnikow ging geradeaus weiter und kam zu der Ecke am Heumarkte, wo jener Kleinbürger und seine Frau ihren Handel hatten, die damals das Gespräch mit Lisaweta führten; aber sie waren jetzt nicht mehr da. Als er die Stelle erkannt hatte, blieb er stehen, blickte um sich und wandte sich an einen jungen Burschen in rotem Hemde, der am Eingange eines Mehlladens gähnte.
»Hier an der Ecke hat doch sonst ein Händler, ein Kleinbürger, mit seiner Frau seinen Stand, nicht wahr?«
»Es gibt viele Händler«, antwortete der Bursche und musterte Raskolnikow von oben herab.
»Wie heißt der hier?«
»Wie er getauft ist, so heißt er auch.«
»Bist du nicht auch aus Saraisk? Aus welchem Gouvernement bist du?«
Der Bursche musterte den Fragenden von neuem.
»Bei uns, Ew. Erlaucht, ist gar kein Gouvernement, nur ein Kreis; und mein Bruder, der ist viel herumgereist und klug geworden; aber ich habe immer zu Hause gesessen, und darum weiß ich auch nichts. Also wollen Ew. Erlaucht gnädigst verzeihen.«
»Ist das da oben eine Speisewirtschaft?«
»Das ist ein Restaurant, und ein Billard ist auch da, und Damen wie die Prinzessinnen, vallera!«
Raskolnikow überquerte den Platz. Dort stand an der Ecke ein dichter Menschenhaufe, lauter einfaches Volk. Er drängte sich mitten hinein und betrachtete die Gesichter. Es regte sich in ihm ein unklarer Wunsch, mit all diesen Leuten Gespräche anzuknüpfen. Aber sie beachteten ihn gar nicht und lärmten und schrien unter sich in dichten Gruppen. Er stand ein Weilchen, überlegte und ging dann nach rechts, das Trottoir entlang, in der Richtung nach dem W…-Prospekte. Als er den Platz verlassen hatte, geriet er in eine Seitengasse.
Er war auch früher schon häufig durch diese nur kurze Gasse gekommen, die ein Knie bildet und vom Heumarkte nach der Sadowaja-Straße führt. In der letzten Zeit hatte es für ihn sogar einen besonderen Reiz gehabt, sich in dieser ganzen Gegend umherzutreiben, wenn ihn das Dasein anekelte: »damit der Ekel noch schlimmer würde«. Jetzt aber war er ohne jede Absicht hierhergekommen. Da war ein großes Haus, ganz voll von allerlei Speisewirtschaften und Kneipen; aus diesen kamen alle Augenblicke Frauenzimmer herausgelaufen, so gekleidet, wie es auf der Straße nur bei Besuchen in der nächsten Nachbarschaft üblich ist: mit bloßem Kopf und ohne Umhang. An einigen Stellen bildeten sie auf dem Trottoir dichte Gruppen, namentlich an den Eingängen zum Souterrain; auf zwei Stufen stieg man dort zu verschiedenen, sehr vergnüglichen Etablissements hinunter. In einem derselben wurde gerade ein Heidenlärm vollführt, der über die ganze Straße herübertönte: es wurde auf einer Gitarre geklimpert, Lieder wurden gesungen, es ging sehr lustig her. Ein großer Haufe von Frauenzimmern drängte sich vor dem Eingange; einige saßen auf den Stufen, andre auf dem Trottoir, wieder andre standen und unterhielten sich. Daneben auf dem Straßendamm taumelte laut schimpfend ein betrunkener Soldat mit einer Zigarette umher; er wollte anscheinend irgendwo hineingehen, hatte aber wohl vergessen, wo. Zwei zerlumpte Kerle schimpften aufeinander ein, und ein sinnlos Betrunkener lag mitten auf der Straße. Raskolnikow blieb bei dem großen Weiberhaufen stehen. Diese Frauenzimmer sprachen mit heiseren Stimmen; sie trugen sämtlich Kattunkleider und ziegenlederne Schuhe und waren barhaupt. Einige waren über vierzig Jahre alt; aber es gab darunter auch solche, die nur siebzehn alt sein mochten. Fast alle hatten blaue Flecke von Schlägen im Gesicht.
Ihn interessierte der Gesang und der ganze Spektakel da unten … Man konnte durch das Lachen und Kreischen hindurch hören, wie jemand nach dem Klange der Gitarre und dem wilden Gesange einer hohen Fistelstimme einen verwegenen Tanz ausführte und im Takt mit den Stiefelabsätzen aufstampfte. Aufmerksam, finster und nachdenklich hörte er zu, indem er am Eingange sich vorbeugte und neugierig vom Trottoir in den Flur hineinschaute.
»Lieber Schutzmann, hau mich nicht,
Schuldlos bin ich armer Wicht«,
ertönte die hohe Stimme des Sängers. Raskolnikow gab sich viel Mühe, den Text des Liedes zu verstehen, als ob das für ihn von der größten Wichtigkeit wäre.
›Ob ich nicht auch hineingehe?‹ überlegte er. ›Wie die da lachen in ihrer Betrunkenheit! Wie wär’s, wenn ich mich auch betränke?«
»Wollen Sie nicht mit hereinkommen, lieber Herr?« sagte eines der Frauenzimmer mit ziemlich wohlklingender und noch nicht besonders heiserer Stimme.
Sie war jung und keineswegs abstoßend – die einzige aus der ganzen Gruppe.
»Sieh mal, was du für ein hübsches Mädel bist!« antwortete er, indem er sich aufrichtete und sie ansah.
Sie lächelte; das Kompliment gefiel ihr sehr.
»Sie sind ja selbst auch ein sehr hübscher Herr!« erwiderte sie.
»Aber was sind Sie mager!« bemerkte eine andre mit einer wahren Baßstimme. »Sie sind wohl eben aus dem Krankenhause entlassen?«
»Ihr seid wohl lauter Generalstöchter, aber alle habt ihr Stupsnasen!« unterbrach das Gespräch ein hinzutretender Bauer mit einem verschmitzten Lächeln auf dem breiten Gesichte; er war angeheitert; sein langer Rock stand weit offen. »Hier geht es lustig zu!«
»Geh doch hinein, da du einmal hergekommen bist!«
»Ich will auch hineingehen! Das ist ein Zauber!«
Er stolperte hinunter.
Raskolnikow ging weiter.
»Hören Sie, mein Herr!« rief ihm das Mädchen nach.
»Was?«
Sie wurde verlegen.
»Es wird mir immer ein Vergnügen sein, lieber Herr, Ihnen Gesellschaft zu leisten; aber jetzt, wo Sie mir gegenüberstehen, bringe ich es nicht übers Herz. – Schenken Sie mir doch sechs Kopeken, hübscher Kavalier, zu einem Schlückchen!«
Raskolnikow zog aus der Tasche, soviel er gerade in die Hand bekam: es waren fünfzehn Kopeken.
»Ach, was für ein guter Herr!«
»Wie heißt du denn?«
»Fragen Sie nur nach Duklida.«
»Nein, das ist doch unerhört!« bemerkte eine aus der Gruppe und schüttelte über Duklidas Benehmen den Kopf. »Ich verstehe gar nicht, wie man nur so betteln kann! Da würde ich mich ja in Grund und Boden schämen…« Neugierig blickte Raskolnikow die Redende an; es war ein pockennarbiges Mädchen, ganz voll blauer Prügelflecke, mit geschwollener Oberlippe. Sie sprach die tadelnden Worte ruhig und ernst.
›Wo habe ich‹, dachte Raskolnikow im Weitergehen, ›wo habe ich doch gelesen, wie ein zum Tode Verurteilter eine Stunde vor seinem Tode spricht oder denkt? Daß, wenn ihm die Möglichkeit gewährt würde, irgendwo hoch oben auf einem Felsen zu leben, auf einer so schmalen Platte, daß gerade nur die beiden Füße Raum zum Stehen fänden, und ringsumher wären Abgründe, Ozean, ewige Finsternis, ewige Einsamkeit und ewiger Sturm, und wenn er so, auf dem schmalen Platze stehend, sein ganzes Leben, tausend Jahre, eine Ewigkeit zubringen könnte: daß es ihm dann besser scheinen würde; so zu leben, als gleich zu sterben! Nur leben, leben, leben! Wie, ist gleichgültig; nur leben! … Und das ist wahr! 0 Gott, wie wahr! Der Mensch ist ein Schuft!… Und ein Schuft ist, wer ihn deswegen Schuft nennt!‹ fügte er einen Augenblick darauf hinzu.
Er gelangte in eine andere Straße. ›Ah! Da ist ja der Kristallpalast! Von dem hat Rasumichin vorhin gesprochen. Aber was wollte ich eigentlich da? Ja, ich wollte lesen! … Sossimow sagte, er habe in den Zeitungen gelesen …‹
»Habt ihr hier Zeitungen?« fragte er beim Eintritt in ein sehr geräumiges und recht sauberes Restaurant, das aus mehreren, jetzt ziemlich leeren Zimmern bestand. Zwei oder drei Gäste tranken Tee, und in einem entfernteren