Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

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vielleicht auch Aljoscha mit ihr bekannt machen. Und dann könntest du mir alles von der Stieftochter erzählen.«

      »Natascha, liebe Freundin, davon ein andermal! Aber ich möchte fragen: glaubst du wirklich im Ernst, daß deine Kraft dazu ausreichen wird, die Trennung zu ertragen? Sieh dich nur in diesem Augenblick an: bist du wirklich ruhig?«

      »Sie … wird … ausreichen!« antwortete sie kaum hörbar. »Für ihn tue ich alles. Mein ganzes Leben gebe ich für ihn hin. Aber weißt du, Wanja, ich kann es nicht ertragen, daß er jetzt bei ihr ist, mich vergessen hat, neben ihr sitzt und plaudert und lacht, so wie er oft hier gesessen hat, du erinnerst dich. Er blickt ihr gerade in die Augen; so blickt er einen immer an, und es kommt ihm jetzt gar nicht in den Sinn, daß ich hier bin, mit dir zusammen …«

      Sie sprach nicht zu Ende und sah mich verzweiflungsvoll an.

      »Aber wie hast du denn noch vorhin, erst vorhin eben sagen können, Natascha …«

      »Wir wollen uns gleichzeitig, beide gleichzeitig voneinander trennen!« unterbrach sie mich mit funkelnden Augen. »Ich selbst werde ihn dafür segnen … Aber gar zu schmerzlich ist es, Wanja, wenn er es ist, der mit dem Vergessen den Anfang macht! Ach, Wanja, was ist das für eine Qual! Ich verstehe mich selbst nicht: die Vernunft rät mir das eine, aber ich tue das andre. Was soll noch aus mir werden!«

      »Hör auf, hör auf, Natascha! Beruhige dich! …«

      »Heute sind es schon fünf Tage, daß ich täglich und stündlich … Selbst im Traum, immer denke ich an ihn! Weißt du, Wanja, wir wollen hingehen, begleite mich!«

      »Hör auf, Natascha!«

      »Nein, laß uns hingehen! Ich habe nur auf dich gewartet, Wanja! Ich habe schon drei Tage lang darüber nachgedacht. Das war auch der Grund, weshalb ich an dich geschrieben habe … Du mußt mich begleiten; du darfst mir das nicht abschlagen … Ich habe auf dich gewartet … drei Tage lang … Es ist dort heute eine Abendgesellschaft … er ist dort … laß uns hingehen!«

      Sie befand sich in einer Art von Fieberzustand. Im Vorzimmer wurde Geräusch hörbar; Mawra schien mit jemandem zu streiten.

      »Warte, Natascha, wer ist da?« fragte ich. »Horch!«

      Sie horchte mit einem ungläubigen Lächeln und wurde auf einmal furchtbar blaß.

      »Mein Gott, wer ist da?« sagte sie kaum hörbar.

      Sie wollte mich zurückhalten; aber ich ging in das Vorzimmer hinaus zu Mawra. Richtig! Es war Aljoscha! Er fragte Mawra nach etwas, und diese wollte ihn zunächst nicht hereinlassen.

      »Wo kommen Sie denn jetzt auf einmal her?« sagte sie in befehlshaberischem Tone. »Wo haben Sie sich herumgetrieben? Na, gehen Sie nur wieder, gehen Sie! Mich werden Sie nicht bestechen! Machen Sie, daß Sie fortkommen; was können Sie denn zu Ihrer Verteidigung antworten!«

      »Ich fürchte mich vor niemand! Ich gehe hinein!« sagte Aljoscha, der indessen etwas verlegen war.

      »Ach, machen Sie, daß Sie fortkommen! Sie sind ein arger Windhund!«

      »Ich gehe hinein! Ah, Sie sind auch hier!« sagte er, als er mich erblickte. »Das ist ja schön, daß Sie hier sind! Nun also, da bin ich, sehen Sie; wie soll ich denn jetzt …«

      »Gehen Sie nur einfach hinein!« antwortete ich; »wovor fürchten Sie sich?«

      »Ich fürchte mich vor nichts, kann ich Ihnen versichern; denn ich habe mir, weiß Gott, nichts zuschulden kommen lassen. Sie glauben, daß es doch der Fall ist? Sie werden sehen, ich werde mich sofort rechtfertigen. Natascha, darf ich hereinkommen?« rief er mit gemachter Keckheit, indem er vor der geschlossenen Tür stehenblieb.

      Niemand antwortete.

      »Was hat das zu bedeuten?« fragte er beunruhigt.

      »Nichts Besonderes, sie war soeben noch da«, antwortete ich. »Vielleicht ist etwas …«

      Aljoscha öffnete behutsam die Tür und sah sich schüchtern im Zimmer um. Es war niemand da.

      Auf einmal erblickte er sie in einem Winkel zwischen einem Schrank und dem Fenster. Sie stand dort, als ob sie sich versteckt hätte, in einem Mittelzustand zwischen Tod und Leben. Wenn ich daran denke, kann ich mich noch heutigentags eines Lächelns nicht erwehren.

      »Natascha, was machst du da? Guten Abend, Natascha«, sagte er schüchtern, indem er sie einigermaßen erschrocken anblickte.

      »Nun, was denn? Nichts! …« antwortete sie in schrecklicher Verlegenheit, als ob sie selbst sich etwas hätte zuschulden kommen lassen. »Du … willst du Tee?«

      »Natascha, höre mich …« sagte Aljoscha, der vollkommen die Fassung verloren hatte. »Du bist vielleicht überzeugt, daß ich schuldig bin … Aber ich bin nicht schuldig; ich bin ganz und gar nicht schuldig! Siehst du, ich werde dir sogleich alles erzählen.«

      »Aber wozu denn das?« flüsterte Natascha. »Nein, nein, das ist nicht nötig … gib mir lieber die Hand, und die Sache ist erledigt … wie immer …«

      Sie trat aus dem Winkel heraus; ihre Wangen begannen sich zu röten. Sie schaute zu Boden, wie wenn sie sich fürchtete, Aljoscha anzusehen.

      »O mein Gott!« rief er entzückt; »wenn ich mich schuldig fühlte, so würde ich nach diesem Verhalten von ihrer Seite ja wohl nicht wagen, sie auch nur anzublicken! Sehen Sie, sehen Sie!« rief er, zu mir gewendet; »sie hält mich für schuldig; alles spricht gegen mich, alle Anzeichen sprechen gegen mich! Fünf Tage lang bin ich nicht gekommen! Gerüchte melden, ich sei bei der jungen Dame, mit der man mich verheiraten möchte – und was geschieht? Sie verzeiht mir ohne weiteres! Sie sagt: ›Gib mir die Hand, und die Sache ist erledigt!‹ Natascha, meine Teure, mein Engel! Ich bin nicht schuldig; das sollst du wissen! Ich bin nicht die Spur schuldig! Im Gegenteil! Im Gegenteil!«

      »Aber … aber du bist doch jetzt dort gewesen … Du warst doch jetzt eingeladen … Wie kommt es denn, daß du hier bist? Wie spät ist es?«

      »Halb elf! Ich bin auch wirklich dort gewesen. Aber ich sagte, ich sei krank, und fuhr weg, und dies ist das erste, allererste Mal in diesen fünf Tagen, daß ich frei bin, daß ich imstande war, mich von ihnen loszumachen und zu dir zu kommen, Natascha. Das heißt, ich hätte auch früher kommen können; aber ich habe es absichtlich nicht getan! Und warum? Das wirst du sogleich hören, ich werde es dir auseinandersetzen; aber, weiß Gott, ich habe mich dieses Mal dir gegenüber in keiner Hinsicht schuldig gemacht, in keiner Hinsicht! In keiner Hinsicht!«

      Natascha hob den Kopf in die Höhe und blickte ihn an. Aber der Blick, mit dem er den ihrigen beantwortete, strahlte so von Aufrichtigkeit, und sein Gesicht war so fröhlich, so ehrlich, so vergnügt, daß es schlechterdings unmöglich war, ihm zu mißtrauen. Ich glaubte, die beiden würden aufschreien und einander in die Arme sinken, wie das früher schon mehrmals bei ähnlichen Versöhnungen geschehen war. Aber Natascha ließ, wie überwältigt von ihrem Glück, den Kopf auf die Brust sinken und … begann auf einmal leise zu weinen. Da konnte sich Aljoscha nicht mehr beherrschen. Er warf sich ihr zu Füßen; er küßte ihre Hände, ihre Füße; er war wie von Sinnen. Ich schob ihr einen Lehnsessel hin. Sie setzte sich. Die Beine waren ihr schwach geworden.

      Zweiter Teil

      Erstes Kapitel

      Einen Augenblick darauf lachten wir alle wie die Unsinnigen.

      »So laßt mich doch erzählen, so laßt mich doch erzählen!« rief Aljoscha, dessen helle Stimme uns alle übertönte. »Ihr denkt, daß es dieselbe Geschichte ist wie früher … daß ich bloß mit gleichgültigen Nachrichten hergekommen bin … Aber ich sage euch, ich habe etwas höchst Interessantes. So seid doch endlich einmal still!«

      Er hatte die größte Lust zu erzählen. Man konnte ihm am Gesicht ansehen, daß er wichtige Neuigkeiten hatte. Aber durch die Art, wie er in dem naiven Stolz auf den Besitz solcher Neuigkeiten sich wichtig tat, war Natascha sofort zum Lachen gebracht worden. Und ich hatte mich unwillkürlich von ihr anstecken lassen. Und je zorniger er über uns wurde, um so mehr lachten wir. Aljoschas Ärger und seine darauffolgende kindliche Verzweiflung brachten uns schließlich


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