Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский


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Abwesenheit. Wenn er eintrat, war er gewöhnlich traurig und blickte sie schüchtern und zärtlich an; aber Natascha kam ihm so zärtlich und freundlich entgegen, daß er sogleich alles vergaß und ganz heiter wurde. Auch mich begann er sehr häufig zu besuchen, fast täglich. Er litt innerlich wirklich große Pein; aber er konnte keinen Augenblick mit seinem Kummer allein sein und kam fortwährend zu mir gelaufen, um Trost zu suchen.

      Was konnte ich ihm sagen? Er warf mir Kälte, Gleichgültigkeit, sogar eine feindliche Gesinnung gegen ihn vor; er klagte, weinte, ging zu Katja, und dort wurde ihm ja denn auch Trost zuteil.

      An dem Tag, an dem Natascha mir erklärt hatte, sie wisse von Aljoschas bevorstehender Abreise (es war dies ungefähr eine Woche nach meinem Gespräch mit dem Fürsten), kam er ganz verzweifelt zu mir gelaufen, umarmte mich, sank an meine Brust und schluchzte wie ein Kind. Ich schwieg und wartete auf das, was er sagen werde.

      »Ich bin ein unwürdiger, gemeiner Mensch, Wanja«, begann er; »rette mich vor mir selbst! Ich weine nicht darüber, daß ich ein unwürdiger, gemeiner Mensch bin, sondern darüber, daß Natascha durch mich unglücklich werden wird. Denn ich werde sie ja dem Unglück überliefern … Wanja, mein Freund, sage du mir, entscheide du für mich: wen liebe ich mehr von den beiden, Katja oder Natascha?«

      »Das kann ich nicht entscheiden, Aljoscha«, antwortete ich; »das mußt du besser wissen als ich …«

      »Nein, Wanja, so ist es nicht; ich bin ja doch nicht so dumm, daß ich solche Fragen ohne Grund stellen sollte; aber das ist es eben, daß ich es selbst nicht weiß. Ich frage mich und kann mir keine Antwort geben. Du aber siehst die Sache als Unbeteiligter an und weißt vielleicht mehr als ich … Na, wenn du es nicht weißt, dann sage wenigstens, wie es dir scheint!«

      »Mir scheint, daß du Katja mehr liebst.«

      »Also dir scheint es so! Aber nein, nein, so ist es durchaus nicht! Du hast ganz falsch geraten. Ich liebe Natascha grenzenlos. Um keinen Preis kann ich sie verlassen, niemals; das habe ich auch zu Katja gesagt, und Katja ist mit mir vollständig einer Meinung. Warum schweigst du? Da! ich habe gesehen, daß du eben gelächelt hast. Ach, Wanja, du hast mich niemals getröstet, wenn mir schwer ums Herz war, so wie jetzt … Leb wohl!«

      Er lief aus dem Zimmer. Sein Benehmen hatte einen außerordentlichen Eindruck auf die erstaunte Nelly gemacht, die schweigend unser Gespräch mit angehört hatte. Sie war damals noch krank, lag im Bett und nahm Medizin. Aljoscha knüpfte nie ein Gespräch mit ihr an und schenkte ihr bei seinen Besuchen fast gar keine Beachtung.

      Zwei Stunden darauf erschien er von neuem, und ich war erstaunt über sein fröhliches Gesicht. Er fiel mir wieder um den Hals und umarmte mich.

      »Nun ist alles entschieden!« rief er; »alle Zweifel sind gelöst. Von Ihnen ging ich geradenwegs zu Natascha; ich war ganz verstört; ich konnte es nicht ertragen, von ihr fern zu sein. Als ich bei ihr eintrat, fiel ich vor ihr auf die Knie und küßte ihre Füße; das war mir ein Bedürfnis; es verlangte mich, das zu tun; sonst wäre ich vor Gram gestorben. Sie umarmte mich schweigend und fing an zu weinen. Da sagte ich ihr geradeheraus, daß ich Katja mehr liebe als sie.«

      »Und was erwiderte sie darauf? «

      »Sie antwortete gar nichts, sondern streichelte und tröstete mich nur, mich, der ich ihr das gesagt hatte! Sie versteht es, einen zu trösten, Iwan Petrowitsch! Oh, ich habe vor ihr all mein Leid ausgeweint, ihr mein ganzes Herz ausgeschüttet. Ich habe ihr geradezu gesagt, daß ich Katja sehr liebe; daß ich aber trotz dieser Liebe zu Katja und zu sonst irgendeinem Menschen doch ohne sie, ohne Natascha, nicht leben kann, sondern zugrunde gehen müßte. Ja, Wanja, nicht einen einzigen Tag kann ich ohne sie leben; das fühle ich; ja! Und darum haben wir beschlossen, uns unverzüglich trauen zu lassen; und da das vor meiner Abreise nicht möglich ist, weil jetzt die Großen Fasten sind und keine Trauungen stattfinden, so soll es bei meiner Rückkehr geschehen, das heißt zum ersten Juni. Mein Vater wird seine Einwilligung geben; daran ist kein Zweifel. Was Katja anbetrifft, so ist da eben nichts zu machen! Ich kann ohne Natascha nicht leben… Wir werden uns trauen lassen und zusammen zu Katja fahren…«

      Die arme Natascha! Wie mochte ihr zumute gewesen sein, als sie diesen Knaben getröstet, wie eine Pflegerin bei ihm gesessen, sein Bekenntnis angehört und zur Beruhigung dieses naiven Egoisten das Märchen von der baldigen Heirat ersonnen hatte! Aljoscha war tatsächlich für einige Tage beruhigt. Der Hauptgrund, weswegen er immer zu Natascha hinlief, war der, daß sein schwaches Herz nicht imstande war, Leid allein zu ertragen. Aber als der Zeitpunkt der Trennung heranrückte, geriet er doch wieder in die frühere Unruhe hinein, vergoß Tränen, kam zu mir und weinte seinen Kummer aus. In der letzten Zeit hatte er sich Natascha so eng angeschlossen, daß er sie auch nicht auf einen Tag, geschweige denn auf anderthalb Monate verlassen konnte. Er war indessen bis zum letzten Augenblick fest davon überzeugt, daß er sie nur auf anderthalb Monate verlasse und nach seiner Rückkehr ihre Hochzeit stattfinden werde. Was Natascha betraf, so war sie ihrerseits vollständig darüber im klaren, daß ihr ganzes Schicksal sich jetzt ändere, daß Aljoscha nie mehr zu ihr zurückkehren werde und daß das eben so sein müsse.

      Der Tag der Trennung war gekommen. Natascha war krank; blaß, mit fieberhaft entzündeten Augen und ausgetrockneten Lippen, führte sie ab und zu Selbstgespräche und sah mich ab und zu mit einem schnellen, durchdringenden Blick an; sie weinte nicht, antwortete nicht auf meine Fragen und zitterte wie Espenlaub, als die helle Stimme des eintretenden Aljoscha ertönte. Von roter Glut übergossen, eilte sie auf ihn zu, umarmte ihn krampfhaft, küßte ihn, lachte… Aljoscha blickte sie prüfend an, fragte sie einige Male beunruhigt, ob sie auch gesund sei, tröstete sie durch den Hinweis, daß er ja nicht auf lange wegfahre und dann ihre Hochzeit stattfinde. Natascha tat sich offenbar Gewalt an, bezwang sich und unterdrückte ihre Tränen. Sie mochte vor seinen Augen nicht weinen.

      Er hatte vorher einmal geäußert, er müsse ihr für die ganze Zeit seiner Abwesenheit Geld dalassen; sie brauche sich darüber nicht zu beunruhigen, da sein Vater versprochen habe, ihm für die Reise eine beträchtliche Summe zu geben. Natascha hatte dazu ein finsteres Gesicht gemacht. Als ich dann mit ihr allein geblieben war, hatte ich ihr mitgeteilt, daß ich für sie hundertfünfzig Rubel als einen Notgroschen in den Händen hätte. Sie fragte mich nicht, woher dieses Geld stamme. Das war zwei Tage vor Aljoschas Abreise gewesen und am Tage vor der ersten und letzten Zusammenkunft Nataschas mit Katja. Katja hatte durch Aljoscha ein Briefchen geschickt, in welchem sie Natascha um die Erlaubnis bat, sie am folgenden Tag besuchen zu dürfen; zugleich hatte sie auch an mich geschrieben und mich gebeten, bei ihrer Zusammenkunft zugegen zu sein.

      Ich nahm mir vor, unbedingt um zwölf Uhr, zu der von Katja bestimmten Zeit, bei Natascha zu sein, trotz aller Abhaltungen und anderweitigen Sorgen; deren gab es für mich allerdings viele. Um gar nicht von Nelly zu reden, hatte ich in der letzten Zeit mit den alten Ichmenews viele Mühen und Sorgen gehabt.

      Diese Mühen und Sorgen hatten schon eine Woche vorher begonnen. Anna Andrejewna schickte eines Morgens zu mir und ließ mich bitten, alles stehen und liegen zu lassen und in einer sehr wichtigen Angelegenheit, die nicht den geringsten Aufschub dulde, unverzüglich zu ihr zu kommen. Als ich hinkam, fand ich sie allein: fiebernd vor Aufregung und Angst ging sie im Zimmer auf und ab und wartete zitternd auf Nikolai Sergejewitschs Rückkehr. Wie gewöhnlich konnte ich lange Zeit nicht aus ihr herausbekommen, was denn los war und weshalb sie sich so ängstigte; aber dabei war augenscheinlich jede Minute kostbar. Endlich, nach heftigen und nicht zur Sache gehörigen Vorwürfen: warum ich denn nicht zu ihnen käme und sie in ihrem Leid mutterseelenallein ließe, so daß in meiner Abwesenheit Gott weiß was passiere, teilte sie mir mit, daß Nikolai Sergejewitsch sich seit drei Tagen in einer Aufregung befinde, die sich gar nicht beschreiben lasse.

      »Er ist gar nicht mehr wiederzuerkennen«, sagte sie. »Er fiebert; nachts betet er, ohne daß ich es merken soll, auf den Knien vor dem Heiligenbild; im Schlaf redet er irre, und im Wachen ist er nur wie halbklug: gestern wollten wir Kohlsuppe essen, und er konnte den Löffel neben sich nicht finden; fragt man ihn nach etwas, so gibt er Antworten, die gar nicht auf die Frage passen. Alle Augenblicke geht er jetzt aus dem Haus; »ich gehe immer in Geschäften aus«, sagt er; »ich muß mit dem Rechtsanwalt reden.« Schließlich schloß er sich heute Morgen in sein Zimmer ein; »ich muß«, sagte er, »ein notwendiges Schriftstück in der Prozeßsache


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