Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
… Aber eigentlich tu ich’s doch …«
»Erscheinen Ihnen denn Geister?«
Swidrigailow sah ihn mit sonderbarem Blicke an.
»Marfa Petrowna besucht mich«, erwiderte er und verzog den Mund zu einem eigentümlichen Lächeln.
»Wie meinen Sie das mit dem Besuchen?«
»Nun, sie ist schon dreimal zu mir gekommen. Das erstemal sah ich sie am Begräbnistage selbst, eine Stunde nach meiner Rückkehr vom Friedhofe. Das war am Tage vor meiner Abreise hierher. Das zweitemal vorgestern, unterwegs, in der Morgendämmerung, auf der Station Malaja Wischera; und das drittemal vor zwei Stunden, in der Wohnung, wo ich logiere, im Zimmer; ich war allein darin.«
»Waren Sie denn wach?«
»Völlig wach. Alle drei Male war ich wach. Sie kommt, spricht ein kleines Weilchen mit mir und geht dann durch die Tür hinaus; immer durch die Tür. Es kommt mir sogar vor, als ob ich es hörte.«
»Wieso ich bloß von vornherein gleich auf den Gedanken gekommen bin, daß mit Ihnen sicher etwas in dieser Art los sein müsse!« sagte Raskolnikow plötzlich und wunderte sich in demselben Augenblicke darüber, daß er es gesagt hatte. Er war in heftiger Aufregung.
»Nun sehen Sie mal an! Also Sie haben das gedacht?« fragte Swidrigailow erstaunt. »Ist es möglich? Na, habe ich nicht gleich gesagt, daß eine gewisse seelische Verwandtschaft zwischen uns besteht?«
»Das haben Sie niemals gesagt!« entgegnete Raskolnikow in scharfem, zornigem Tone.
»Habe ich es nicht gesagt?«
»Nein!«
»Es war mir doch so, als hätte ich es gesagt. Als ich vorhin hereinkam und sah, daß Sie mit geschlossenen Augen dalagen und sich schlafend stellten, da sagte ich mir: Das ist der Richtige!«
»Wieso: der Richtige? Inwiefern?« rief Raskolnikow.
»Inwiefern? Ja, inwiefern, das weiß ich wahrhaftig nicht …«, murmelte Swidrigailow offenherzig und anscheinend in wirklicher Verlegenheit.
Eine Weile schwiegen sie; beide blickten einander scharf an.
»Das ist ja alles dummes Zeug!« rief Raskolnikow ärgerlich. »Was sagt sie denn zu Ihnen, wenn sie zu Ihnen kommt?«
»Was sie sagt? Denken Sie sich nur: sie spricht von ganz unbedeutenden Lappalien, und so wunderlich ist der Mensch: gerade das ärgert mich ordentlich. Das erstemal kam sie herein (ich war müde, wissen Sie: der Leichengottesdienst und ›Ruh in Frieden‹ und die Litanei und der Imbiß; endlich war ich in meinem Zimmer allein, steckte mir eine Zigarre an und überließ mich meinen Gedanken), da kam sie also zur Tür herein und sagte: ›Arkadij Iwanowitsch, in all der Unruhe haben Sie heute vergessen, im Eßzimmer die Uhr aufzuziehen.‹ Nämlich diese Uhr hatte ich wirklich die ganzen sieben Jahre hindurch jede Woche selbst aufgezogen, und wenn ich es einmal vergaß, dann hatte sie mich immer daran erinnert. Am andern Tage war ich schon auf der Fahrt hierher. Ich ging im Morgengrauen auf einer Station in die Bahnhofsrestauration – ich hatte in der Nacht wenig geschlafen, war wie zerschlagen, und die Augen fielen mir immer noch zu – und ließ mir Kaffee geben; auf einmal sehe ich, wie Marfa Petrowna mit einem Spiel Karten in der Hand sich neben mich setzt: ›Soll ich Ihnen für die Reise Karten legen, Arkadij Iwanowitsch?‹ fragte sie mich. Nämlich das Kartenlegen verstand sie meisterhaft. Na, ich kann es mir noch heute nicht verzeihen, daß ich mir nicht von ihr damals Karten legen ließ. Ich lief ganz erschrocken hinaus, und da wurde auch schon zum Einsteigen geläutet. Heute sitze ich nach einem ganz jämmerlichen Mittagessen, das ich mir aus einer Garküche hatte holen lassen, mit schwerem Magen auf meinem Zimmer; ich sitze da und rauche, da kommt wieder Marfa Petrowna herein, sehr geputzt, in einem neuen grünen Seidenkleide mit sehr langer Schleppe. ›Guten Tag, Arkadij Iwanowitsch! Wie gefällt Ihnen mein Kleid? So gut kann es Anisjka nicht machen‹ (Anisjka ist eine Schneiderin bei uns auf dem Dorfe, eine frühere Leibeigene; sie hat das Schneidern in Moskau gelernt, ein hübsches Mädchen). Sie stand da und drehte sich vor mir hin und her. Ich besah das Kleid, sah ihr dann scharf ins Gesicht und sagte: ›Was fällt Ihnen denn ein, Marfa Petrowna, wegen einer so gleichgültigen Sache zu mir zu kommen und mich zu belästigen!‹ – ›Ach, mein Gott‹, antwortete sie, ›nicht einmal einen Augenblick stören darf man Sie!‹ Um sie zu necken, sagte ich zu ihr: ›Ich will mich wieder verheiraten, Marfa Petrowna.‹ – ›Das sieht Ihnen ähnlich, Arkadij Iwanowitsch‹, erwiderte sie. ›Große Ehre macht es Ihnen aber nicht, daß Sie jetzt, wo Sie kaum Ihre Frau begraben haben, wegreisen, um eine andere zu heiraten. Und wenn Sie noch eine gute Wahl getroffen hätten; so aber wird es weder Ihnen noch ihr zum Segen sein, und nur die lieben Nachbarn werden ihr Amüsement darüber haben.‹ Und damit ging sie hinaus, und es war mir gerade so, als ob sie mit der Schleppe rauschte. Das ist doch Unsinn; nicht wahr?«
»Das sind wohl lauter Lügen von Ihnen?« erwiderte Raskolnikow.
»Ich lüge nur selten«, antwortete Swidrigailow nachdenklich; die Grobheit der Frage schien er gar nicht zu bemerken.
»Und früher, vor dieser Zeit, haben Sie niemals Geister gesehen?«
»Hm, doch, ein einziges Mal in meinem Leben, vor sechs Jahren … Ich hatte einen Diener namens Filipp; kurz nach seiner Beerdigung rief ich einmal in Gedanken: ›Filipp, die Pfeife!‹ Da kam er herein und ging gerade auf das Regal zu, wo meine Pfeifen standen. Ich saß da und dachte bei mir: ›Jetzt will er sich gewiß an mir rächen‹, denn unmittelbar vor seinem Tode hatten wir einen heftigen Streit miteinander gehabt. ›Wie kannst du dich unterstehen‹, rief ich ihm zu, ›mit einem Loch am Ellbogen zu mir hereinzukommen! Mach, daß du hinauskommst, du Taugenichts!‹ Er wandte sich um, ging hinaus und ist nicht mehr wiedergekommen. Ich habe Marfa Petrowna damals nichts davon erzählt. Ich wollte schon eine Seelenmesse für ihn halten lassen, genierte mich denn aber doch ein bißchen.«
»Gehen Sie zu einem Arzte.«
»Daß ich nicht gesund bin, weiß ich, auch ohne daß Sie es mir sagen; wiewohl ich wirklich nicht weiß, was mir eigentlich fehlt; meiner Ansicht nach bin ich gewiß fünfmal so gesund wie Sie. Aber ich habe Sie nicht danach gefragt, ob Sie glauben, daß einem Geister erscheinen. Ich habe Sie gefragt: Glauben Sie, daß es Geister gibt?«
»Nein, das glaube ich entschieden nicht!« rief Raskolnikow mit einer Art von Ingrimm.
»Wie sagt man doch gewöhnlich?« murmelte Swidrigailow, wie wenn er für sich spräche; er blickte zur Seite und hielt den Kopf ein wenig geneigt. »Man sagt: ›Du bist krank; folglich ist das, was dir erscheint, lediglich ein unwirkliches Wahngebilde.‹ Darin liegt aber doch keine strenge Logik. Ich gebe zu, daß Geister nur Kranken erscheinen; aber daraus folgt doch nur, daß die Geister eben nur Kranken erscheinen können, aber nicht, daß es überhaupt keine gibt.«
»Es gibt bestimmt keine!« entgegnete Raskolnikow hartnäckig in gereiztem Tone.
»Nein? Glauben Sie das?« fuhr Swidrigailow langsam fort und blickte ihn dabei an. »Na, aber was meinen Sie dazu, wenn man sich die Sache so zurechtlegt (helfen Sie mir nur dabei ein bißchen): die Geister, das sind sozusagen Teilchen, Fragmente andrer Welten, der Anfang andrer Welten. Ein gesunder Mensch hat selbstverständlich keine Veranlassung, sie zu sehen; denn der gesunde Mensch ist ein durchaus irdischer Mensch und soll daher lediglich ein irdisches Dasein führen; das ist ganz in der Ordnung. Na, sowie er nun aber erkrankt und die normale irdische Ordnung des Organismus gestört wird, dann tritt ihm sofort die Möglichkeit der Existenz einer andern Welt entgegen, und je kränker er wird, um so mehr nehmen seine Beziehungen zu der andern Welt zu, so daß, wenn er nun wirklich stirbt, er einfach selbst in die andere Welt hinübergeht. Ich habe mir darüber schon seit langer Zeit meine Gedanken gemacht. Wenn Sie an ein zukünftiges Leben glauben, dann können Sie auch dieser Anschauung beipflichten.«
»Ich glaube nicht an ein zukünftiges Leben«, erwiderte Raskolnikow.
Swidrigailow saß in Gedanken versunken da.
»Aber wie wäre das, wenn es in der andern Welt nur Spinnen oder so etwas Ähnliches gäbe?« sagte er dann plötzlich.
›Der Kerl ist irrsinnig‹, dachte Raskolnikow.
»Die