Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский


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her, ohne ein Wort zu reden.

      »Sie haben sich nach mir bei dem Hausknecht erkundigt?« sagte Raskolnikow endlich, aber merkwürdig leise.

      Der Kleinbürger gab ihm keine Antwort und blickte ihn nicht einmal an. Beide schwiegen wieder.

      »Was wollen Sie denn von mir? … Erst kommen Sie und fragen nach mir, … und nun schweigen Sie … Was soll denn das bedeuten?« Die Stimme gehorchte ihm nicht recht, und die Worte wollten gar nicht klar und deutlich klingen.

      Diesmal hob der Kleinbürger den Kopf und sah Raskolnikow mit haßerfülltem, finsterem Blicke an.

      »Mörder!« sagte er auf einmal leise, aber klar vernehmlich.

      Noch immer ging Raskolnikow neben ihm. Die Beine wurden ihm auf einmal entsetzlich schwach, ein Frostgefühl lief ihm über den Rücken, und das Herz schien einen Augenblick lang auszusetzen; dann begann es plötzlich so heftig zu pochen, als hätte es sich in seiner Brust losgerissen. So gingen sie etwa hundert Schritte, wieder völlig stumm, einer neben dem andern.

      Der Kleinbürger sah ihn nicht an.

      »Aber wie können Sie … wie können Sie so etwas sagen? Wer ist ein Mörder?« murmelte Raskolnikow kaum hörbar.

      »Du bist ein Mörder!« erwiderte jener noch deutlicher und nachdrücklicher, mit dem Lächeln eines triumphierenden Feindes, und blickte wieder unverwandt in Raskolnikows bleiches Gesicht und in seine erstorbenen Augen.

      Beide waren nun zu einer Straßenkreuzung gelangt. Der Kleinbürger bog in die links abzweigende Straße ein und ging weiter, ohne sich umzublicken. Raskolnikow blieb auf dem Flecke stehen und sah ihm lange nach. Er sah, wie jener, nachdem er schon etwa fünfzig Schritt weiter gegangen war, sich umdrehte und ihn, der immer noch regungslos an derselben Stelle stand, anblickte. Seine Gesichtszüge konnte Raskolnikow nicht mehr deutlich unterscheiden; aber es schien ihm, als stehe auf seinem Gesichte auch diesmal jenes Lächeln eines kalten Hasses und höhnischen Triumphes.

      Mit langsamen, matten Schritten, schlotternden Knien und einem heftigen Frostgefühl kehrte Raskolnikow nach seinem Hause zurück und stieg zu seinem Kämmerchen hinauf. Er nahm die Mütze ab, legte sie auf den Tisch und blieb etwa zehn Minuten lang regungslos daneben stehen. Dann legte er sich ganz erschöpft auf das Sofa und streckte sich mit leisem, schmerzlichem Stöhnen auf ihm aus; seine Augen waren geschlossen. So lag er wohl eine halbe Stunde.

      Er dachte an nichts. Das heißt: etwas, was mit Gedanken oder vielmehr mit Bruchstücken von Gedanken Ähnlichkeit hatte, war in seinem Kopfe vorhanden, Vorstellungen ohne Ordnung und Zusammenhang; da waren Gesichter von Leuten, die er gesehen hatte, als er noch Kind war, oder mit denen er irgendwo nur ein einziges Mal zusammengetroffen war und an die er unter andern Umständen nie mehr gedacht haben würde; der Glockenturm der W…-schen Kirche; das Billard in einem Restaurant und ein Offizier am Billard, der Zigarrengeruch in einem Tabaksladen im Souterrain, eine Kneipe, eine Hintertreppe, ganz dunkel, ganz mit Spülicht begossen und mit Eierschalen bestreut, und irgendwoher drang das sonntägliche Geläut der Kirchenglocken an sein Ohr … Die Gegenstände wechselten einander ab und drehten sich wie im Wirbel umher. Manche Vorstellungen gefielen ihm sogar, und er hätte sie gern festgehalten; aber sie erloschen wieder. Meistens empfand er einen beklemmenden Druck im Innern, der aber nicht allzu stark war; zeitweilig war ihm sogar ganz wohl zumute … Ein leises Frösteln wollte nicht vorübergehen, und auch dies war eine beinahe angenehme Empfindung.

      Er hörte Rasumichins eilige Schritte und seine Stimme; aber er schloß die Augen und stellte sich schlafend. Rasumichin öffnete die Tür und blieb eine Weile überlegend auf der Schwelle stehen. Dann trat er leise ins Zimmer und näherte sich vorsichtig dem Sofa. Raskolnikow hörte Nastasjas flüsternde Stimme:

      »Weck ihn nicht auf; laß ihn sich ausschlafen; essen kann er auch nachher noch.«

      »Du hast ganz recht«, antwortete Rasumichin.

      Beide gingen vorsichtig hinaus und machten die Tür zu. Es verging noch eine halbe Stunde. Raskolnikow öffnete die Augen, drehte sich wieder auf den Rücken und legte die Hände unter den Kopf …

      ›Wer war das? Wer ist dieser Mensch, der auf einmal wie aus der Erde gewachsen dastand? Wo ist er gewesen, und was hat er gesehen? Er hat alles gesehen, das ist zweifellos. Wo hat er damals gestanden, und von wo aus hat er es gesehen? Warum erscheint er erst jetzt, als ob er aus dem Boden gewachsen sei? Und wie hat er es sehen können – war das denn überhaupt möglich? … Hm …‹, fuhr Raskolnikow fort, es überlief ihn kalt, und er fuhr zusammen, ›aber das Etui, das Nikolai hinter der Tür fand: an diese Möglichkeit hatte ich doch auch nicht gedacht. Indizien? Das winzigste Pünktchen übersieht man – und das Indizium wird pyramidengroß. Eine Fliege ist umhergeflogen und hat es gesehen! Ist es etwa auf die Art zu erklären?‹

      Und er wurde sich mit einer Art von Ekel bewußt, wie schwach, körperlich schwach, er geworden war.

      ›Das mußte ich doch vorher wissen‹, dachte er mit bitterem Lächeln. »Und wie habe ich nur, wenn ich mich kannte und ahnte, in welcher Verfassung ich nach der Tat sein würde, es wagen können, ein Beil zu nehmen und mich mit Blut zu besudeln! Es war meine Pflicht, das im voraus zu wissen … Ach, und ich habe es ja auch im voraus gewußt!« flüsterte er in Verzweiflung.

      Zuweilen blieb er hartnäckig an einem Gedanken haften.

      ›Nein, jene Menschen waren aus anderm Stoff geschaffen als ich. Ein wahrer Herrscher, dem alles erlaubt ist, zerstört Toulon, richtet in Paris ein Blutbad an, vergißt eine Armee in Ägypten, opfert eine halbe Million Menschen in dem Feldzuge gegen Rußland und setzt sich in Wilna durch ein Wortspiel darüber hinweg; und ein solcher Mann wird noch nach seinem Tode wie ein Abgott verehrt; man sieht also auch alles, was er getan hat, für erlaubt an. Nein, solche Menschen sind offenbar nicht von Fleisch und Blut, sondern von Erz!‹

      Ein plötzlicher Nebengedanke brachte ihn fast zum Lachen.

      ›Napoleon, die Pyramiden, Waterloo – und eine verhutzelte, häßliche alte Registratorswitwe, eine Wucherin mit einer roten Truhe unter dem Bette; na, wie soll jemand dies alles verdauen können, zum Beispiel Porfirij Petrowitsch! … Wie sollten sie es auch verdauen! … Ihr ästhetisches Gefühl sträubt sich ja dagegen. »Wie wird denn ein Napoleon«, würden sie sagen, »unter das Bett eines alten Weibes kriechen!« Ach, Unsinn!‹

      Mitunter fühlte er, daß er wie im Fieber phantasiere; er geriet in einen krankhaft erregten Zustand.

      ›Die Alte, die ist dabei ganz gleichgültig!‹ dachte er in seinem fieberheißen, oft unterbrochenen Gedankengange. ›Die Tötung der Alten war vielleicht ein Fehler; aber darum handelt es sich jetzt nicht! Die Tötung der Alten war nur eine krankhafte Verirrung von mir, … ich wollte so schnell wie möglich über die Hindernisse hinwegschreiten. … Ich habe nicht einen Menschen getötet; ein falsches Prinzip habe ich getötet! Das falsche Prinzip habe ich zwar getötet; aber über die Hindernisse bin ich doch nicht hinweggeschritten; ich bin auf dieser Seite geblieben … Nur zu töten habe ich verstanden! Und auch das habe ich nicht verstanden, wie sich jetzt herausstellt … Das falsche Prinzip hätte ich getötet? Warum hat eigentlich vorhin der dumme Rasumichin so auf die Sozialisten geschimpft? Das ist ja ein fleißiges betriebsames Volk; sie beschäftigen sich mit dem »allgemeinen Glücke«. Nein, einmal lebe ich nur und nie bekomme ich ein zweites Leben wieder; auf das »allgemeine Glück« zu warten, habe ich keine Lust. Ich will auch für mich selbst leben; sonst ist es schon das beste, gar nicht zu leben. Wie stimmt aber dazu das Verschenken des Geldes? Ich hatte einfach keine Lust, an einer hungernden Mutter vorüberzugehen und meinen Rubel in der Tasche festzuhalten, in Erwartung des »allgemeinen Glückes«. »Wir tragen«, so sagen diese Menschen, »Bausteine zu dem Gebäude des allgemeinen Glückes zusammen und empfinden davon eine innere Befriedigung.« Haha! Warum seid ihr denn an mir vorübergegangen? Ich lebe ja doch nur einmal und will doch auch … Ach was! Vom ästhetischen Standpunkte aus bin ich eine Laus und mehr nicht‹, fügte er auf einmal hinzu und lachte dabei wie ein Irrsinniger. ›Ja, ich bin wirklich eine Laus‹, fuhr er fort, indem er sich in grimmiger Selbstverhöhnung an diesen Gedanken anklammerte, in ihm herumwühlte, mit ihm spielte und sich an ihm vergnügte, ›und zwar erstens schon allein deshalb, weil ich jetzt darüber philosophiere, daß ich


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