Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

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und Betrüger bin und meinen Wohltäter bestohlen habe! … Um ihretwillen bin ich beschimpft und entehrt! Da, da, sieh nur, sieh nur! …«

      Und er begann aus der Seitentasche seines Rockes allerlei Papiere, eines nach dem anderen, herauszuholen und auf den Tisch zu werfen und suchte unter ihnen ungeduldig nach demjenigen, das er mir zeigen wollte; aber das gewünschte Papier schien sich absichtlich nicht finden lassen zu wollen. In seiner Ungeduld schleuderte er aus der Tasche alles, was er darin mit der Hand faßte, heraus, und plötzlich fiel etwas Schweres mit hellem Klang auf den Tisch … Anna Andrejewna schrie auf. Es war das verlorene Medaillon.

      Ich wollte kaum meinen Augen trauen. Das Blut stieg dem alten Mann in den Kopf und übergoß seine Wangen mit dunkler Röte; er fuhr zusammen. Anna Andrejewna stand mit gefalteten Händen da und sah ihn flehend an. Ihr Gesicht erstrahlte von einer hellen, freudigen Hoffnung. Diese Röte im Gesicht des alten Mannes, diese seine Verlegenheit uns gegenüber … ja, sie hatte sich nicht geirrt; sie begriff jetzt, wie ihr Medaillon verschwunden war!

      Sie begriff, daß er es gefunden, sich über seinen Fund gefreut und, vielleicht zitternd vor Wonne, ihn bei sich vor allen Augen verborgen hatte; daß er, sobald er allein war und von niemand gesehen wurde, mit grenzenloser Liebe das Gesichtchen seines geliebten Kindes betrachtet hatte, sich gar nicht daran hatte satt sehen können; daß er vielleicht ebenso wie sie, die arme Mutter, sich allein eingeschlossen hatte, um mit seiner teuren Natascha zu reden, sich ihre Antworten auszudenken und dann wieder selbst darauf zu antworten; daß er nachts in qualvoller Sehnsucht, sein Schluchzen in der Brust unterdrückend, das liebe Bild gestreichelt und geküßt und, statt Verwünschungen auszustoßen, die Verzeihung und den Segen des Höchsten auf die herabgerufen hatte, von der er, wenn andere zugegen gewesen waren, gesagt hatte, er wolle sie nie wiedersehen, er verfluche sie. »Also liebst du sie doch noch, liebster Mann!« rief Anna Andrejewna, die jetzt dem strengen Vater gegenüber, der einen Augenblick vorher ihre Natascha verflucht hatte, ihre Gefühle nicht mehr zurückhalten konnte.

      Aber kaum hatte er ihren Ausruf gehört, als eine sinnlose Wut in seinen Augen aufflammte. Er ergriff das Medaillon, warf es heftig auf den Fußboden und begann wie ein Rasender mit dem Fuß daraufzustampfen. »Sei für alle Ewigkeit von mir verflucht!« rief er mit heiserer, fast versagender Stimme. »Für alle Ewigkeit, für alle Ewigkeit!«

      »O Gott!« rief die alte Frau; »sie, sie, meine Natascha, ihr Gesichtchen tritt er mit Füßen! Mit Füßen! Du Tyrann! Du gefühlloser, hartherziger Barbar!« Als er das Wehgeschrei seiner Frau hörte, hielt der sinnlose alte Mann, erschrocken über das, was er getan hatte, inne. Auf einmal hob er das Medaillon vom Fußboden auf und wollte aus dem Zimmer stürzen; aber als er zwei Schritte gemacht hatte, fiel er auf die Knie nieder, stützte sich mit den Armen auf das vor ihm stehende Sofa und ließ den Kopf kraftlos sinken.

      Er schluchzte wie ein Kind, wie ein Weib. Das Schluchzen beengte ihm die Brust, als wollte es sie zersprengen. Der grimmige Alte war in einem Augenblick schwächer als ein Kind geworden. Oh, jetzt konnte er nicht mehr fluchen; er schämte sich vor keinem von uns mehr, und in einem krampfhaften Ausbruch seiner Liebe bedeckte er nun vor unseren Augen mit zahllosen Küssen dasselbe Bild, das er einen Augenblick vorher mit Füßen getreten hatte. Es schien, als ob seine ganze Zärtlichkeit und Liebe zu seiner Tochter, nachdem er dieses Gefühl so lange in seinem Innern zurückgehalten hatte, nun auf einmal mit unwiderstehlicher Gewalt nach außen hervorbrechen wollte und durch die Gewaltsamkeit dieses Ausbruchs sein ganzes Wesen zerstörte. »Verzeih ihr, verzeih ihr!« rief Anna Andrejewna schluchzend, beugte sich über ihn und umarmte ihn. »Hole sie in das Elternhaus zurück, liebster Mann, und Gott selbst wird dir beim Jüngsten Gericht deine Friedfertigkeit und Barmherzigkeit als Verdienst anrechnen!« »Nein, nein, um keinen Preis, niemals!« rief er mit heiserer, erstickter Stimme. »Niemals! Niemals!«

      Vierzehntes Kapitel

      Als ich zu Natascha kam, war es schon spät, fast zehn Uhr. Sie wohnte damals an der Fontanka, bei der Semjonowbrücke, in einer dem Kaufmann Kolotuschkin gehörenden schmutzigen Mietskaserne, im vierten Stock. In der ersten Zeit nach dem Verlassen des Elternhauses hatte sie mit Aljoscha eine kleine, aber hübsche, behagliche Wohnung im dritten Stockwerk auf dem Litejniprospekt innegehabt. Aber die Hilfsquellen des jungen Mannes waren bald versiegt. Musiklehrer war er nicht geworden; aber er hatte angefangen zu borgen und war in Schulden geraten, die für seine Verhältnisse gewaltig groß waren. Das Geld verwendete er zur Ausschmückung der Wohnung und zu Geschenken für Natascha, die gegen seine Verschwendung Einspruch erhob, ihn schalt und manchmal sogar weinte. Der empfindsame, zartfühlende Aljoscha dachte manchmal eine ganze Woche lang mit Genuß darüber nach, was er ihr wohl schenken könne und wie sie das Geschenk aufnehmen werde, malte es sich als einen richtigen Festtag aus, teilte mir im voraus voller Entzücken seine Erwartungen und Hoffnungen mit und verfiel dann bei ihren Vorhaltungen und Tränen in eine solche Traurigkeit, daß er einem leid tun konnte; in späterer Zeit kam es aus Anlaß solcher Geschenke zwischen ihnen zu ernstlichen Vorwürfen, zu Verstimmung und Streit. Außerdem vergeudete Aljoscha viel Geld hinter Nataschas Rücken; er führte mit seinen Kameraden ein lustiges Leben, war ihr untreu, verkehrte mit leichtfertigen Damen, liebte aber dabei Natascha dennoch sehr. Er liebte sie mit seelischer Pein; oft kam er verstört und traurig zu mir und sagte, er sei nicht Nataschas kleinen Finger wert; er sei gemein und schlecht, unfähig, sie zu verstehen, und ihrer Liebe unwürdig. Er hatte zum Teil recht: es bestand zwischen ihnen eine vollständige Ungleichheit; er fühlte sich ihr gegenüber wie ein Kind, und auch sie betrachtete ihn immer als ein Kind. Mit Tränen beichtete er mir seinen Verkehr mit einer Kokotte und bat mich zugleich, zu Natascha nichts darüber zu sagen; wenn er dann aber nach all diesen offenherzigen Mitteilungen schüchtern und zitternd mit mir zu ihr kam (ich mußte unbedingt dabeisein; er erklärte, nach seinem Vergehen fürchte er sich, sie anzusehen, und ich sei der einzige, der ihm eine Stütze sein könne), dann wußte Natascha schon beim ersten Blick, den sie auf ihn richtete, wie die Sache stand. Sie war sehr eifersüchtig, und ich begreife nicht, wie sie ihm trotzdem immer alle seine Leichtfertigkeiten verzeihen konnte. Der gewöhnliche Gang war dieser: Aljoscha trat mit mir zu ihr ins Zimmer, redete sie zaghaft an und blickte ihr mit schüchterner Zärtlichkeit ins Gesicht. Sie erriet sogleich, daß er etwas begangen hatte; aber sie ließ sich nichts merken, fing nie zuerst davon zu reden an, fragte nach nichts, sondern verdoppelte vielmehr sogleich ihre Freundlichkeit gegen ihn, wurde noch zärtlicher und heiterer – und das war von ihrer Seite nicht etwa ein bloßes Spiel oder durchdachte Schlauheit; nein, für dieses wundervolle Geschöpf war es die höchste Wonne, zu verzeihen und Nachsicht zu üben; wenn sie ihrem Aljoscha verzieh, so war es, als finde sie schon in der Handlung des Verzeihens an sich einen besonderen, seinen Genuß. Allerdings handelte es sich damals nur erst um Damen der Halbwelt. Sobald Aljoscha sie so milde und zur Verzeihung geneigt sah, konnte er sich nicht mehr halten und beichtete sofort alles von selbst, ganz ohne gefragt zu werden, um sein Herz zu erleichtern, und damit, wie er sich ausdrückte, alles wie vorher sei. Nachdem er Verzeihung erlangt hatte, geriet er in Entzücken, weinte manchmal sogar vor Freude und Rührung, küßte und umarmte sie. Dann wurde er sofort ganz heiter und begann mit kindlicher Offenherzigkeit alle Einzelheiten seiner Abenteuer mit dem betreffenden Dämchen zu erzählen, lachte fortwährend, lobte und pries dankbar Natascha, und der Abend verlief glücklich und vergnügt. Als ihm das Geld ausging, begann er, von seinen Sachen zu verkaufen. Auf Nataschas dringendes Verlangen wurde eine kleine, billige Wohnung gesucht und der Umzug nach der Fontanka bewerkstelligt. Der Verkauf von Sachen wurde fortgesetzt; Natascha verkaufte sogar ihre Kleider und suchte sich Arbeit; als Aljoscha dies erfuhr, kannte seine Verzweiflung keine Grenzen; er verfluchte sich selbst, rief, daß er sich selbst verachte, trug aber trotzdem nichts zur Besserung der Lage bei. Gegenwärtig war es auch mit diesen letzten Hilfsmitteln zu Ende; es blieb nur die Arbeit übrig; aber die Entlohnung dafür war eine höchst geringe.

      Gleich von Anfang an, schon damals, als Aljoscha noch bei seinem Vater wohnte, hatten Vater und Sohn miteinander heftigen Streit gehabt. Die Absicht des Fürsten, seinen Sohn mit Katerina Fjodorowna Filimonowa, der Stieftochter der Gräfin, zu verheiraten, war damals erst ein bloßes Projekt; aber er verfolgte dieses Projekt hartnäckig, führte Aljoscha zu seiner künftigen Braut hin, redete ihm zu, er möchte sich Mühe geben, ihr zu gefallen, und suchte sowohl durch Strenge als auch durch Vernunftgründe auf ihn einzuwirken; aber die Sache scheiterte an dem Widerstand der Gräfin.


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