Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский


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lernen. (Auf dieses Wäschewaschen gründete sie, wie es schien, besondere Hoffnungen und hielt das aus irgendwelchem Grund für das stärkste Lockmittel zu ihrer Aufnahme.) Alexandra Semjonownas Meinung war, sie bis zur Aufklärung der Sache bei sich zu behalten und mir Nachricht zu geben. Aber Filipp Filippowitsch widersetzte sich dem entschieden und befahl, den Flüchtling sogleich wieder zu mir zu bringen. Unterwegs umarmte Alexandra Semjonowna sie und küßte sie, wovon Nelly noch heftiger zu weinen anfing. Bei diesem Anblick brach auch Alexandra Semjonowna in Tränen aus. So weinten sie beide auf dem ganzen Weg.

      »Aber warum in aller Welt, warum willst du denn nicht bei ihm wohnen bleiben? Hat er dir denn etwas zuleide getan, wie?« fragte Alexandra Semjonowna, in Tränen zerfließend.

      »Nein, er tut mir nichts zuleide.«

      »Nun, also warum denn?«

      »Einen Grund habe ich nicht; aber ich will nicht bei ihm wohnen bleiben … ich kann es nicht … ich bin immer so schlecht gegen ihn … und er ist so gut … aber bei Ihnen werde ich nicht schlecht sein; ich werde arbeiten«, sagte sie unter krampfhaftem Schluchzen.

      »Warum bist du denn gegen ihn so schlecht, Nelly?« »Einen Grund habe ich nicht …«

      »Weiter als dieses `einen Grund habe ich nicht’ konnte ich von ihr nichts herausbekommen«, schloß Alexandra Semjonowna ihren Bericht und wischte sich die Tränen ab. »Was ist sie für ein armes, unglückliches Wesen! Das ist wohl eine Art von Kinderkrankheit? Wie denken Sie darüber, Iwan Petrowitsch?«

      Wir gingen zu Nelly hinein; sie lag auf dem Bett, das Gesicht in den Kissen vergraben, und weinte. Ich kniete vor ihr nieder, ergriff ihre Hände und küßte sie. Sie entriß mir ihre Hände und begann noch heftiger zu schluchzen. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. In diesem Augenblick trat der alte Ichmenew ins Zimmer.

      »Guten Tag, Wanja, ich komme in einer besonderen Angelegenheit«, sagte er, während er uns alle musterte und mich mit Erstaunen auf den Knien liegen sah.

      Der alte Mann war die ganze letzte Zeit über krank gewesen. Er war blaß und mager, machte aber den Eindruck, als wolle er vor jemand den Tapferen spielen. Er hatte seine Krankheit vernachlässigt, auf Anna Andrejewnas Ermahnungen nicht gehört und sich nicht ins Bett gelegt, sondern seine Geschäftsgänge fortgesetzt.

      »Adieu einstweilen«, sagte Alexandra Semjonowna, indem sie den Alten aufmerksam ansah. »Filipp Filippowitsch hat mir befohlen, so bald wie möglich zurückzukommen. Es ist bei uns viel zu tun. Aber am Abend, so in der Dämmerzeit, werde ich wieder herkommen und ein paar Stündchen hier sitzen.«

      »Wer ist das?« flüsterte mir der Alte zu, der aber anscheinend mit anderen Gedanken beschäftigt war.

      Ich gab ihm Auskunft.

      »Hm! Ich bin in einer besonderen Angelegenheit hergekommen, Wanja …«

      Ich wußte, was das für eine Angelegenheit war, und hatte seinen Besuch schon erwartet. Er kam, um sich mit mir und Nelly zu besprechen und mich zu bitten, ich möchte Nelly zu ihnen ziehen lassen. Anna Andrejewna hatte endlich eingewilligt, die Waise in ihr Haus zu nehmen. Hierzu hatte sie sich infolge unserer geheimen Gespräche entschlossen: ich hatte Anna Andrejewna zu der Ansicht gebracht, daß der Anblick der Waise, deren Mutter ebenfalls von ihrem Vater verflucht worden war, vielleicht das Herz unseres Alten umstimmen werde. Ich hatte ihr meinen Plan so überzeugend entwickelt, daß sie jetzt selbst in ihren Mann drang, die Waise ins Haus zu nehmen. Der Alte machte sich bereitwillig ans Werk: er wollte erstens seiner Anna Andrejewna gefällig sein, und zweitens hatte er seine besonderen Absichten … Aber all das werde ich später ausführlicher darlegen.

      Ich sagte bereits, daß Nelly den alten Mann schon seit seinem ersten Besuch nicht leiden konnte. Später bemerkte ich, daß sich sogar eine Art von Haß auf ihrem Gesicht ausprägte, wenn Ichmenews Name in ihrer Gegenwart genannt wurde. Der Alte kam sofort, ohne Umschweife, zur Sache. Er trat ohne weiteres zu Nelly heran, die immer noch dalag und ihr Gesicht in die Kissen drückte, faßte sie an der Hand und fragte sie, ob sie zu ihm ziehen und wie eine Tochter bei ihm leben wolle.

      »Ich hatte eine Tochter, die ich mehr liebte als mich selbst«, schloß der Alte; »aber jetzt ist sie nicht mehr bei mir. Sie ist gestorben. Willst du ihren Platz in meinem Haus und … in meinem Herzen einnehmen?«

      Und in seinen von der Fieberhitze trockenen und entzündeten Augen glänzte eine Träne.

      »Nein, ich will nicht«, antwortete Nelly, ohne den Kopf in die Höhe zu heben.

      »Warum denn nicht, mein Kind? Du hast ja niemanden auf der Welt. Wanja kann dich nicht lebenslänglich bei sich behalten; bei mir aber wirst du wie im Elternhaus sein.«

      »Ich will nicht, weil Sie ein schlechter Mensch sind. Ja, ein schlechter Mensch, ein schlechter Mensch«, wiederholte sie, indem sie den Kopf aufhob und sich auf dem Bett, dem Alten gegenüber, aufrecht setzte. »Ich bin selbst schlecht, schlechter als alle; aber Sie sind noch schlechter als ich! …«

      Bei diesen Worten wurde Nelly ganz blaß; ihre Augen funkelten; sogar ihre zitternden Lippen erblaßten und verzogen sich unter der Einwirkung des starken Affekts. Der Alte sah sie erstaunt an.

      »Ja, noch schlechter als ich; denn Sie wollen Ihrer Tochter nicht verzeihen; Sie wollen sie ganz vergessen und nehmen ein anderes Kind zu sich; aber kann man denn etwa sein eigenes Kind vergessen? Werden Sie mich etwa lieben können? Sobald Sie mich ansehen, werden Sie sich ja erinnern, daß ich Ihnen eine Fremde bin und daß Sie eine eigene Tochter hatten, die Sie selbst vergessen haben, weil Sie ein grausamer Mensch sind. Ich will aber nicht bei grausamen Menschen leben; ich will es nicht, ich will es nicht! …«

      Nelly schluchzte und sah mit einem kurzen Blick nach mir hin.

      »Übermorgen ist Christi Auferstehungsfest; alle Menschen umarmen sich und küssen sich; alle versöhnen sich; alle Vergehen werden verziehen … Das weiß ich recht wohl … Nur Sie … nur Sie … oh, Sie grausamer Mensch! Gehen Sie weg!«

      Sie zerfloß in Tränen. Diese Rede hatte sie sich, wie es schien, schon lange vorher zurechtgelegt und auswendig gelernt, für den Fall, daß der alte Mann sie noch einmal auffordern sollte, zu ihm zu ziehen. Der Alte war überrascht; er war ganz blaß geworden. Eine tiefschmerzliche Empfindung prägte sich auf seinem Gesicht aus.

      »Und wozu, wozu, warum kümmern sich alle soviel um mich? Ich mag das nicht, ich mag das nicht!« rief Nelly auf einmal in einem Wutanfall. »Ich werde betteln gehen!«

      »Nelly, was ist dir? Nelly, mein liebes Kind!« rief ich unwillkürlich, goß aber durch meinen Ausruf nur Öl ins Feuer.

      »Ja, ich werde lieber auf den Straßen umhergehen und betteln; aber hier werde ich nicht bleiben!« schrie sie schluchzend. »Auch meine Mutter hat gebettelt, und als sie starb, hat sie selbst zu mir gesagt: `Sei arm und bettle lieber, als daß du …’ Zu betteln ist keine Schande; ich bitte ja nicht einen einzelnen, ich bitte alle, und alle sind nicht ein einzelner. Einen einzelnen zu bitten, das ist eine Schande; aber alle zu bitten, das ist keine Schande; das hat mir eine Bettlerin gesagt. Ich bin ja noch klein und kann mir mein Brot nicht verdienen. Ich werde alle bitten; ich will nicht, ich will nicht; ich bin schlecht; ich bin schlechter als alle; seht nur, wie schlecht ich bin!«

      Und Nelly ergriff auf einmal, für uns alle ganz unerwartet, eine auf dem Tisch stehende Tasse und warf sie auf den Fußboden.

      »Da, jetzt ist sie zerbrochen!« sagte sie dann und blickte mich mit einer Art von herausforderndem Triumph an. »Es sind überhaupt nur zwei Tassen da«, fuhr sie fort; »ich werde auch die andere zerschlagen … Woraus werden Sie dann Ihren Tee trinken?«

      Sie war wie eine Rasende und schien geradezu einen Genuß an dieser Raserei zu finden, wie wenn sie sich der Häßlichkeit und Schändlichkeit eines solchen Benehmens bewußt wäre, gleichzeitig aber sich selbst zu weiteren derartigen Tollheiten aufreizte.

      »Sie ist krank, Wanja; das ist’s!« sagte der Alte; »oder ich verstehe nicht mehr, was das für ein Kind ist. Leb wohl!«

      Er ergriff seinen Hut und drückte mir die Hand. Er war ganz niedergeschlagen; Nelly hatte ihn furchtbar gekränkt. Mein ganzes Gefühl empörte sich.

      »Und


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